Prang, Tobias, Der Schutz der Versicherungsnehmer

bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen durch das Reichsgericht (= Rechtshistorische Reihe 279). Lang, Frankfurt am Main 2003. 337 S. Besprochen von Siegbert Lammel.

Prang, Tobias, Der Schutz der Versicherungsnehmer bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen durch das Reichsgericht (= Rechtshistorische Reihe 279). Lang, Frankfurt am Main 2003. 337 S.

 

Im Recht der allgemeinen Vertragsbedingungen nimmt das Versicherungsrecht einen besonderen Platz ein. Denn dieser Geschäftszweig hat sich nicht auf gesetzlicher Grundlage entwickelt, sondern allein anhand der vertraglichen Regelungen. Mögen letztere zunächst auch nur einzelfallbezogen abgefasst worden sein, ergab sich mit der Ausweitung des Versicherungsgeschäfts und insbesondere dessen Übernahme durch Versicherungs-(Aktien-)Gesellschaften die Notwendigkeit, allgemeine Bedingungen abzufassen. Diese dienten zweierlei Zielen: zum einen der Vereinfachung des Geschäftsbetriebs – die einzelnen Verträge mussten nicht mehr im einzelnen ausgehandelt und ausformuliert werden, sondern die Versicherung wurde nur zu den vorformulierten Bedingungen gewährt -, zum anderen Wettbewerbsgesichtspunkten – die einzelnen Gesellschaften konnten sich durch eine besondere Gestaltung ihrer Bedingungen, insbesondere im Hinblick auf den Umfang des gewährten Versicherungsschutzes, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitbewerbern auf dem Versicherungsmarkt verschaffen -. Da es sich aber bei den Versicherungsunternehmen um gewinnorientierte (Handels-)Gesellschaften handelte, standen deren Interessen bei der Ausformulierung der Versicherungsbedingungen im Vordergrund; der Gewinn musste die Leistung an den Versicherungsnehmer übersteigen. Der Schutz des Versicherungsnehmers vor „unbilligen“ Klauseln, bei denen also seiner Leistung in Gestalt der Versicherungsprämie keine adäquate  Gegenleistung mehr entsprach, wurde angesichts der im 19. Jahrhundert vorherrschenden liberalen Wirtschaftsdoktrin nicht von der Gesetzgebung gewährleistet. Die Aufnahme im preußischen Entwurf enthaltener Regelungen über das Versicherungsrecht in das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch scheiterten nicht so sehr an der problematisierten Stellung des Versicherungsrechts – Handelsrecht oder allgemeines bürgerliches Recht -[1], sondern an der Abwehr gesetzlicher Regelungen durch den Handelsstand. Dieser schob die dogmatischen Bedenken vor, um seine eigentlichen Interessen – die möglichste Freiheit bei der ferneren Entwicklung der Institute der Versicherung zu bewahren[2] - durchzusetzen. Die vorhandenen Statuten der Versicherungsgesellschaften sollten als Rechtsgrundlage ausreichen; der Schutz des Publikums würde durch die staatliche Prüfung vor Zulassung der (Versicherungs-)Aktiengesellschaften ausreichend gewährleistet[3]. Damit blieb als einziges staatliches „Prüfungs-Organ“ die Rechtsprechung übrig.

 

Mit dieser Prüfung befasst sich die von Schubert betreute Dissertation Prangs. Der Verfasser unternimmt es, die Rechtsprechung des Reichsgerichts darauf hin zu untersuchen, ob einzelne versicherungsrechtliche Tatbestandsmerkmale in den Klauselwerken versicherungsnehmer-freundlich oder versicherungsnehmer–nachteilig interpretiert werden. Vier große Gruppen werden akribisch geprüft. Zunächst die Umschreibung des Versicherungsfalles in den Versicherungsbedingungen, dann die große Zahl der Obliegenheiten, ferner die Klagefristen und schließlich die Ausschlussklauseln; besonders im Zusammenhang mit letzteren steht dann noch die Überprüfung der Versicherung besonderer Risiken. Die Rechtsprechung zu den genannten Merkmalen wird für die Feuerversicherung, die Unfallversicherung, die Risikolebensversicherung, die Haftpflichtversicherung und die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung dargestellt. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem Abdruck zahlreicher allgemeiner Versicherungsbedingungen, die ansonsten nur schwer greifbar gewesen wären, und einer tabellarischen Übersicht über die verwendete Rechtsprechung.

 

Prang entnimmt als Ergebnis der von ihm überprüften Entscheidungen die allgemeine Tendenz des Reichsgerichts, Versicherungsbedingungen in einem für den Versicherungsnehmer günstigen Sinne auszulegen. Diese Schlussfolgerung trifft zwar insoweit zu, als die jeweiligen Entscheidungen zugunsten des Versicherungsnehmers ausgegangen sind. Ob dem aber eine - bewusste oder auch nur unbewusste – Tendenz beim Reichsgericht zugrundegelegen hat, mag doch bezweifelt werden. Denn die Entscheidungen gehen auf die – heute bekannte – Problematik der allgemeinen Geschäftsbedingungen als solche allenfalls inzident dadurch ein, dass sie die Aufsteller der Bedingungen am Wortlaut der Klauseln festhalten mit dem Argument, wenn etwas anderes z. B. hinsichtlich des Umfangs des versicherten Risikos gewollt gewesen sei, hätte sich der Klauselverwender klarer ausdrücken müssen; sie gehen also von der nunmehr durchgängigen Interpretation zulasten des Aufstellers aus. Aber in den übrigen Fällen bleibt es fast durchweg bei einer reinen Wortlautinterpretation. Und wenn der Wortlaut, insbesondere bei juristischen, technischen oder medizinischen Fachbegriffen, eine Auslegung impliziert, dann bleibt diese Rechtsfindung im Rahmen der herkömmlichen Regel und hat mit einer den Versicherungsnehmer bevorzugenden Handhabung von allgemeinen Versicherungsbedingungen wenig zu tun. Selbst beim Verschuldensprinzip, dessen Anwendung im Rahmen eines Verstoßes gegen klauselbedingte Obliegenheiten für alle Versicherungssparten von der Rechtsprechung gefordert worden ist, konnte sich das Reichsgericht auf Vorläuferentscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts stützen. Außerdem handelt es sich hierbei auch nicht um eine besondere AGB-spezifische Rechtsprechung, sondern um die prinzipielle Frage, ob ein „unverschuldeter“ Vertragsverstoß zum Verlust der vertraglichen Ansprüche führen darf, was dem grundsätzlichen Verschuldensprinzip des bürgerlichen Rechts widersprechen würde. Aber auch die Versicherungsnehmer-unfreundlichen Judikate beruhen nicht auf einer möglichen Verkennung der prinzipiellen Benachteiligung durch allgemeine Vertragsbedingungen, sondern auf „schlichter“ zweckentsprechender Auslegung. Dies gilt z. B. für die sog. Angehörigenklausel, die auch Ansprüche der entsprechenden Sozialversicherungsträger erfasst (S. 172); der vom Verfasser mitgeteilte Sinn und Zweck dieser Klausel (S. 171/172 oben) trägt diese Auslegung. Das gleiche gilt für den Ausschluss vertraglicher Ansprüche bei der Haftpflichtversicherung (S. 170): wer eine einen Dritten treffende gesetzliche Pflicht durch Vertrag übernimmt, haftet nicht auf Grund des Gesetzes, sondern des Vertrages, denn er ist nicht Adressat des gesetzlichen Tatbestandes. Ähnlich zu beurteilen ist bei der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung die Auslegung des Anerkennungs- und Befriedigungsverbots durch das Reichsgericht, wonach auch die Hinnahme eines Versäumnisurteils darunter fällt (S. 123). Durch die Schaffung eines rechtskräftigen Vollstreckungstitels hat der Versicherungsnehmer – unabhängig von der materiellrechtlichen Reichweite der Rechtskraft – die gegnerischen Ansprüche inhaltlich anerkannt; der Zweck der Klausel – dem Versicherer eine selbständige Prüfung zu ermöglichen – wurde damit verfehlt. Als letztes Beispiel für eine zweckentsprechende Auslegung, die sich einer pauschalen Einordnung als versicherungsnehmer-freundlich oder versicherungsnehmer–unfreundlich entzieht, möge die Vorsatzklausel bei der Feuerversicherung dienen, die auch für die Brandverursachung durch einen „Erfüllungsgehilfen“ des Versicherungsnehmers angewendet worden ist (S. 140). Die hier vom Verfasser bevorzugte Wortinterpretation führt doch zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass die Brandstiftung durch einen Dritten, dessen sich der Versicherungsnehmer bedient, unter den Versicherungsschutz fällt (ähnlich S. 95).

 

Insgesamt lässt sich also nicht von einer Entscheidungspraxis sprechen, die die Interessen des Versicherungsnehmers gegenüber der „Allmacht“ der Versicherungsunternehmen, ausgedrückt in den allgemeinen Versicherungsbedingungen, gewahrt hat. Vielmehr liegt eine Rechtsprechung vor, die bei der traditionellen Methodik geblieben ist: Wortlaut, Wortsinn, Entstehung, Zweck der Regelung. Warum der (VII.) Versicherungssenat des Reichsgerichts, anders als z. B. der I. Zivilsenat[4], die Geltung allgemeiner Geschäftsbedingungen als solcher nicht problematisierte, lässt sich aus den mitgeteilten Entscheidungen nicht entnehmen.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Siegbert Lammel

[1] So z. B. Neugebauer, Versicherungsrecht vor dem Versicherungsvertragsgesetz, 1990, S. 73.

[2] So z.B. der Frankfurter Abgeordnete bei der Nürnberger ADHGB-Konferenz; zit. bei Lammel, Zur Entstehung von Handelsrecht. Die Beteiligung des Handelsstandes an der Handelsgesetzgebung in der Freien Stadt Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, 1987, S. 163.

[3] S. Lammel, wie Fn. 2.

[4] Z.B. RGZ 20,115; 62,264; 103,82.