Freytag, Nils, Aberglauben

im 19. Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815-1918) (= Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 506 S. Besprochen von Eva Lacour.

Freytag, Nils, Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815-1918) (= Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 506 S.

 

Der Vorwurf des Aberglaubens erweist sich nach der Trierer geschichtswissenschaftlichen Dissertation von Nils Freytag im 19. Jahrhundert als Mittel der Ausgrenzung. Bestimmte Verhaltensmuster wurden aus religiösen, politischen, medizinischen oder wissenschaftlichen Motiven bekämpft, indem man ihnen das Attribut „abergläubisch“ anhaftete. Dabei beobachtet der Autor eine „schubweise Säkularisierung des Aberglaubensbegriffs“ weg von religiösen zu medizinisch-wissenschaftlichen Formen (S. 397). Als Rest dieser Zuschreibung entlarvt der Autor die in der modernen Geschichtswissenschaft geltende Trennung zwischen Volks- und Elitenkultur: „Als besonders aberglaubensanfällig galten vielen Zeitgenossen nämlich die unaufgeklärten und ungebildeten, die einfachen Leute, die zumeist mit der Volkskultur identifiziert wurden. [...] Die Zuweisungen – hier Volkskultur, dort Elitenkultur – erzeugten und erzeugen dabei eine soziale Kluft zwischen althergebrachten und modernen Auffassungen, die in ihrer polarisierenden Schärfe so nicht bestand.“ (S. 316) Anhand vieler Fälle weist Freytag nach, dass auch bürgerliche oder adlige Kreise unter denen waren, die beispielsweise bei als abergläubisch abgetanen Heilmethoden Zuflucht suchten, wenn die wissenschaftliche Medizin nichts anzubieten hatte. Entscheidend war der Erfolg, der einem Laienheiler nachgesagt wurde. Umgekehrt zeigte sich auch die als besonders fortschrittsfeindlich und daher abergläubisch geltende Landbevölkerung durchaus aufgeschlossen gegenüber neuartigen Methoden, die sich zunächst in bürgerlichen, oder, wie der Spiritismus, in adligen Kreisen ausgebreitet hatten.

 

Dabei ist es generell bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts – einer Übergangsphase hin zum akademisch-medizinischen „Dienstleistungsmarkt“ (S. 323) – kaum möglich, eine scharfe Trennlinie zwischen Laienheilkunde und akademischer Medizin zu ziehen. Der animalische Magnetismus zum Beispiel wurde genauso auch von Ärzten praktiziert und etablierte sich sogar an einigen Universitäten. Auch die ausgiebige Untersuchung der therapeutischen Fähigkeiten des ehemaligen Pferdeknechts Johann Gottlieb Grabe an der Berliner Charité zeigt, dass die Wissenschaft keineswegs über klare Kriterien zur Abgrenzung von Aberglauben und akademischer Medizin verfügte. Die Aufklärung setzte sich in diesem Sinne nur ganz langsam durch.

 

Andere vom Aberglaubensvorwurf betroffene Gewohnheiten waren Wallfahrten, Prozessionen,, spiritistischer Geisterglauben, Exorzismus oder Wahrsagerei. Das Preußische Allgemeine Landrecht bedrohte die „abergläubige und betrügliche Gaukeley“ in den §§ 220 und 221 im Wiederholungsfall mit einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe von bis zu acht Wochen bzw. bei nachgewiesenem Betrug mit bis zu zwei Jahren Festungshaft (S. 37). Der § 1402 bedrohte betrügerische Geisterbanner, Wahrsager oder Schatzsucher mit bis zu einem Jahr Zuchthaus und Ausstellung am Pranger (S. 38). § 220 garantierte zudem im Abschnitt über die „Beleidigung der Religionsgesellschaften“ das kirchliche Monopol zur Anwendung sakraler Heilmittel (S. 39). Im Zusammenhang mit als abergläubisch bewerteten Heilverfahren beriefen sich die preußischen Behörden wiederholt auf die §§ 702–709, die eine staatliche Approbation vorschrieben. § 707 erhöhte das Strafmaß im Falle von „Gewinnsucht“ (S. 39). Laienheiler versicherten daher immer wieder, dass sie kein Geld für ihre Therapien verlangt, sondern nur freiwillige Geschenke angenommen hätten.

 

Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 sicherte dann allerdings die medizinische Kurierfreiheit gesetzlich zu. Außerdem wurde mit § 199 des preußischen StGB das Kurpfuschereiverbot aufgehoben (S. 47). Dadurch wurden die Laien in der Medizin nicht länger in die Illegalität gedrängt. Die Ärzteschaft lief im Namen der Bekämpfung des Aberglaubens Sturm gegen die wachsende Konkurrenz.

 

Der vorwiegend gegen sozialdemokratische Kundgebungen angewandte § 360 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 machte nach einer Verfügung des preußischen Innenministeriums vom 14. Oktober 1873 fortan auch Wahrsagerei – als dem Aberglauben Vorschub leistend – zur Straftat gegen die öffentliche Ordnung (S. 48).

 

Im Anhang veröffentlicht Freytag sechs interessante Dokumente, die bisher nicht gedruckt vorlagen, darunter einen so genannten Schutzbrief aus Privatbesitz, der seinen Träger vor Schussverletzungen schützen sollte.

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour