Gesetz und Vertrag I
Gesetz und Vertrag I. 11. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ am 10. und 11. Mai 2002, hg. v. Behrends, Okko/Starck, Christian (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse 3, 262). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004. 171 S.
„Gesetz und Vertrag“ hängen enger miteinander zusammen, als gewöhnlich angenommen, da die Auffassung vorherrscht, Gesetz sei ein autoritativer Befehl. Es ist daher den Herausgebern hoch anzurechnen, dass sie diesen Zusammenhang zwischen Gesetz und Vertrag zum Gegenstand des 11. Symposiums der Kommission „Die Funktionen des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“, dessen Aufsätze in diesem Band gesammelt vorliegen, gemacht haben. Weitere Bände über dieses Thema wurden in Aussicht gestellt.
Der besprochene Sammelband enthält fünf Aufsätze;
1. Okko Behrends, Der Vertragsgedanke im römischen Gesetzesbegriff auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung;
2. Hans-Jürgen Becker, Wahlkapitulation und Gesetz;
3. Thomas Würtenberger, Die Idee der paktierten Verfassung in der Neuzeit bis zum 19.Jahrhundert;
4. Christian Starck, Der südafrikanische Verfassungsvertrag von 1993 mit dessen Wortlaut im Anhang;
5. Georg Nolte, Verfassungsvertrag für Europa.
1. Behrends fasst die These seiner Untersuchung und des ganzen Sammelbandes bereits in der „Einführung in die Fragestellung“ zusammen: „Der Grundgedanke des in der Gesetzgebung wahrgenommenen Vertrags war auf allen Entwicklungsstufen die gleiche. Das Gesetz wurde gedeutet als Frucht einer Verständigung zwischen einerseits dem Inhaber oder Ausübungsberechtigten der hoheitlichen Befugnis, in Rechtsprechung und Rechtsfindung das Recht zu gewährleisten, und anderseits der Normadressaten, die das Gesetz als Änderung oder Klärung der ihren Lebensbedürfnissen dienenden Rechtsordnung erfasst und daher die gesetzliche Rechtsfindung von ihrer Zustimmung abhängig gemacht hatten. Dieser Gesetzesbegriff war vom Normadressaten aus gesehen nicht heteronom, aber auch nicht autonom, sondern eben vertraglich“ (S. 11f.). Man erkennt hierin nicht von ungefähr die Hauptthese von Jean Jacques Rousseaus Contrat Social.
Diese These verfolgt Behrends von der Königszeit über die Republik bis zum Prinzipat (Augustus) und kommt damit zu einer bahnbrechenden Neuinterpretation der römischen Rechtsgeschichte. Seit Savigny muss sich die römische Rechtsgeschichte (mit Ausnahme Theodor Mommsens) vorwerfen lassen, dass sie Cicero, Livius und das Zwölftafelgesetz nicht genügend ernst genommen (typisch Franz Wieacker, Vom römischen Recht S. 22: „Staatslegende“, skeptisch auch Max Kaser, Römisches Privatrecht I 1971 S. 3f.) und damit das Wesen der römischen Gesetzgebung, weil entwicklungsgeschichtlich ungenügend rückverfolgt, falsch bewertet hat (ganz krass Wieacker, Vom römischen Recht S. 20: „vom Bürgersoldaten die unerschütterliche Zucht des Befehlens und Gehorchens“). Insbesondere wurde die zentrale Bedeutung der rogatio übersehen. „Sie besteht in einer Frage, die der Magistrat an die Volksversammlung richtet; diese entscheidet. Die Zustimmung zur Gesetzesfrage (rogatio) bildet den eigentlichen Gesetzesbefehl („iussum“) (S. 12). Da die Volksversammlung nur durch Ja oder Nein, bzw. durch Akklamation oder lauter Missbilligung (= rumor) ihrer pauschale Meinung zur den einzelnen Fragen (so beim Zwölftafelgesetz) kundgeben konnte, brauchte es jemanden, der die „Gesetzesfrage“ formulierte. Dies waren die Hoheitsträger, ursprünglich wohl die Inhaber der religiös begründeten Befugnis der Rechtswahrung und später die „viri prudentes“ (Papinian in D 1, 3, 1.). In diesem Sinne umschreibt unter anderen Rousseau die Entstehung des Zwölftafelgesetzes (Du Contrat Social Kapitel VII, nach der Edition Classiques Garnier S. 262).
Rechtstheoretisch beruhte das römische Gesetz auf zwei Arten von Verträgen, dem allgemeinen Unterwerfungsvertrag (dem Contrat Social im eigentlichen Sinn) und dem individuellen Rogatio-Verfahren. Mit dem Prinzipat wurde die Legitimation zur Gesetzgebung nur noch mit der Fiktion des Unterwerfungsvertrages begründet (Ulpian in D 1, 4, 1, pr.), der insbesondere als „foedus“ für die von Rom unterwordenen Völker bedeutsam wurde. Neben dem durch „Rogatio“ begründeten Gesetzen galten das „Naturrecht“ (ius gentium) und das Gewohnheitsrecht (mos maiorum später nur noch mos) als Rechtsquellen.
Dank systematischer Auswertung und Bewertung von den bisher von den Römischrechtlern vernachlässigten literarischen Schriften (Cicero, Livius, Festus, Gellius, Noctes Atticae) sowie der Juristenschriften gelingt es Behrends, die „Janusköpfigkeit“ der Curiatsversammlung (als Curiatsversammlung und als Centuriatsversammlung) plausibel zu machen: Es handelte sich offenbar um denselben Personenkreis, der das eine Mal als Kriegerversammlung auf dem Marsfeld, das andere Mal als „Friedensversammlung“ innerhalb des städtischen Friedenskreises zusammenkam (S. 24f.).
Mit diesen Ausführungen rehabilitiert Behrends zugleich Rousseau's Contrat Social und Jherings Geist des römischen Rechts und zwingt die allzu sehr auf das Privatrecht fokussierten Römischrechtler über die Bücher zu gehen. Dabei werden sie einmal mehr auf die griechischen Vorbilder zurückgreifen müssen, ist es doch auffallend, wie eine ähnliche Methode zur römischen rogatio an den Volksversammlungen Spartas zur Anwendung kam.
2. Mit seinem Beitrag „Wahlkapitulation und Gesetz“ überschreitet Hans-Jürgen Becker den Rahmen des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation insbesondere mit den päpstlichen Wahlkapitulationen. Einleitend zeichnet der Verfasser die Verbreitung der Wahlkapitulation und die Begriffsgeschichte auf. Das Wort capitulatio tritt zwar erst im 17. Jahrhundert auf, bezeichnet aber dann insbesondere den völkerrechtlichen Friedensvertrag, womit der Vertragscharakter der Wahlkapitulation offenkundig wird. Der Entwurf einer jeweiligen Wahlkapitulation beruht auf dem Wortlaut der Wahlkapitulation des Vorgängers und wird entsprechend an die neuen Verhältnisse angepasst. Der Text wird sodann von allen Wahlmännern unterzeichnet und deren Einhaltung vom Kandidaten für den Fall seiner Wahl beschworen, womit zwischen Wahlmänner und Kandidat eine „confoederatio“ entstand. Dieser bedingte Schwur wird dann vom Gewählten nach seiner Wahl wiederholt. Liegt die Kapitulation schriftlich vor, so werden sie und alle ihre Abschriften unterzeichnet und besiegelt. Die jeweilige Wahlkapitulation bindet nicht nur den Gewählten sondern den Wahlkörper und das gesamte Regnum. Sanktionen zur Durchsetzung der Wahlkapitulation war der promissorische Eid des Gewählten, beim Papst die Drohung der Kardinäle, ein Konzil einzuberufen, bei einzelnen Kaisern die Nichtigkeit des die Kapitulation verletzenden Erlasses und sonstige politische Druckmittel. Umstritten ist, ob die Wahlkapitulationen als Gesetze zu betrachten sind: Nach der Reichspublistik binden die Wahlkapitulationen den Kaiser und das Kurkolleg „ex contractu“, die übrigen Stände, die Untertanen und die Behörden aber „ex lege“ (S. 106).
3. Thomas Würtenberger behandelt sodann die „Idee der paktierten Verfassung“, die aber nicht bloß eine Idee sondern Realität ist, wie die nachfolgenden Beispiele der geltenden südafrikanischen Verfassung und der europäische Konvent zeigen. Würtenberger weist auf zwei Aspekte der paktierten Verfassung hin, dass in der Regel ein Bundesstaat immer eine paktierte Verfassung sei, indem die Einzelstaaten mit dem Zentralstaat einen „Pakt“ schließen und dass jede Verfassung insofern einen Generationenvertrag darstellt, als es einer jeden Generation vorbehalten bleiben muss, diese Verfassung an die zeitgenössischen Bedürfnisse und Anschauungen anzupassen.
4. Obwohl auf revolutionären Akten, nämlich der sog. Rubikonrede des damaligen Staatspräsidenten de Klerk und der Mitarbeit von verfassungsgemäß nicht vorgesehenen Versammlungen einzelner Gesellschaftsgruppen beruhend, ist die südafrikanische Verfassung geradezu ein Modellfall einer „paktierten Verfassung“. Dies wird sogar durch die Präambel bestätigt, in der es heißt: „It is clear from the language that the Constitutional Principles constitute the formal record of the solemn pact“. Diese einzigartige Entstehung einer Verfassung lässt die Frage aufkommen, ob diese je abgeändert werden kann. Jedenfalls hat sie verhindert, dass es zu einem Bürgerkrieg gekommen ist.
5. Das Problem der jederzeitigen Abänderbarkeit stellt sich beim „Verfassungsvertrag für Europa“ insofern nicht, als diese in diesem Vertrag ausdrücklich (Art. 48 EG-Vertrag in der Fassung von Amsterdam) vorgesehen ist. Zudem handelt es sich um einen Staatsvertrag, der nach den Art. 39ff. Wiener Vertragsrechtskonvention abänderbar ist. Dies verkennt Dieter Grimm, mit dem sich Georg Nolte auseinandersetzt. Die Frage der Priorität zwischen nationaler Verfassung und EG-Vertrag ist zwar vom Europäischen Gerichtshof zugunsten des EG-Vertrages entschieden worden, bleibt aber zumindest in Deutschland kontrovers. Mit dem Beitritt zum EG-Vertrag verzichten die Mitglieder auf einen Teil ihrer Souveränität. Ob sie dies dürfen, ist eine Frage ihres nationalen Rechtes. Nach Völkerrecht muss der Staatsvertrag jedenfalls dem nationalen Recht vorgehen, weil sonst das Völkerrecht jede Verbindlichkeit verliert. Dies stipuliert auch die Wiener Vertragsrechtskonvention in ihrem Art. 26, in welchem es heißt: „Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien - nämlich die Staaten - und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen.“ Noch deutlicher ist Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention: „Eine Vertragspartei kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen“. Dieser Grundsatz wird zwar durch Art. 46 abgeschwächt, doch für diesen Vorbehalt braucht es kumulativ folgende Voraussetzungen: Eine Verletzung des innerstaatlichen Rechts muss offenkundig sein und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betreffen.
Mit diesem völkerrechtlichen Exkurs wird aufgezeigt, dass der besprochene Sammelband das Thema Gesetz und Vertrag bei weitem nicht erschöpft. Außer der sog. völkerrechtlichen Kodifikation fehlen Erörterungen über die germanischen Stammesrechte, die zum Teil bekanntlich als pacta (Pactus legis Salicae) und solche über die Weistümer, die Zasius als pacta curiata qualifiziert hat. Es ist somit zu hoffen, dass diese Lücken in den folgenden Sammelbänden gefüllt werden. Auf jeden Fall gebührt den Herausgebern das große Verdienst, den Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung und dem Vertrag wieder einmal in Erinnerung gerufen zu haben.
Zürich Theodor Bühler