Parteien im Wandel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Rekrutierung - Qualifizierung - Karrieren,
FenskeDowe20000630 Nr. 10085 ZRG 118 (2001)
Parteien im Wandel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Rekrutierung – Qualifizierung – Karrieren, hg. v. Dowe, Dieter/Kocka, Jürgen/Winkler, Heinrich August (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 7). Oldenbourg, München 1999. 410 S.
Die zwölf Beiträge dieses Bandes gingen aus den Referaten während eines von der Stiftung Reichspräsident‑Friedrich‑Ebert‑Gedenkstätte im Herbst 1997 veranstalteten Symposiums hervor. Beigefügt ist die erweiterte Fassung eines öffentlichen Abendvortrags im Rahmen der Tagung, in dem Dieter Langewiesche die politische Klasse des Kaiserreichs mit der der Weimarer Republik verglich. Die leitende Frage der Veranstaltung war die nach dem Maß der Kontinuität in der deutschen Parteienentwicklung über die Jahre 1914 bis 1918 hinweg resp. nach der Tiefe des Bruchs, den Weltkrieg und Revolution mit sich brachten. Das besondere Augenmerk galt dabei den Karrieren der Parteiaktivisten.
Unter Aufgebot eines umfangreichen Zahlenmaterials gibt Wilhelm Heinz Schröder eine Kollektivbiographie der 562 Sozialdemokraten, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ein Reichstagsmandat erlangten. Er zeigt, daß die Partei früh eine Schicht hauptamtlicher Funktionäre ausbildete und insofern den anderen Parteien in der Entwicklung zur modernen Massenpartei deutlich voraus war. Diese Leute beherrschten die Reichstagsfraktion bis 1933 schlechthin. Gemessen an den Karriereverläufen war die Entwicklung in der Partei durch Jahrzehnte hin sehr kontinuierlich. Auf der Ebene der Kommunen und zum Teil auch der Einzelstaaten wuchs die Sozialdemokratie schon vor 1914 allmählich in die politische Klasse hinein. Nach 1918 setzte sich dieses Prozeß entschieden und beschleunigt fort, jetzt auch im Reich. Nach Ansicht Schröders kam er erst in der Bonner Republik zu einem Ende.
Wolther von Kieseritzky legt dar, daß die Liberalen im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg kräftige Anstrengungen zur Anpassung an die Bedingungen des politischen Massenmarktes machten. Zahlreiche liberale Vereine wurden gegründet, und die Gesamtorganisation wurde verbessert. Das abzubauende Defizit war allerdings groß. Mit Recht verweist Manfred Hettling darauf, daß die Honoratiorenstruktur weiterhin große Bedeutung behielt, auch nach 1918. Die Parteizentralen waren stets unterfinanziert, da die Zahlungsmoral der Mitglieder schlecht war. Die in zunehmender Zahl eingestellten Parteisekretäre konnten nur mäßig bezahlt werden. So handelte es sich bei diesen Positionen um Karrierestufen, die meistens schnell durchlaufen wurden. Der Gleichmäßigkeit der Arbeit war das nicht förderlich. Ludwig Richter befaßt sich mit dem Weg von der Nationalliberalen Partei zur Deutschen Volkspartei, wie er das auch an anderer Stelle schon eingehend getan hat, und zeigt, daß die Verantwortung für das Scheitern einer gesamtliberalen Einigung bei der Gruppe dogmatisch‑idealistischer Intellektueller um Alfred Weber und Theodor Wolff liegt. Es ist allerdings fraglich, ob die Fusion, wäre sie denn zustande gekommen, gehalten hätte. Die Erfahrungen, die die FDP noch in den 50er Jahren machte, stimmen eher skeptisch.
Der Konservativismus ist in dem vorliegenden Bande schwach vertreten. Wolfgang Zollitsch untersucht die politische Rolle des ländlichen Adels in der Mark Brandenburg im späten Kaiserreich und in der Weimarer Zeit und diagnostiziert einen kontinuierlichen Verlust an Bedeutung. Siegfried Weichlein befaßt sich mit der Stellung der ‚Multifunktionäre’, also derer, die gleichzeitig mehrere politische Ämter innehatten, am Beispiel des Zentrums und der Sozialdemokratie in der Region Kassel. Es wird deutlich, daß die Entwicklung im Zentrum erheblich diskontinuierlicher verlief als in der SPD. Das Gewicht der Multifunktionäre ging nach 1918 im politischen Katholizismus sehr zurück. Mit seiner Studie über die parlamentarischen Eliten in Preußen zwischen 1913 und 1921 belegt Andreas Biefang die vor anderthalb Jahrzehnten von Horst Möller genannten Gründe für die Stabilität im Preußen der Weimarer Zeit erneut: für die gravierenden Probleme der Politik hatte das Land keine Zuständigkeit. Die Zusammensetzung der Fraktionen ‑ in der Führungsebene bestand beachtliche Kontinuität über 1918 hinweg, bei den einzelnen Abgeordneten weniger ‑ spielte hinsichtlich der Stabilität allenfalls eine sekundäre Rolle. Am Beispiel Erfurts untersucht Jürgen Schmidt Karriereverläufe sowohl innerhalb der SPD wie bei den bürgerlichen Parteien zwischen 1871 und 1924 und belegt auch hier ein beachtliches Maß an Kontinuität. Für beide Lager galt: Wer Karriere machen wollte, brauchte eine feste Verwurzelung im jeweiligen Milieu und mußte sowohl politisch wie gesellschaftlich anerkannt sein.
Von den vier Abhandlungen, die ausländische Verhältnisse betrachten, ist die von Klaus‑Peter Sick die einzige, die keinen eingehenden Vergleich mit Deutschland herstellt. Der Autor zeigt, daß das Beharrungsvermögen der tradierten politischen Kultur die nötigen Verbesserungen in der Elitenrekrutierung bei den französischen Liberalen nach dem Ersten Weltkrieg stark behinderte. Christiane Elfert hantiert bei ihrem Vergleich der ländlichen politischen Eliten Englands und Preußens doch wohl etwas viel mit den beiden Romanciers Anthony Trollope und Theodor Fontane und leuchtet nicht alle Aspekte aus. Es überrascht nicht, daß der preußische Landadel mit Parlamenten und Parlamentarismus weniger im Sinn hatte als der englische. Auch der Vergleich von Italien und Deutschland, den Arpád von Klimó gibt, ist mit zu schmaler Perspektive angelegt. Der Blick auf wenige Personenpaare erlaubt die von Klimó formulierten allgemeinen Aussagen nicht. Zudem sind etliche Sachfehler zu konstatieren. Abschließend skizziert Thomas Mergel instruktiv die Wahrnehmung des amerikanischen politischen Systems durch die deutsche Öffentlichkeit zwischen 1890 und 1920.
Zur Beantwortung der Frage nach Bruch oder Kontinuität im deutschen Parteiwesen trägt der Blick nach außen wenig bei. Die anderen Beiträge lassen erkennen, daß die Elemente der Kontinuität deutlich überwogen. Das Bild sähe allerdings anders aus, wenn auch die Flügelparteien mit in die Erörterung gezogen worden wären. Die völkische Strömung auf der äußersten Rechten wird immerhin gelegentlich erwähnt, USPD und KPD auf der Linken kämen dagegen gar nicht vor, wenn nicht hin und wieder SPD‑Politiker genannt würden, die dorthin übertraten. Der Band läßt einige Fragen offen.
Speyer Hans Fenske