Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft
Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft. Nomos, Baden-Baden 2003. 933 S.
Die „Neue Staatswissenschaft“, die enzyklopädisch zu begründen und auszubauen sich vorliegende Schrift anheischig macht, will als „erneuerte Staatswissenschaft“ nicht einfach dort anknüpfen, „wo Robert von Mohl und Lorenz von Stein aufgehört haben“ (S. 45), sondern eine gewandelte Staatlichkeit mit gewandelten Aufgaben, neu definierten Funktionen, veränderten Organisations-, Handlungs- und Finanzierungsformen im Kontext von Europäisierung und Globalisierung multiperspektivisch beschreiben. Obschon interdisziplinär angelegt und programmatisch jedem Methodensynkretismus abhold, sollen Brückenbegriffe und Perspektivenverklammerungen eine gewisse Einheit der Disziplin ermöglichen, der zudem ein einheitlicher Gegenstand, der moderne Staat in der transnationalen Welt, zugrundeliegen soll, der eben nur in verschiedenen Hinsichten, Helligkeitsgraden und Farbwerten auszuleuchten sei. Staatswissenschaft in diesem Verständnis ist eine „Beleuchtungstechnik“ (S. 29 f.) und keine die Multidisziplinarität „einebnende, überwölbende Integrationswissenschaft“ mit einer spezifischen, eigenen Methode (S. 46), das Vorhaben also nicht unähnlich dem im Vorwort des Eröffnungshefts der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (1844) formulierten Anliegen, „sämmtliche Staatswissenschaften“ zusammenzubringen. Die Neubegründung der Staatswissenschaft erfordert schließlich in Ansehung ihres Mitte des 19. Jahrhunderts noch unfraglichen Gegenstandes den Mut, sich über die mittlerweile schon wieder schal und abgegriffen wirkende „L`Etat est mort“-Literatur hinwegzusetzen (S. 21), wenn auch deren Petitum partiell durch die Berücksichtigung der radikalen Wandlung von Staatlichkeit Genüge getan wird (S. 920).
Die Neubegründung einer alten Wissenschaft würde das Fach Rechtsgeschichte, das en passant mit dem Hinweis auf Beisetzungen auf dem „rechtshistorischen Kirchhof“ (S. 175) seine Kennzeichnung erfährt, nichts angehen, wenn die historische Perspektive nicht zu den am Projekt beteiligten Disziplinen gehören würde, selbstredend nur insoweit, als sie zum Verständnis der Entwicklung des heutigen Zustands beiträgt, sich also, wie etwa die Souveränitätslehre Bodins als „von durchaus fortbestehender Modernität“ erweist (ebd.). Diese in einem weit verstandenen Sinne applikative Rechts-, Verfassungs- und Ideengeschichte scheint für den staatswissenschaftlichen Gegenstand allerdings von solch eminenter Bedeutung zu sein, daß gut ein Fünftel der Schrift auf die Historie verwandt wird, das Gros zur Schilderung der Entstehung des modernen Staates und zur Verständlichmachung seiner Funktionslogik (S. 55 – 211), ein bescheidener Teil zur Präsentation der Idee und Strukturelemente des Verfassungsstaates (historisch durchsetzt S. 743 – 781) sowie ein paar Seiten hier und dort zur thematischen Einführung, etwa in die Entstehung des Steuerstaates (S. 631 ff.). Was hier geliefert wird, gründet nicht auf eigener historischer Forschung, gibt aber einen hervorragenden Überblick über relevante Erträge einer breit gefächerten Palette einschlägiger Literatur, deren „Highlights“ in zahlreichen und umfangreichen Zitatblöcken dem „Lehrbuch“ (S. 57) einverleibt werden. In dieser gut ausgewählten Zusammenstellung werden Verbindungslinien sichtbar, die den nicht collagierten Texten nur mühevoll entnommen werden könnten, etwa wenn zunächst gezeigt wird, daß „Macht“ ein „zweistelliges Prädikat“ und „relationales Konzept“ ist, um dann die Geschichte der Monopolbildung und die Wirkungsweise des Monopolmechanismus an Hand von Texten von Norbert Elias oder Michael Mann zu illustrieren (S. 57 ff.). Und wenn das Recht als eine „Zweitkodierung von Macht“ verstanden wird, dann erhellt dies die „Ko-Evolution von Staat, Macht und Recht“ (S. 77 ff.), in deren Zuge Macht Recht wie Recht Macht begründet und das Recht ebenso verstaatlicht wie der Staat verrechtlicht wird. Die Schrift geht zurück in die Rechtsethnologie, um die Entstehung von Herrschaft als Wendepunkt in der Rechtsentwicklung aufzuzeigen (S. 88), greift zu auf die Rezeption des römischen Rechts, um den Stellenwert des hiermit verbundenen Rationalisierungs- und Modernisierungsschubs für die frühneuzeitliche Staatsbildung zu verdeutlichen (S. 95 ff., 165), und aktiviert die Kanonistik (S. 107 ff.), um den Amtsbegriff und die mit diesem verbundene Depersonalisierung herauszuarbeiten. In der Passage, in der der moderne Staat „als Instrument zur Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege“ erklärt wird, hätte sich der Hinweis empfohlen, daß die Staatsentstehung zugleich auch als ein Produkt der Konfessionalisierung begriffen werden muß. Besondere Vertiefung erfährt der Souveränitätsbegriff, der sich in die Logik der Monopolbildung fügt (S. 161) und in der terminologischen Fassung einer „Souveränitätsverschränkung“ sogar zur Beschreibung des gegenwärtigen europäischen Mehrebenensystems empfohlen wird (S. 174). Der „unauflösbare Zusammenhang von Staat und Souveränität“ wird dabei gegenüber solchen Autoren betont, die sich ein wissenschaftlich wenig hilfreiches, aber „wohliges Gefühl der Radikalität“ durch „Abschiedserklärungen“ zu verschaffen wüßten (S. 172). Die geschwisterlichen Ideen von Souveränität und Staatsräson werden schließlich auf das Recht bezogen, die Souveränität, um ein institutionalisiertes Rechtssetzungsmonopol zu begründen (S. 169), die Staatsräson, um eine „Kompetenz zur Rechtsdurchbrechung“ herzuleiten (S. 181). Ähnlich gewinnt Verf. für die Gegenwart einen Rechtstitel für einen vorübergehenden Bruch der Verfassungs- und Gesetzesbuchstaben mittels systemtheoretischer Argumentation unter dem Stichwort „Übergangsverfassungsrecht“ (S. 209), wenn dadurch die Rechtsordnung „insgesamt und auf längere Sicht gewährleistet werden kann“ (S. 203). Das mit systematischer Hand geflochtene Netz historisch schillernder Stichwörter vermag auf diese Weise mit beeindruckender Kühnheit scheinbar totes Material aus der Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte zu verlebendigen.
Jena Walter Pauly