Luik, Steffen, Die Rezeption

Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 20). Böhlau, Köln 2003. LXXVII, 373 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

Luik, Steffen, Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 20). Böhlau, Köln 2003. LXXVII, 373 S.

 

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine von Jan Schröder betreute Tübinger rechtshistorische Dissertation. Im Zentrum der Untersuchung steht die Bedeutung des Werkes von Jeremy Bentham für die deutsche Rechtswissenschaft. Auf die Bedeutung des Werkes des Begründers des klassischen englischen liberalen Utilitarismus hat bereits vor drei Jahrzehnten Helmut Coing aufmerksam gemacht (siehe H. Coing, Benthams Bedeutung für die Entwicklung der Interessenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 54, 1968, S. 69ff. sowie H. Coing., Rudolf von Ihering und Bentham. Interessenjurisprudenz und englische utilitaristische Philosophie, in: Günther Weick (Hrsg.), 375 Jahre Rechtswissenschaft in Gießen. Gießener Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 1, 1982, S. 1ff.). Über diese Hinweise Coings hinaus, von manchen vereinzelten Ausführungen abgesehen, gab es bisher eine umfassende Untersuchung dieses Themas nicht. Insoweit füllt die hier vorliegende Arbeit eine bedeutsame Lücke der deutschen Rechtswissenschaftsgeschichte. Der Verfasser hat hierfür eine beeindruckende Erschließung der vorhandenen Quellen und des vorhandenen Schrifttums vorgenommen (allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst fast 80 Seiten, S. XVII-LXXVII).

 

Das erste Kapitel ist Bentham selbst gewidmet. Dessen Leben und dessen Werk werden vor dem Hintergrund der historischen und wirtschaftspolitischen Spannungen in England zwischen Ende des 18. und Anfang des 19.Jahrhunderts liebevoll dargestellt. Hier werden insbesondere die Entstehungsgeschichte und vor allem die Veröffentlichungsgeschichte der Hauptwerke Benthams präsentiert, beginnend bei der Veröffentlichung der Hauptwerke durch Etienne Dumont ab 1802. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung der politischen Jahre Benthams und seiner Mitwirkung an den Diskussionen zur Reform des englischen Rechts. Hierfür konnte der Verfasser auf ein immenses Schrifttum in englischer Sprache zurückgreifen. Ohne besonders originell zu sein, hat der Verfasser jedoch das Verdienst, den Leser zum ersten Mal in deutscher Sprache und in umfassender Weise über das Werk dieser Persönlichkeit zu informieren. Das zweite Kapitel (S. 49ff.) ist den philosophischen und rechtspolitischen Grundlagen des Werkes Benthams gewidmet. Hier steht die Rezeption der Philosophie des englischen Utilitarismus in Deutschland während des 19.Jahrhunderts im Vordergrund. Nach einer Präsentation der Grundzüge dieser rechtsphilosophischen, rechtspolitischen und wirtschaftspolitischen Ideengebäude folgt (S. 94ff.) eine präzise Schilderung der sukzessiven Aufnahme und Rezeption desselben bei der deutschen Publizistik. Hier liegt der zentrale Schwerpunkt der Untersuchung des Verfassers und der größere Teil der Abhandlung (S. 94-231). Das dritte Kapitel ist insbesondere den Schriften Benthams zur Gesetzgebung und zum Prozessrecht gewidmet. Auch hier steht die jeweilige Kenntnis und Bezugnahme darauf bei deutschen Autoren (S. 235-299) im Vordergrund. Das vierte Kapitel ist dann den Schriften zur Staatsorganisation und zum Parlamentarismus gewidmet. Auch hier liegt der Schwerpunkt jeweils bei der nachweisbaren Bezugnahme darauf in deutschen Schriften der Zeit. Das fünfte und letzte Kapitel befasst sich schließlich mit der wirtschaftspolitischen Schrift Benthams zum Wucher aus dem Jahre 1789. Auch hier steht die Bezugnahme darauf in den damaligen wirtschaftspolitischen Diskussionen in Deutschland bis zur zeitgenössischen Aufhebung der Wuchergesetzgebung in den deutschen Territorien im Vordergrund (S. 351ff.). Eine abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 358ff.) rundet die Untersuchung ab. Ein Personenregister am Ende beschließt die Arbeit, ein Sachregister vermisst der Leser. Wegen des Reichtums der vom Verfasser verarbeiteten Informationen wäre ein solches außerordentlich nützlich gewesen. Einen gewissen Ersatz liefert hierfür allerdings ein sehr detailliertes Inhaltsverzeichnis am Eingang der Arbeit (IX-XVI).

 

Am Ende der Lektüre hat der Leser viel gelernt. Die vorliegende Dissertation ist eine Fundgrube von Informationen und Beobachtungen zu den rechts- und staatspolitischen Diskussionen in den deutschen Territorien des 19. Jahrhunderts. Außerordentlich lesenswert sind insbesondere die Hinweise zu den jeweiligen Beziehungen zwischen Professoren und Intellektuellen aus den deutschen Territorien mit der englischen literarischen und politischen Öffentlichkeit jener Jahrzehnte. Will man die wesentlichen Ergebnisse der Auswertung des Materials durch den Verfasser zusammenfassen, so kann man festhalten, dass eine Bentham-Rezeption in Deutschland bereits Ende des 18.Jahrhunderts mit der Übersetzung der Schrift über „Gefängnisse und Zuchthäuser“ beginnt, deren wesentliche Teile damals auf Deutsch publiziert wurden. Damit ist zugleich der Gesamtcharakter der Bentham-Rezeption in Deutschland vorgezeichnet. Im Vordergrund steht nicht dessen philosophisches und wirtschaftspolitisches Oeuvre, sondern vor allem die kleinen Schriften zu bestimmten rechts- und staatspolitischen Einzelfragen. Es handelt sich um einen Zug, welchen auch die deutschen Zeitgenossen, wie etwa Robert von Mohl, bereits Mitte des 19.Jahrhunderts festgestellt haben. Einzelne Schriften Benthams, vor allem diejenigen, die sich mit konkreten praktischen rechtspolitischen Themen und mit Reformvorschlägen für so disparate Probleme wie die Wuchergesetzgebung, die Geschäftsordnungen für die parlamentarischen Versammlungen, die Reform des Beweisrechts im gerichtlichen Verfahren und die Reform des Gefängniswesens befassten, wurden in Deutschland nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch in der damaligen rechtspolitischen Debatte umfassend verarbeitet. Es ist insoweit bezeichnend, dass rechtspolitisch engagierte Professoren diejenigen sind, welche für solche Schriften einen Zugang in die deutsche Diskussion eröffnet haben. Die philosophischen, wirtschaftspolitischen sowie theologischen Grundüberzeugungen Benthams und insoweit der gesamte rechtsphilosophische Hintergrund des englischen Utilitarismus fand im allgemeinen in Deutschland vor allem bei den Juristen eine kaum nennenswerte Rezeption. Das Ergebnis des Verfassers überrascht nicht: Anfangs des 19.Jahrhunderts standen die Kantianische Ethik und Erkenntnisphilosophie in Deutschland im Vordergrund. Diese lag auch den rechtsphilosophischen Grundüberzeugungen der historischen Rechtsschule zugrunde. Es ist deshalb kaum überraschend, dass die entschiedene antihistorische Position Benthams und der englischen Utilitaristen in der deutschen Rechtskultur kaum Eingang finden konnten. Die Geschichte der Wirtschaftstheorie bestätigt übrigens auf einem anderen Gebiet diesen Befund: Auch die Schriften Ricardos haben etwa in Deutschland eine relativ beschränkte Rezeption erfahren. Ein wesentlicher Teil der Rezeption Benthams fand – wie der Verfasser feststellt – fast im Verborgenen statt, vor allem bei Aufsätzen und Rezensionen in den jeweiligen Fachzeitschriften. Selbständige Werke liegen offenbar kaum vor. Die Rezensionen erfassen allerdings das gesamte Oeuvre des englischen Rechtsphilosophen. Charakteristisch scheint für diesen Rezeptionsvorgang auch, dass die deutschen Autoren häufig, wie der Verfasser herausstellt (S. 363ff.), „ihre eigenen Vorstellungen und Ziele in Benthams Werk projizieren“. Es wurde also ein Englandbild bei dieser Rezeption projiziert, welches vor allem für die innerdeutsche Diskussion entwickelt wurde. Dass die Ansätze Iherings in der Mitte des 19.Jahrhunderts auf diese Rezeption zurückgehen, bleibt insgesamt eher unwahrscheinlich. Lose ist deshalb auch die Verbindung zwischen dieser rechtspolitischen Rezeption der ersten Hälfte des Jahrhunderts und der späteren Entwicklung der Interessenjurisprudenz. Der Einfluss Benthams in Deutschland betrifft nach den Ergebnissen des Verfassers an erster Stelle die Rechtspolitik eher als die Rechtswissenschaft. Für die Geschichte der rechts- und staatspolitischen Diskussionen in den deutschen Territorien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfiehlt sich insoweit die vorliegende Untersuchung als eine unverzichtbare Lektüre.

 

Saabrücken                                                                                                    Filippo Ranieri