Nilsén, Per, Att >>stoppa
Nilsén, Per, Att >>stoppa munnen till på bespottare<<. Den akademiska undervisningen i svensk statsrätt under frihetstiden (= Skrifter utgivna av Institutet för rättshistorisk forskning Serien I, Rättshistoriskt bibliotek 59). Rönnells antikvariat i distribution, Stockholm 2001. XIV, 460 S.
Das Werk trägt den Titel (übs.): „Um dem Spötter den Mund zu stopfen“. Der akademische Unterricht im schwedischen Staatsrecht während der Freiheitszeit. Es handelt sich um eine Lunder Dissertation, die der dortige Ordinarius für schwedische Rechtsgeschichte, Kjell Åke Modéer, betreut hat. Da der Verfasser nicht nur die drei schwedischen Universitäten Uppsala, Lund und Åbo, sondern auch Dorpat und Greifswald behandelt hat, ergibt sich eine gewisse räumliche Anknüpfung an die Habilitationsschrift des Doktorvaters, der 1975 über die Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium gearbeitet hat. Der in seiner aphoristischen Form verwundernde Haupttitel des vorliegenden Bandes ist ein als Zitat aus des Lunder Rechtsprofessors David Nehrman (geadelt „Ehrenstråle“, † 1769), Werk Jus Publicum, das noch immer als ungedrucktes Manuskript in Linköpings Stadtbibliotek (J 118 fol.) ruht, während Nehrmans bekannte und beliebte Lehrbücher Inledning Til Then Swenska Iurisprudentiam Civilem (1729) und Then Swenska Jurisprudentia Civilis (1746) gedruckt erschienen sind (Modéer hat sie 1979 als Nachdruck herausgegeben). Mit diesem Satz wehrt sich Nehrman-Ehrenstråle gegen abschätzig über das schwedische Staatsrecht urteilende ausländische Autoren, denen die schwedischen Verhältnisse unbekannt waren. Nehrman-Ehrenstråle fährt fort: „Genom flitigt arbetande måste man stoppa munnen till på bespottare och underrätta andra“ (durch fleißige Arbeit muß man dem Spötter den Mund stopfen und andere unterrichten). Das Zitat paßt gut als Motto der Dissertation, weil Nehrman-Ehrenstråles staatsrechtliche Vorlesungen stets einen hervorragenden Ruf genossen. Es ist deshalb um so verwunderlicher, daß sie bis heute nicht gedruckt vorliegen.
Im Westfälischen Frieden 1648 war Schweden die Reichsstandschaft im Heiligen Deutschen Reich zugefallen; es beherrschte mit seinen Besitzungen Bremen-Verden, Wismar und Vorpommern mit Rügen, die Mündungen von Weser, Elbe und Oder und verschloß so dem Reich den Zugang zum Meer. Im Frieden von Roskilde 1658 hatte Schweden zudem Schonen von Dänemark erworben und mit der Universität Lund 1668 eine Hochschule gegründet, welche die Integration Schonens in das schwedische Reich fördern sollte. Åbo (finnisch: Turku) und Dorpat hatten im 17. Jahrhundert bereits Gymnasien, Domkapitel und ein Hofgericht besessen, zudem bildeten sie wirtschaftliche Zentren im Lande. Die Universität Åbo wurde 1640 errichtet, die in Dorpat 1690 wiederbegründet, sie war die maßgebende Hochschule für Estland und Livland und zog später nach Pernau um. Der untersuchte Zeitraum ist die sog. Freiheitszeit, die vom Tode Karls XII. (1718) bis zum Staatsstreich Gustafs III. (1772) reichte. Sie ersetzte den früheren Absolutismus durch eine Ständeherrschaft. Die Verfassungen (regeringsformerna) von 1719 und 1720, die Reichstagsordnung (riksdagsordningen) von 1723 und „tryckfrihetsforordningen“ (das Pressegesetz) von 1766 zeigen deutlich naturrechtliche Gedanken. Indem das Naturrecht in der Freiheitszeit Schwedens offizielle Staatsphilosophie wurde, folgte es dem europäischen Trend des 17. und 18. Jahrhunderts.
Samuel Pufendorf, der zuvor in schwedischen Diensten gestanden hatte, erhielt 1661 die erste Naturrechtsprofessur in Heidelberg, ging aber 1667 nach Lund, wo 1672 sein Werk De jure naturae et gentium erschien. Wenig später wurde Naturrecht vor allem in Halle und Göttingen betrieben. In Halle wirkte neben Christian Thomasius (1655-1728) auch Christian Wolff (1679-1754). Da viele schwedische Studenten in Halle Jura studierten – unter ihnen auch Nehrman-Ehrenstråle – , wurde der Einfluß der Halleschen Schule maßgeblich für die Neugestaltung des schwedischen Staatsrechts. Gleichzeitig hielt in Schweden die Aufklärung Einzug, die hier einen besonderen nationalen Zug annahm und vor allem an den Namen Carl Christopher Gjörwell geknüpft ist.
Von den schwedischen Universitäten war die 1477 in Uppsala gegründete die maßgebende. Die Statuten von 1626 und 1655 spiegeln ihre enge Bindung an Staat und lutherisches Bekenntnis. Die Universitäten in Lund, Åbo und Dorpat sollten vor allem der Ausbildung tüchtiger Verwaltungsbeamter und Richter sowie von Pastoren dienen. Eine Sonderstellung nahm Greifswald ein, das 1648 schwedisch geworden war, denn die Regierung griff nur wenig in die gewachsene Struktur dieser Universität ein, die weiterhin nach den Statuten der pommerschen Herzöge von 1545 und 1547 lebte. Diese Hochschule bildete eine wichtige Kulturbrücke zwischen Deutschland und Schweden.
Das Kanzleikollegium drängte darauf, die neue Staatslehre an den Universitäten zu verankern. Treibende Kraft war der 1720 neuernannte Reichshistoriograph, der Kurländer Jacob Wilde, damals Professor für Natur- und Staatsrecht in Kiel, zuvor in Pernau und Greifswald tätig. In seinem Werk Historia Pragmatica von 1731 lieferte er die theoretische Begründung der neuen schwedischen Staatslehre, war dabei allerdings auch dem karolinischen Absolutismus verpflichtet, weil er das schwedische jus publicum für eine nationale Besonderheit hielt[1]. Er sah es vor allem unbelastet von jedem römisch-rechtlichen Ballast und von allem akademischen Streit, der die deutsche Staatsrechtswissenschaft belastete. Auf diese Weise wollte er das schwedische Ansehen gegenüber Deutschlands Staatsrechtswissenschaft heben. Doch ist dabei nicht zu übersehen, daß das schwedische Staatsrecht, wie es in den Universitäten gelehrt wurde, der deutschen Staatsrechtslehre tief verpflichtet war und sie weitgehend rezipiert hat. Die Lehren Pufendorffs wurden in Halle und Göttingen weitergeführt und viele junge Schweden, die dort studierten – auch der später einflußreiche David Nehrman-Ehrenstråle – nahmen sie auf. Zudem wurden mit Billigung des Reichsrates in schwedischen Universitäten gern Vorlesungen über das jus publicum imperii romano-germanici angeboten.
Diese Abhängigkeit änderte sich erst in den 1750er Jahren, als man den Gedanken des Herrschaftsvertrages zwischen Gleichberechtigten aufgab zugunsten dem der Volkssouveränität. Daraus folgte, daß sich die bisherige Akzeptanz der Lehren John Lockes minderte und Hobbes Ansichten, die den Absolutismus stützten, verworfen wurden. Das bedeutete aber auch, daß der Einfluß ausländischer Schriftsteller überhaupt zurückging und man auch lateinische Fachausdrücke mied. Stattdessen sollten die Studenten die Zeitschrift En Ärlig Swensk (ein ehrlicher Schwede) benutzen, die der Reichstag herausgab und seit 1755 allen schwedischen Universitäten kostenlos zusandte, um dort für die politikkonforme Auslegung der Staatsgrundgesetze zu sorgen. Man sprach nicht mehr von Untertanen, sondern benutzte den Begriff medborgare (Mitbürger, Staatsbürger): Jeder sollte in der Lage sein, sich Kenntnisse der Verfassung und ihrer Wertungen zu verschaffen. In diesem Sinne wirkten die Staatsrechtslehrer an den Universitäten, und der Reichstag begann 1755 eine Initiative, um die Bevölkerung über seine Staatstheorie zu belehren. Seine Überlegungen und Debatten mündeten 1756 in einen Brief an den König, der die Grundzüge eines allgemeinen Volksunterrichts im Staatsrecht enthielt. Der König griff diese Vorschläge auf und erließ eine Verordnung, wonach an jeder schwedischen Universität ein besonderer Lehrer Unterricht im Staatsrecht und in der Verfassungsgeschichte erteilen sollte. Ähnliches galt auch für die Gymnasien und Schulen. Jedes Jahr sollten zudem die Staatsgrundgesetze in den Kirchen und Gerichten öffentlich verlesen und ein staatlich gebilligtes Lehrbuch sollte ausgearbeitet werden, wobei man an Nehrman-Ehrenstråle als Verfasser dachte.
Wenn auch die Universität Greifswald nach 1648 weiter nach ihren alten Statuten lebte, versuchte die Regierung doch, sie näher an Schweden zu binden. So übertrug man das Kanzleramt der Universität dem Generalgouverneur in Stralsund und führte das Naturrecht als Lehrfach ein. Vor allem aber setzte man auch in Greifswald die königliche Verordnung von 1757 durch und ernannte 1758 den Universitätsbibliothekar Johann Carl Dähnert zum professor Juris publici Suetici. Er förderte die Kenntnis des schwedischen Staatsrechts bei den Greifswalder Studenten durch Übersetzungen der schwedischen Staatsgrundgesetze, der Jahrgänge 1755/56 von En Ärlig Swensk und von schwedischen Reichstagsakten. Gleichzeitig erreichte er, daß sich in Deutschland Informationen über das politische Leben Schwedens verbreiteten. Damit wandte sich Dähnert auch gegen deutsche Staatsrechtsautoren und „unwissende“ Journalisten, die aber gleichwohl die politischen Tendenzen in Schweden kritisch beurteilten und sie als Vorspiel künftiger Veränderungen deuteten. Tatsächlich beseitigte der Staatsstreich König Gustavs III. 1772 die Staatsgrundgesetze der Freiheitszeit. Unter den neuen Verhältnissen verschwand auch das schwedische Staatsrecht wieder als Unterrichtsfach an den Universitäten.
Der Verfasser hat die gedruckten und ungedruckten Quellen in den einschlägigen Archiven eingehend ausgewertet und ein reiches und farbiges Bild der staatsrechtlichen Verhältnisse in Schwedens Freiheitszeit gezeichnet. Das Buch enthält ein Personenverzeichnis (leider kein Sachregister!) und bietet einen Auszug aus dem ungedruckten schwedischen Staatsrecht Nehrman-Ehrenstråles, auch sind Quellen- und Literaturverzeichnis ausführlich und umfassend. Kritisch ist zu bemerken, daß der Verfasser Grotius‘ und Pufendorffs Werke nur in englischer Übersetzung benutzt hat, daß er Conring unter „Hermann“ einordnet und Olof Jägerskiöld dem gleichnamigen Stig nachfolgen läßt. Bei den zitierten Aufsätzen fehlen stets die Seitenzahlen und Sammelwerke sind nicht unter dem Namen des Herausgebers aufgeführt (z. B. Rättshistoriska Studier 9; 12; Stolleis, Staatsdenker etc.). Bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte und Wolf, Rechtsdenker fehlt die benutzte Auflage.
Der Verfasser hat eine Periode der schwedischen Universitätsgeschichte aufgearbeitet, die bisher in dieser Geschlossenheit nicht dargestellt worden ist und deshalb auch kaum bekannt war. Dabei erhält das Bild des Verhältnisses zwischen Deutschland und Schweden, durch seine Darstellung neue Nuancen. In die deutsche Literatur hat sich der Verfasser gut eingearbeitet und seinem Werk auch eine deutsche Zusammenfassung gegeben. Das Werk ist eine gelungene Synthese staatsrechtlicher und universitätsgeschichtlicher Forschung.
Köln am Rhein Dieter Strauch
[1] Vgl. über Wilde: Per Nilsén, in: Kjell Åke Modéer 60 Jahre, besprochen in ZRG GA 122 (2005), S. ■■■