Schmidt-Radefeldt, Susanne, Carl Friedrich von Gerber

(1823-1891) und die Wissenschaft des deutschen Privatrechts (= Schriften zur Rechtsgeschichte 105). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 308 S. Besprochen von Adolf Laufs.

Schmidt-Radefeldt, Susanne, Carl Friedrich von Gerber (1823-1891) und die Wissenschaft des deutschen Privatrechts (= Schriften zur Rechtsgeschichte 105). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 308 S.

 

Die von Bernd-Rüdiger Kern geförderte, preisgekrönte Leipziger Dissertation gilt einer herausragenden, wenngleich auch umstrittenen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Die Autorin verfolgt im ersten Teil ihres Buches den Lebensweg und die berufliche Karriere dieses Rechtswissenschaftlers und Politikers. Über Professuren in Jena und Erlangen wurde von Gerber ordentlicher Professor und Kanzler in Tübingen. Er wirkte als Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches in Nürnberg und Hamburg. Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit Rudolf von Ihering. Nach einer Zwischenstation als Professor und Oberappellationsgerichtsrat zu Jena übernahm er eine Professur in Leipzig. Er nahm am konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes teil und amtete als Kultusminister in Dresden von 1871 bis zu seinem Tode.

 

Der anschaulichen Biographie folgt der Hauptteil des Buches, in dem sich die Verfasserin eindringend und gründlich, auch durchaus kritisch mit dem Werk des konservativen, romanisierenden Rechtsgermanisten auseinandersetzt. Dabei steht die Wissenschaft des deutschen Privatrechts im Vordergrund. Das deutsche Privatrecht und die Wissenschaft von diesem Gegenstand erweisen sich seit der Blüte des Faches im 19. Jahrhundert als Felder voller Kontroversen. Sie spielen freilich in der aktuellen Rechtswissenschaft kaum noch eine Rolle. In den weitgehend ihrer geistesgeschichtlichen Grundlagen beraubten Studiengängen findet sich kaum noch ein Platz für das alte „Collegium Germanicum“. Dabei hatte es die vielgestaltige Disziplin „Deutsches Privatrecht“ um so schwerer, sich zu behaupten, als ihre Eigenart vor dem Hintergrund der Rezeption, der Verwissenschaftlichung von Rechtsdenken und Rechtspflege, in Europa immer prekär blieb.

 

„Die Frage, ob es für dieses zusammengesetzte Rechtsgebiet ein <gemeines>, d. h. einheitliches D. P. gebe oder nur partikuläre Sätze, und ob jenes, das ja kein geschriebenes, sondern nur ein Gewohnheitsrecht sein konnte, nur materiell, nämlich nach seinem Inhalt, oder auch formell, nach sein Geltung ein gemeines, oder ob es in Wahrheit doch nur ein <allgemeines> kraft verschiedener partikulärer Rechtsquellen geltendes Privatrecht sei, hat ... seit dem 18. Jahrhundert eine große Rolle gespielt“, so Hans Thieme in seinem noch immer unübertroffenen großen Artikel im Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte (Bd. 1, 1971 Sp. 702–710). Man suchte nach dem „wissenschaftlichen Prinzip“, ohne doch zu einer vollen Übereinstimmung zu finden. Letztlich geht es wohl um Rechtsideen des deutschen Volksgeistes ohne einheitliche strikte Geltung und Revisibilität.

 

Obwohl sein „System des Deutschen Privatrechts“, das in zwei Abteilungen erstmals 1848 und 1849 erschien, mit seinen siebzehn Auflagen (die letzte postum, bearbeitet von Konrad Cosack) ein literarischer Erfolg war, blieb der Autor eher ein Außenseiter der Germanistenzunft, der vielfach auf Kritik, auch polemische nach Art des Jahrhunderts, stieß und Fachkollegen wie Beseler, Reyscher und Gierke als Gegner auf den Plan rief. Schon als junger Wissenschaftler erregte Gerber beträchtliches Aufsehen, indem er die unmittelbare Anwendbarkeit des gemeinen deutschen Privatrechts bestritt in seinem Erstlingswerk über „Das wissenschaftliche Prinzip des gemeinen deutschen Privatrechts“ von 1846. „Damit stellte er aber langfristig sein eigenes wissenschaftliches Arbeitsfeld in Frage“, so urteilt ein wenig einseitig pointierend die Verfasserin der Dissertation. Sie sieht „das bleibende Verdienst des Werkes“ in der „Zusammenstellung einer umfangreichen Materialsammlung im ersten Teil, die über teilweise längst vergessene Juristen informiert“. Gerber sei, so weist sie auf, seinem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden, der auf eine abstrahierende, konstruktive Systematisierung der germanistischen Rechtsstoffe abzielte.

 

Zufolge seinem „äußeren System“ ordnete Gerber seinen deutschrechtlichen Stoff nach dem Muster des Pandektenlehrbuchs von Puchta an. Bezeichnend für Gerbers Entfernung von der historischen Rechtsschule ist die von ihm gemeinsam mit Ihering 1856 gegründete Zeitschrift „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“, eines Forums zur Publikation romanistischen wie germanistischen Stoffes nach einheitlicher Methode. Gerbers „inneres System“ will den gesamten Rechtsstoff als den möglichen Ausdruck des Personenwillens verstanden wissen, was wiederum an Puchtasche Gedanken erinnert. Wieder gelangt die Autorin zu einem kritischen Urteil: „Allerdings findet dieser Ansatz im materiellen Teil seines Lehrbuches kaum Niederschlag. Nur vereinzelt wird einmal auf den Einzelwillen verwiesen, ohne daß ein <roter Faden> auszumachen wäre. An manchen Stellen vermischen sich bei Gerber auch die Kriterien für das formelle, an den Pandekten orientierte System und das materielle, von Gerber idealisierte, aber in der Umsetzung wohl nicht erreichte System“ (S. 286f.).

 

Das Gerbersche „Prinzip“ verstand das gemeine deutsche Privatrecht als Darstellung der gegenwärtigen Rechtsüberzeugung des deutschen Volkes, aber nicht als unmittelbar anwendbares Recht und eröffnete die juristische Möglichkeit, „das Geschichtliche vom heutezutage Geltenden“ zu trennen. Damit erwies sich Gerber als moderner denn der Großteil seiner Zunft, auch mit dem Vorschlag, in das deutsche Privatrecht diejenigen ursprünglich römischen Rechtssätze einzubeziehen, die durch Modifikationen in der deutschen Rechtspraxis einen „neuen und veränderten Charakter erhalten haben“. Er sah die Zukunft nicht mehr fern, in der die römischen Rechtssätze durch die Entwicklung des deutschen Rechtsbewußtseins stärker assimiliert und so umgestaltet seien, daß sie sich als Teil eben dieses einheimischen Rechtsbewußtseins auffassen ließen. Dieser Gedanke des Ausgleichs zwischen römischen und altdeutschen Rechtstraditionen verleiht dem Werk Gerbers moderne Züge.

 

Die Leipziger Dissertation ist ein gelungener Wurf. Deren beide Teile zeichnen sich gleichermaßen aus durch Quellennähe, Materialreichtum und neue kritische Ansätze. Die Autorin zeichnet das differenzierte Bild eines Rechtsgelehrten nicht ohne Widersprüche, der als durchaus vorandenkender Wissenschaftler einerseits, als konservativer Politiker andererseits zu den profilierten Gestalten des geistig so reichen 19. Jahrhunderts gehört, auch wenn er manche Fachfrage letztlich offen ließ.

 

Heidelberg                                                                                                                 Adolf Laufs