Kodek, Ilse, Der Großkanzler
Kodek, Ilse, Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz. Die Autobiographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen übersetzt (= Geschichte in der Epoche Karls V. 4). Aschendorff, Münster 2004. X, 277 S.
Die vorliegende Ausgabe der Übersetzung von Erinnerungen des Großkanzlers Karls V., Mercurino Arborio Gattinara, ist eine überarbeitete Fassung einer Wiener Dissertation von 2002, die bei Alfred Kohler, einem der besten Kenner Karls V. und seiner Zeit, angefertigt wurde. Die Handschrift im Familien-Depositum der Arborio Gattinara im Archiv von Vercelli war schon seit langem bekannt und wurde bereits 1915 von Carlo Bornate in den „Miscellanea di Storia Italiana“ veröffentlicht. In dieser Form fand der Text auch Eingang in die Forschung, worauf die Übersetzerin in ihrer Einleitung eingeht, wenn auch lediglich durch Aneinanderreihung der wichtigsten Forscher und ihrer Werke. Angesichts dieser Lage soll, wie sie vielleicht nicht frei von Ironie ausführt, ihr Werk all denen, die mit dem späthumanistischen Latein des Originals Probleme haben, der Zugang zur Welt Gattinaras und zur Umgebung Karls V. erleichtert werden. Es ist evident, dass allein schon dadurch Lehre und Forschung zu Reformation und Renaissance ein großer Dienst geleistet wird.
Hat doch der 1465 geborene piemontesische Jurist und Advokat eine erstaunliche Karriere gemacht. Sie begann, als er 1501/02 als Berater der Erzherzogin Margarete, Tochter Kaiser Maximilians und Gattin des Herzogs von Savoyen, in den Dienst des Hauses Habsburg trat, dem er bis zu seinem Ende 1530 verbunden blieb. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Margarete Regentin der damaligen Niederlande und Gattinara zugleich noch „Präsident des Parlaments von Dôle“ (da damit der oberste Gerichtshof der Freigrafschaft Burgund gemeint ist, wäre „Parlement“ der treffendere Begriff). Die von ihm eingeleitete Justizreform verstrickte ihn in endlose Streitereien mit dem einheimischen Adel, die ihn sogar zeitweise um sein Amt brachten. Weiterhin als Diplomat für Habsburg tätig, erreichte ihn 1518 der Ruf auf die Stelle des Großkanzlers des spanischen Königs Karl, als er gerade wieder an den Hof des Herzogs von Savoyen zurückgekehrt war. Mit der Wahl des jungen Habsburgers zum Kaiser im folgenden Jahr, die sich Gattinara zu einem nicht geringen Teil als sein Verdienst anrechnet, wurde er zu einem der einflussreichsten Politiker Europas. Auf den nun folgenden Jahren liegt auch das Schwergewicht der Autobiografie, in der sich ihr Verfasser als Hauptratgeber der kaiserlichen Frankreich- und Italienpolitik stilisiert, der mit der Kaiserkrönung seines Herrn 1530 in Bologna noch die Erfüllung seines politischen Traums erleben durfte.
Trotz der überragenden Position ihres Verfassers geben diese Erinnerungen nur einen eingeschränkten Einblick in die Politik des Kaisers, da sie sich auf dessen Kämpfe mit dem französischen König und dem Papst konzentrieren. Die Vorgänge in Spanien werden nur gestreift und auf die weltgeschichtlichen Umwälzungen im Reich wird überhaupt nicht eingegangen. Die Darstellung selbst ist von erstaunlicher Kargheit. Man erfährt kaum mehr als die Fakten. Die Motive für die Entscheidungen sind nur zu ahnen, die Willensbildung ist selten zu fassen und die Handelnden bleiben Namen, Charaktere werden sie nie.
Gerade diese Art der Präsentation der Ereignisse und die eigenwillige Schwerpunktsetzung werfen die Frage nach der Entstehung dieser Memoiren auf. Obwohl Ilse Kodek ausführlich auf das Problem eingeht, ob diese mehr als historische Quelle oder literarisches Werk einzuschätzen sind, scheut sie eine quellenkritische Untersuchung. Von den Studien am Autografen erfährt man jedenfalls nicht mehr, als dass Streichungen und Einschübe vorgenommen wurden und auch „Konzentrationsmängel“ nachzuweisen seien. Die statt dessen versuchte Erklärung, dass Gattinara, überzeugt davon, dass der Kaiser dazu bestellt sei, eine von Gott geordnete Welt zum Wohl der Christenheit zu leiten, alles unter der Verwirklichung der Kaiseridee gesehen habe, überzeugt allein nicht. Damit lässt sich weder das Schweigen zu den religiösen Auseinandersetzungen noch der breite Raum, den Privates und Persönliches einnimmt, vereinbaren.
Der Übersetzung geht ein solider, eng an die Autobiografie angelehnter Abriss des Lebens und der Politik des Großkanzlers voraus. Das überwiegende Interesse der Übersetzerin gilt aber der Autobiografie als Gattung und deren sprachlichen, stilistischen wie kompositorischen Merkmalen. Ein Kapitel über die „Ideenwelt Gattinaras“ ist in diesem Zusammenhang deplatziert und hätte in den Lebensweg integriert werden müssen. Die an sich nützliche Hinleitung zur Übersetzung ist nur teilweise geglückt. Die Sprache ist stellenweise gestelzt, umständlich und von einigen Bildbrüchen durchsetzt. Gelegentliche Unsicherheiten in der historischen Fachterminologie („römischer Kaiser“) kommen hinzu und auch sonst mangelt es manchmal an sprachlicher Genauigkeit. So bezeichnet sich die Übersetzerin S. 110ff. mehrmals als Verfasserin des Originaltextes! Unerträglich oft wird die Worthülse „Bereich“ verwendet, auf S. 69f. auf einer halben Seite fünf Mal! Über Einsichten von der Aussagekraft, dass die Abweichungen vom tatsächlichen Verlauf in Gattinaras Memoiren entweder auf „unbewusste Veränderungen“ oder auf „bewusste Veränderungen“ zurückzuführen seien, kann man mehrmals staunen.
Dennoch wird man über Ärgerliches solcher Art hinweggehen können, da der Wert des Bandes vor allem in der Übersetzung beruht. Hier kommt die Kompetenz der Philologin, deren Ausführungen zur Sprache der Quelle schon überzeugten, zum Tragen. Über einige terminologische Eigenheiten (z. B. „divus“ in Verbindung mit Herrschernamen als „göttlich“ = „göttlicher Karl“; „orbis monarchia“ wird mit dem neuzeitlichen Terminus „Weltherrschaft“ gleichgesetzt), gelegentliche Ungenauigkeiten („apud gebensem civitatem“ ist nicht „in der Stadt Genf“; mit den „maiora“ ist nicht gemeint, das Karl „Größeres“ (S. 154) erreichen könne, sondern größere territoriale Erwerbungen) und auch die manchmal recht freie Übertragung wird man streiten können. Doch beeinträchtigt dies nicht die insgesamt gediegene Leistung. Die vielen Klippen der lapidaren Sprache Gattinaras, die zu Missverständnissen verleitet, wurden geschickt umschifft und die unsäglich langen lateinischen Perioden in lesbare deutsche Sätze gebracht. Der Text wird nicht nur eingehend sprachlich analysiert, sondern zu dessen Übertragung wird auch die historische Forschung herangezogen, die, soweit sie sich mit dem Autor beschäftigt, umfassend verarbeitet wurde.
Hilfreich für die Übersetzung ins Deutsche hätte auch noch eine bereits 1991 erschienene Übersetzung ins Italienische sein können, die aber erstaunlicher Weise nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Bedauerlicher aber ist, dass der lateinische Text nicht parallel mit abgedruckt wurde. Die Herausgeber entschuldigen dies mit den Kosten. Dieser Hinweis überzeugt nicht angesichts der Tatsache, dass dieser nur schwer greifbar ist, er im Druck wenig mehr als 100 Seiten eingenommen hätte und einige kleinere Mängel von Bornates Edition dann hätten korrigiert werden können.
So erfreulich es also ist, dass nun diese Quelle zur europäischen Geschichte im Zeitalter Karls V. auf deutsch, eingeleitet und kommentiert vorliegt, so ist dies doch nicht ganz in der ihrer Bedeutung angemessenen Form geschehen.
Eichstätt Karsten Ruppert