Nelleßen-Strauch, Dagmar
Nelleßen-Strauch, Dagmar, Der Kampf um das Kindergeld. Grundanschauungen, Konzeptionen und Gesetzgebung 1949-1964 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 43). Droste, Düsseldorf 2003. 317 S.
Der Ausgleich der Familienlasten hat die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „sozialpolitische Großaufgabe“ - so der Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth 1952 in Kiel (zitiert nach M. Wingen, Zur Theorie und Praxis der Familienpolitik, 1954, S. 133), auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik - begleitet. Der Familienlastenausgleich (FLA) bedurfte detaillierter gesetzlicher Regelungen, so dass diese Materie inzwischen zu einem umfassenden und auch verfassungsrechtlich relevanten Rechtsgebiet geworden ist. Nach einer relativ breiten Darstellung der Frühgeschichte des westdeutschen Kindergeldes in den Werken von H.-J. Ruhl, Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit (1945-1963, München 1994, S. 162ff.) und von M. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960, Göttingen 2001, S. 172ff., 190ff., 203ff. (vgl. auch L. Rölli-Allkemper: Familie im Wiederaufbau. Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, Paderborn 2000, S. 487ff.) liegt nunmehr mit dem Werk von Nelleßen-Strauch eine primär politik- und gesellschaftsgeschichtlich orientierte umfassende Darstellung der Kindergeldgesetzgebung von 1949 bis 1964 vor, die auch für die Rechtsgeschichte der frühen Bundesrepublik von größter Wichtigkeit ist. In dem Abschnitt über die Ursprünge der familien- und kinderbezogenen Einkommenshilfen geht die Verfasserin zunächst auf die staatlichen Maßnahmen und privatwirtschaftlichen Regelungen in der Weimarer Zeit und in der NS-Zeit ein. Leider hat sie die nicht ausschließlich ideologisch geprägte breite Diskussion über Kinderbeihilfen insbesondere im bevölkerungspolitischen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht und im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik (hierzu die Protokolle bei Werner Schubert, Akademie für Deutsches Recht. Protokolle der Ausschüsse [1933-1945], Ausschuss für Bevölkerungspolitik [1934-1940] usw., Frankfurt am Main, 2001) nicht näher herangezogen. Auch die Kinderbeihilferegelung der NS-Zeit, welche der Alliierte Kontrollrat als der nationalsozialistischen Rassenideologie und Bevölkerungspolitik verhaftet schon 1945 beseitigte, wird nur knapp dargestellt. Bevor die Verfasserin auf die Kindergeldinitiativen der Gesetzgebung bis zum Bundeskindergeldgesetz 1964 eingeht (S. 91ff.), untersucht sie zunächst die Wert- und Ordnungsvorstellungen der politischen Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP) als Gestaltungsgrundlagen der Kindergeldpolitik. Nach den programmatischen Aussagen zur Familienpolitik war die Familie in Abkehr von ihrer Instrumentalisierung unter dem Nationalsozialismus wegen ihrer Sozialisierungsfunktion zu schützen und staatlich zu fördern.
Das Kindergeldgesetz von 1954, das vom dritten Kind an ein Kindergeld von 25 DM einführte, war der von der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI. (1931) beeinflussten katholischen Soziallehre verpflichtet. Es beruhte auf den Grundpositionen der sozialen Marktwirtschaft: Solidarität, Subsidiarität, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung (S. 276). Die CDU/CSU trat von Anfang an für das System von berufsständisch orientierten Familienausgleichskassen ein, das durch Beiträge der Wirtschaft finanziert werden sollte, während die SPD ein staatlich finanziertes Kindergeld vom ersten Kind an bevorzugte und die FDP bis 1961 ein staatliches Kindergeld zwar ablehnte, jedoch die Abwicklung des Kindergeldes über die Finanzämter wünschte. Das Gesetz von 1954 folgte der von dem katholischen Arbeitersekretär Bernhard Winkelheide (CDU-Abgeordneter) entwickelten Konzeption des Kindergeldes als Lohn für nicht selbständig Beschäftigte mit mehr als zwei Kindern. Mit der Durchführung der Kindergeldregelung wurden Familienausgleichskassen mit dem Charakter öffentlichrechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften bei den Berufsgenossenschaften errichtet. Der nach den Lohnsummen errechnete Arbeitgeberbeitrag belief sich bei den gewerblichen Kassen auf 0,6-1,5% (im Durchschnitt 1%) der Gesamtlöhne. Allerdings ließ sich der lohnpolitische Ansatz von Anfang an nicht konsequent durchhalten, da der wirtschaftlichen Situation von Kleinlandwirten, Gewerbetreibenden (kleine Handwerker) und Freiberuflern durch einen internen und zentralen Ausgleich (und zwar durch den Gesamtverband der Familienausgleichskassen) und bis 1960 durch zunächst noch sehr geringe staatliche Zuschüsse (vgl. Tabelle 5, S. 284) Rechnung getragen werden musste. Nach der Erhöhung des Kindergeldes in den Jahren 1957 und 1959 brachte das Kindergeldkassengesetz von 1961 einen erheblichen Einschnitt in das Finanzierungsmodell, da das neu eingeführte einkommensabhängige Zweitkindergeld vom Bundeshaushalt übernommen wurde, nachdem die lohnintensiven Betriebe des Mittelstandes eine weitere Erhöhung der Lohnabgaben als untragbar hingestellt hatten. 1964 wurde mit dem Bundeskindergeldgesetz unter progressiver Staffelung der Beihilfen und Leistungszulagen die Finanzierung des Kindergeldes vollständig vom Bundeshaushalt übernommen. Die berufsständischen Kindergeldkassen wurden aufgelöst, die Auszahlung des Kindergeldes durch die bei der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung eingerichtete Kindergeldkasse ausgeführt. Dass 1964 an fast 4 Millionen Kinder Kindergeld gezahlt wurde (statt an nur 1,3 Millionen im Jahre 1961) war nach Meinung der Verfasserin ein „besonderes Verdienst der Kindergeldgesetzgebung“ (S. 280). Auch 1964 spielte jedoch das Kindergeld nur eine untergeordnete Rolle im Gesamtsozialbudget (12% der Sozialleistungen). Das Prinzip der Dynamisierung wurde auf das Kindergeld nicht übertragen. Die Gesetze von 1961 und 1964 bedeuteten die Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip und die Anerkennung des Familienlastenausgleichs als staatspolitische Aufgabe.
Die Verfasserin hat die Entwicklungsgeschichte der rechtstechnisch gelungenen Gesetze von 1954, 1957/59, 1961 und 1964 detailliert beschrieben. Hierbei zeigt sich, - und das dürfte für viele weitere Gesetzgebungsvorhaben der frühen Bundesrepublik gelten -, dass ein vollständiges Bild lediglich aufgrund der ministeriellen und parlamentarischen Materialien nicht möglich ist; vielmehr sind in gleichem Maße auch die - für das Kindergeldrecht besonders ergiebigen - Beratungen der Parteigremien mit heranzuziehen, was besonders für die CDU ein mühevolles Unternehmen darstellt (die Materialien der SPD sind im Archiv der Sozialen Demokratie in Bonn besser geordnet). Etwas zu kurz gekommen ist die Vorreiterrolle Frankreichs in der Herausbildung des Familienlastenausgleichs spätestens seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts (hierzu F. Schultheis, Sozialgeschichte der französischen Familienpolitik, 1988; W. Schubert, in: Festschrift für Hans Hattenhauer, Heidelberg 2001, S. 502ff.), eine Rolle, die in der deutschen rechtspolitischen Diskussion immer präsent war, wenn es ihr auch an Detailkenntnissen fehlte. Insgesamt hat die Verfasserin herausgearbeitet, dass sich zwischen 1949 und 1964 gegenüber der nationalsozialistischen Zeit in der rechtspolitischen Diskussion der Gedanke verankert hat, dass der Familienlastenausgleich nicht primär bevölkerungspolitischen Zielen zu dienen hat und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe auch nicht allein sozialpolitisch zu begründen ist. Schon frühzeitig wurde klargestellt, dass die Familienpolitik auf die persönliche Eigenverantwortlichkeit der Eltern nicht verzichten konnte. Der reichhaltige Inhalt des Bandes wird durch ein Personen- und übersichtliches Sachregister gut erschlossen. Es ist das Verdienst der Verfasserin, dass sie diese Frühzeit des deutschen Familienlastenausgleichs auch für die Rechtsgeschichte, welche die Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche nicht ganz außer Acht lassen sollte, erschlossen hat.
Kiel Werner Schubert