Paris und Berlin in der Restaurationszeit (1815-1830).

* Soziokulturelle und ökonomische Strukturen im Vergleich. Erstes Paris-Berlin-Colloquium am 11. und 12. Juni 1990 im Haus der Historischen Kommission zu Berlin, hg. v. Mieck, Ilja. Thorbecke, Sigmaringen 1996. Besprochen von Alfons Bürge. ZRG GA 118 (2001)

BürgeParis20000828 Nr. 984/985 ZRG 118 (2001)

 

 

Paris und Berlin in der Restaurationszeit (1815-1830). Soziokulturelle und ökonomische Strukturen im Vergleich. Erstes Paris-Berlin-Colloquium am 11. und 12. Juni 1990 im Haus der Historischen Kommission zu Berlin, hg. v. Mieck, Ilja. Thorbecke, Sigmaringen 1996. 310 S.

Paris und Berlin in der Revolution 1848 - Paris et Berlin dans la Révolution de 1848. Gemeinsames Kolloquium der Stadt Paris, der Historischen Kommission zu Berlin und des Deutschen Historischen Instituts (Paris 23. - 25. November 1992), Colloque organisé par la Ville de Paris, l’Historische Kommission zu Berlin et l’Institut Historique Allemand (Paris du 23 au 25 novembre 1992), hg. v. Ilja Mieck, Ilja/Möller, Horst/Voss, Jürgen. Thorbecke, Sigmaringen 1995. 320 S.

Die beiden Bände, die hier anzuzeigen sind, enthalten die Vorträge, die an zwei aufeinanderfolgenden Colloquia in Berlin und Paris gehalten wurden. Sie galten einem Vergleich der Restaurationszeit beziehungsweise der revolutionären Ereignisse von 1848 in den beiden Städten. Für den Rechtshistoriker ergiebiger ist der auf eine längere Periode zentrierte erste Band, da der zweite Band schon vom Thema her auf punktuelle Ereignisse ausgerichtet ist, welche das sich in der Zeit entwickelnde Recht in den Hintergrund drängen müssen.

Der erste Band setzt ein mit einer Analyse der Bevölkerung in Paris durch R. Pillorget (S. 13‑29), der einen interessanten Akzent auf das weitverbreitete Ammen­wesen, die hohe - in keinem Arrondissement unter 15,4 % liegende Zahl der unehelichen Geburten sowie auf die - vom Staat aufgenommenen - 2000-3000 Findelkinder im Jahr legt. Diese Problematik ließe sich leicht in der damaligen rechtspolitischen Diskussion weiterverfolgen. Da es keine Ausländerstatistiken gab, ist man dafür auf die Beobachtung einer anders dokumentierten höheren Schicht angewiesen. Bei den eher zufällig über­lieferten Beispielen erstaunt - auch wenn es sich dabei um ein englisches Unternehmen handelt - die hohe Zahl der englischen (Metall-)arbeiter bei Manby & Wilson im Jahre 1824. Für Berlin (J. Wietog, S. 31-52) läßt sich eine erhebliche Zuwanderung und eine damit einhergehende große Fluktuation feststellen. Die hohen Quoten an unehelichen Geburten dürften hier auf großstädtisches Verhalten zurückgehen. Bemerkenswert klein war der jüdische Bevölkerungsanteil. Auf die die gesellschaftliche Entfaltung der Juden hemmende restriktive Gesetzgebung wird kurz eingegangen. Für den Aspekt der Verwaltung skizziert R. von Thadden (S. 53-59) die Situation in Paris, dessen bemerkens­werter Aufschwung und Attraktivität als Modell urbanen Wohnens mit dem Fehlen einer Selbstverwaltung kontrastiert. Ein anderes Gewicht hatte die städtische Selbstverwaltung in Berlin (A. Kaiser, S. 61-78), die nicht zuletzt wegen der Weisungsgebundenheit des Magistrats beachtliche Reibungsflächen zur staatlichen Aufsicht bot. Symptomatisch zeigt sich das bei der Polizei, welche die staatlich verordnete Gewerbefreiheit gegen die Stadt durchzusetzen hatte, sowie bei Fragen der Finanzierung im Bereich der Leistungs­verwaltung.

 

Durch die stete Verbindung zum Werke Balzacs besonders anschaulich und gelungen ist die Schilderung der Entwicklung der Wohnsituation in Paris (G. de Bertier de Sauvigny, S. 79‑95), der die Gründe für den Bauboom in den zwanziger Jahren kurz dar­stellt, auf die neuen Bauformen eingeht, auf den außergewöhnlich hohen Mieteranteil hin­weist, die vorhandenen Wohnungstypen schildert und die Segregation zwischen arm und reich nicht nur horizontal in den Quartieren, sondern auch vertikal in den einzelnen Miets­häusern skizziert. In die Entwicklung der lohnabhängigen Arbeit führt ein Blick auf die Stellung von Meister, Gesellen und Arbeiter in Paris nach Abschaffung der Zunftord­nungen (H.‑G. Haupt, S. 97-111). Gewisse Traditionen der compagnonnages lebten weiter, nicht zu unterschätzen sind die stabilisierenden Regeln der Arbeitsorganisation und der Entlohnung. Destabilisierend wirkten die saisonalen sowie die unterprivilegierten Arbeits­kräfte, gegen die sich die Gesellen oft organisiert wendeten. Treffend ist die Schilderung der Symbiose zwischen Gesellen und Meistern in den tradierten Berufen. Eine gründliche Bestandsaufnahme der Produktion in Paris verdanken wir B.M. Ratcliffe (S. 113-172), der mit aller gebotenen Vorsicht aufzeigt, daß überraschenderweise zahlenmäßig die face-to-face betriebenen Gewerbe und Manufakturen (Luxusgüter, Kleider, Lederwaren, Druck­erzeugnisse u. a.) nicht nur überwogen, sondern auch die größte Dynamik aufwiesen. Es geht um eine Weiterentwicklung, die keinen - wie auch immer definierten - imaginären Startpunkt brauchte. Obwohl sich in Berlin schon früh in der Textilindustrie Übergänge von der Manufaktur zur Fabrik finden, waren die Anfänge der Industrialisierung, wie L. Baar (S. 173-184) nachweist, zunächst recht bescheiden, doch wurden die Grundlagen für die künftige Entwicklung gelegt.

In die Wandlungen der Krankenversorgung und der Armenfürsorge führen für Paris C. Duprat (S. 185-202), die die Auswirkungen von administrativer Straffung, Neu­organisation und Sparmaßnahmen schildert, und für Berlin R. Münch (S. 203-218), wo die Sparmaßnahmen nur teilweise durch ein schon bemerkenswert reges Wirken privater Wohltätigkeitsvereine aufgefangen werden konnten. Die Schilderung der Zeitungsstadt Paris (U. E. Koch, S. 219-259) und des auch hier provinzielleren Berlin (B. Rollka, S. 261-278) steht ganz im Zeichen der Zensur. Es liegt denn auch in der Logik der Entwicklung, daß solche Maßnahmen den zündenden Funken zur Juli-Revolution lieferten. Schade, daß auf die innere Strukturierung durch das damals durchnormierte französische Presserecht nirgends eingegangen wird. Ein Blick von H. Engel auf Städtebau und Architektur in Berlin (S. 279-293) sowie eine Synthese zur Problematik des Vergleichs der beiden in entscheidenden Punkten doch ungleichen Metropolen durch A. Schaser (S. 295-308) runden den Band ab.

Der stärker ereignisgeschichtlich angelegte Band zur Revolution von 1848 setzt nach einer Einführung von J. Tulard (S. 15-18) mit einem Blick auf die vielfältige Presse­landschaft in Paris um 1848 ein, die in Beziehung zu der erstmals erwachenden Berliner Presse gesetzt wird (U. E. Koch, S. 19-78). Die reichere Geschichte der Pariser Presse dürfte erklären helfen, warum deren - mehrheitlich republikanische und sozialistische - Exponenten eine herausragende Rolle in Regierung, Parlament und Verwaltung spielen konnten und zudem prononciert auf die Völkerverständigung setzten, während die mehr­heitlich konservativere Berliner Presse sich durch die Franzosenfeindlichkeit auszeichnete. Den kurzen Frühling der politischen Vereine in Berlin beleuchtet W. Siemann (S. 79-87).

Von besonderem Interesse für den Rechtshistoriker ist die Untersuchung zum Begriff des Bürgers in dieser Zeit (U. Spree, S. 89-106). Da - im Gegensatz zum citoyen - der bourgeois in Frankreich zum Kampfbegriff wurde, der sich schließlich im Gegensatz zwischen ouvrier und bourgeois manifestiert, blieb der deutsche Begriff des Bürgertums auch später gegen die unteren Schichten offen, citoyen und Bürger im Sinne des Staats­bürgers näherten sich nach 1848 jedoch semantisch an. R. Hachtmann (S. 107-136) setzt an diesem Punkt an, indem er auf die allmähliche politische Ausdifferenzierung eines Klassenbewußtseins nicht zuletzt unter dem Eindruck der revolutionären Polarisierung eingeht. Was da und dort schon angesprochen wurde, greift der Beitrag von H. Homburg auf (S. 137-151), daß nämlich nicht ein Fabrik-Proletariat den Handwerksschichten gegen­überstand, sondern sich beides hüben und drüben in einer Gemengelage befand. Das ließe sich nebenbei bemerkt für Frankreich am Begriff des ouvrier und des entrepreneur wohl gut zeigen. Den bekannten, letztlich gescheiterten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Paris und Berlin gilt der Beitrag von P.-P. Sagave (S. 153-160), der aber nicht auf deren Vor­geschichte eingeht (vgl. S. 121). Es zeugt von der Differenziertheit der Beiträge, daß sich die Überlegungen von A. Wirsching zu Arbeiter und Arbeiterbewegung in Paris (S. 161-185) in dieses Bild einfügen, das nicht auf die Vorstellung von einem Klassenkampf redu­ziert werden kann. Wandlungen der Arbeitsorganisation, die in dem unter dem Gesichts­punkt der Industrialisierung wohl moderneren Berlin zu einer stärkeren Spaltung führte, waren für den Ausbruch der Unruhen mitverantwortlich. Die bereits erwähnte Gemenge­lage läßt aber auch den Rückgriff auf politisch-institutionelle und ideologische Traditionen als unabdingbar erscheinen.

Die Rolle der Pariser und Berliner Abgeordneten im jeweiligen nationalen Hand­lungsfeld untersucht H. Best (S. 187-198), der das Scheitern der führenden Pariser Revolutionäre plausibel mit den mangelnden Beziehungen zur französischen Provinz er­klärt. Für Deutschland ist die marginale Rolle der Abgeordneten aus Berlin und Preußen in Frankfurt zu konstatieren. Was die deutsche Immigration nach Paris betrifft (M. Werner, S. 199‑213), so gab es vor 1848 einen bedeutenden deutschen Anteil in den unteren Bevölkerungsschichten, dem nach 1848 eine qualitativ ins Gewicht fallende bürgerliche, intellektuelle und künstlerische Immigration gegenübersteht, die für den deutsch-französischen Kulturtransfer eine wichtige Rolle spielte. Wie I. Mieck (S. 215-228) für Berlin darlegt, konnte die damals vom königlichen Hof bewußt verbreitete Ver­schwörungsthese, die den Ausbruch der Revolution ausländischen Drahtziehern in die Schuhe schieben wollte, schon wegen des geringen Ausländeranteil niemals den Realitäten entsprechen. Die Zuwanderung war nämlich vor allem aus der Mark Brandenburg (45 %), in zweiter Linie erst aus dem übrigen Preußen und schließlich aus dem nichtpreußischen Deutschland erfolgt, während die nichtdeutschen Ausländer marginal waren. Die Juden, denen der Beitrag von D. Bourel (S. 229-239) gilt, hatten in Paris eine wesentlich günstigere Aus­gangsposition für die Integration, schließlich brachten es einzelne aus ihrem Kreise bis in die Regierung, während die Berliner Juden zunächst um ihre politische Gleichberechtigung kämpfen mußten.

Für die gegenseitige Wahrnehmung ist das zunehmend negativ geprägte Bild der revolutionären Ereignisse in Paris bezeichnend, das man in Berlin hatte (W. Kreutz, S. 241-268) und das den Rückzug auf einen deutschen Nationalcharakter mit den bekann­ten antimodernistischen und antifranzösischen Konnotationen begünstigte. Eher marginal war das Echo der Berliner Ereignisse in Paris (R. Pillorget, S. 269-277). Bildlichen Darstellungen der revolutionären Geschehnisse widmet sich T. W. Gaehtgens (S. 279-297). Es mag tatsächlich die Fixierung auf den Gedanken der nationalen Einheit gewesen sein, der die meisten deutschen Künstler von einer Auseinandersetzung mit dem Thema abhielt. Kläglich ist allerdings das Ergebnis des Versuchs, in Frankreich auf dem Wege eines Wettbewerbes zu einer Darstellung einer Allegorie der Republik zu kommen (M.‑Cl. Chaudonneret, S. 299-320).

Das Anregende an diesen Bänden besteht nicht zuletzt darin, daß trotz vorder­gründiger Gemeinsamkeiten der Blick bei der Betrachtung des Details immer wieder auf gewichtige Unterschiede stößt, die nach weiteren Forschungen rufen. Unter rechtlichem Gesichtspunkt wird man hier beispielsweise nochmals an das Arbeitsrecht denken, das den vielfältigen Verzahnungen traditionell geprägter Gruppen mit neuen Schichten und Gruppierungen Rechnung tragen und dabei die Vorsorgemöglichkeiten berücksichtigen muß, insbesondere den in Frankreich so prägenden Gedanken der Versicherung auf Gegen­seitigkeit. Von besonderem Interesse bleibt im weiteren die Stellung der Ammen und das Problem der Findelkinder, um so mehr, als für letztgenannte heute in Deutschland wohlmeinend wieder Modelle propagiert werden, die man in Frankreich damals aus guten Gründen zu beseitigen trachtete. Die Stellung der Ausländer, die für Paris eine Rolle spielt, reizt vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Ausländerrechts ebenso zur näheren Untersuchung. Auf eine Fülle anderer Anregungen für den interkulturellen Vergleich wird jeder Leser schnell stoßen, dem diese beiden Bände empfohlen seien.

München                                                                                                             Alfons Bürge