Seif, Ulrike, Recht und Justizhoheit

. Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 44). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 598 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

Seif, Ulrike, Recht und Justizhoheit. Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 44). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 598 S.

 

Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die Würzburger Habilitationsschrift der Verfasserin, einer Schülerin von Dietmar Willoweit und Hasso Hoffmann. Die zentrale Fragestellung der Untersuchung zielt auf die Offenlegung der europäischen Verankerung der Garantie des gesetzlichen Richters. Dies soll die europäische Verfassungsgeschichte sowie eine europäisch angelegte Analyse des Verfassungsrechts und der Verfassungswirklichkeit bestätigen. Diese Garantie ist bekanntlich, mit Ausnahme Großbritanniens, in nahezu allen Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union verankert, meistens in den Grundrechtskatalogen. Im Kern der unterschiedlichen normativen Formulierungen steht ein Gesetzesvorbehalt für die richterliche Zuständigkeit. Dies führt zur Hauptfrage dieser Untersuchung: Gibt es eine gemeinsame europäische Verfassungstradition der Garantie des gesetzlichen Richters? Das Thema gewinnt seine zentrale Relevanz auch aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts, wenn man bedenkt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Europäischen Gerichtshof die Stellung des gesetzlichen Richters zusteht. Die Untersuchung versteht sich insoweit als eine verfassungshistorische und zugleich als eine europäisch vergleichende. Der Versuch, nach einer historischen Grundlegung der europäischen „Verfassungstradition“ zu suchen, gibt der Untersuchung zugleich auch eine beachtliche rechtspolitische Aktualität. Der Verfasserin ist es durchaus bewusst, dass eine solche vergleichende Fragestellung neue Akzente in der Verfassungsgeschichte setzen kann. Wie sie zu Recht in der Einleitung herausstellt (S. 33), ließ „der in der Verfassungsgeschichtsschreibung prägende Verfassungsbegriff von Otto Brunner als ‚konkreter Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates’ eine vergleichende Verfassungsgeschichte nicht zu, da es um die ‚politische Einheit und soziale Ordnung’ des Nationalstaates, ‚eines bestimmten Staates’ ging.“ „Erst ein vom nationalen Inhalt abstrahierter Verfassungsbegriff“ – betont die Verfasserin (ebendort) – „ermöglicht vergleichendes, die europäischen Entwicklungen insgesamt beachtendes, verfassungsgeschichtliches Arbeiten.“ Insoweit nimmt sie zugleich Bezug auf Untersuchungen wie etwa diejenigen, die in den letzten Jahren von Hasso Hoffmann, Johannes Kunisch oder Wolfgang Reinhardt vorgelegt wurden. Auch in anderer Hinsicht setzt sich die Verfasserin von der bisherigen traditionellen Verfassungsgeschichte ab. „Nach der bisher in der Grundrechtsgeschichte dominierenden ideengeschichtlichen Fragestellung“ – betont sie (S. 34) – „erscheinen die Formulierungen der Garantie des gesetzlichen Richters als Grundrecht oder als grundrechtsgleiches Recht primär als philosophische Leistung. Die ideengeschichtliche Fragestellung richtet sich auf die in den geschichtlichen Ereignissen manifestierten Ideen und deren Vordenker.“ Sie denkt hier also etwa an das bekannte Standardwerk von Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss (2. Aufl., Berlin 1978). „In der hier vorliegenden Arbeit“ – schreibt dagegen die Verfasserin (ebda.) – „wird das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht als abstrakte Erkenntnis politischer Ideengeschichte, sondern als konkreter Protest in einer Konfliktsituation aufgefasst. Das Augenmerk“ – führt sie fort – „richtet sich nicht auf die abstrakten Komponenten des Gesetzes- oder Richterbegriffs, … sondern auf die konkrete Konfliktlage, in der zum Schutz das Recht auf den gesetzlichen Richter formuliert ist.“

 

Die vergleichende Verfassungsrechtschreibung, auch die nicht deutschsprachige, kannte bisher kaum den Versuch, diese Problemstellung an einer historischen Analyse zu verankern. Das Forschungsanliegen der Verfasserin wirft zugleich auch zentrale Methodenfragen, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit Quellen aus unterschiedlichen staatlichen, kulturellen und historischen Traditionen auf (siehe hier S. 36ff.: „Methode der vergleichenden Rechtsgeschichte“). Im Vordergrund steht hier die Frage der Historizität von Rechtsbegriffen und der jeweiligen rechtlichen Formulierungen in den Quellen. Das Problem der Gefahr der Überstülpung moderner dogmatischer Begrifflichkeit bei der Lektüre und Würdigung rechtshistorischer Quellen kennt eine alte Diskussionsgeschichte, welche allerdings bisher vornehmlich von Privatrechtshistorikern und Romanisten beherrscht wurde. Auch dazu nimmt die Verfasserin vorweg Stellung: „Die Auswertung früherer Formulierungen in historischen Zeugnissen“ – warnt sie (S. 36) – „steht unter dem Vorbehalt einer vom geltenden Verfassungsrecht abweichenden Bedeutung, da der Wortsinn nicht für alle Zeit feststeht.“ Rechtshistorische Forschung, auch eine vergleichende Verfassungsgeschichte, erfordert also „die Rekonstruktion der Bedeutung ihrer Begriffe“. Insoweit verstehe sich die rechtshistorische Forschung, und hier insbesondere die Verfassungsgeschichte, - nach Ansicht der Verfasserin - „als eine sprachgeschichtliche, auf Quellenbefunde gestützte Wissenschaft.“ Das hermeneutische Problem stelle sich hier auf zwei Ebenen. Auf einer Seite ordnen sich die sprachlichen Quellenzeugnisse in ihrer geschichtlichen Vergangenheit, obschon die historischen Formulierungen und der vergangenen Bedeutungswelt nur in der gegenwärtigen Begrifflichkeit rekonstruiert werden können. Andererseits sei das hier angesprochene Problem des „gesetzlichen Richters“ in die ganz unterschiedlichen staatlichen Traditionen und in der Verfassungsentwicklung unterschiedlichen Rechtsordnungen eingebunden. Es handele sich also nicht nur um ein Problem der Sprache, sondern auch des historischen unterschiedlichen kulturellen und staatlichen Kontexts, in welchen die französischen, englischen oder deutschen Rechtsquellen eingebunden sind. Insoweit sind diese als solche nicht austauschbar. Damit erreiche der Rechtshistoriker eine Grenze bei der Vergleichbarkeit. Ähnliche sprachliche Formulierungen führen hier nach zutreffender Beobachtung der Verfasserin (S. 38) nur zu historischen Missverständnissen. „Die Formulierungen an sich“ – betont sie zu Recht – „können nicht als ‚tertia comparationis’ im historischen Vergleich dienen.“ Eine Einsicht, welche die vergleichende Rechtsgeschichte ohne weiteres auch aus den aktuellen methodischen Einsichten der modernen Rechtsvergleichung gewinnen kann. Eckwerte also einer europäischen vergleichenden Verfassungsgeschichte können deshalb nur der Verwendungskontext von rechtlichen Formulierungen in den Quellen sein und insbesondere die „konkreten Konfliktlagen, in denen die Garantien des gesetzlichen Richters hier formuliert werden“ (S. 38). Die Verfasserin spricht hier von „Schutzrichtungen“. „Begreift man die Garantie des gesetzlichen Richters“ – schlägt die Verfasserin vor – „nicht als abstrakte Erkenntnis politischer Ideengeschichte, sondern als tagespolitische Polemik in konkreten Konfliktsituationen, bieten sich die Schutzrichtungen der Formulierungen als Vergleichspunkte an.“ Die konkrete Konfliktlage, verstanden als Ordnungsproblem, definiert insoweit die funktionale Ebene, in welcher unterschiedliche rechtliche Formulierungen bei den einzelnen Befunden der Quellen trotz ihrer staatlichen, sprachlichen und landschaftlichen unterschiedlichen Verwurzelung dennoch im Kern vergleichbar bleiben. Das Ordnungsproblem also und nicht die rechtliche Begrifflichkeit oder die rechtliche Kategorie des einzelnen normativen Textes muss also hier nach Ansicht der Verfasserin im Vordergrund einer vergleichenden Verfassungsgeschichtsschreibung stehen. Dem kann man nur zustimmen. Mit ihrem methodologischen Problembewusstsein und ihrer Arbeitsperspektive ordnet sich die Verfasserin damit auch in die aktuelle methodologische Diskussion der heutigen Rechtsvergleichung ein.

 

Einiges sei hier nun zur Struktur und zum Inhalt der einzelnen Abschnitte der Untersuchung mitgeteilt. Im Rahmen ihres historischen und vergleichenden Forschungsanliegens hat die Verfasserin eine beeindruckende Masse von Quellen ausgewertet (einen Überblick hierzu auf S. 40-45) und nahezu das gesamte europäische, also keinesfalls nur das deutschsprachige, Schrifttum herangezogen. Das Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 489-589) ist mehr als beeindruckend. Die Arbeit selbst strukturiert sich in drei Teile. Der erste Teil ist dem rechtshistorischen Hintergrund des Problems gewidmet und stellt zugleich einen wesentlichen Teil der gesamten Untersuchung dar: S. 44-339. In einzelnen Kapiteln werden die historischen Befunde aus den einzelnen untersuchten staatlichen und juristischen Traditionen vorgestellt. Im Vordergrund stehen das gelehrte kanonische Prozessrecht und die Rechtsgeschichte Frankreichs, Englands und Deutschlands. Darüber, ob diese Länder europäisch repräsentativ sind, ließe sich trefflich streiten, etwa in Bezug auf die spanische Rechtstradition. Europäische Vollständigkeit war allerdings offenkundig unmöglich. Insgesamt kann man deshalb die Auswahl der Verfasserin mittragen. Das erste Kapitel (S. 44ff.) ist der Geschichte des Problems in der Überlieferung des Kirchenrechts und der mittelalterlichen Kanonistik, das zweite Kapitel ist der französischen Verfassungsgeschichte gewidmet (S. 81ff.). Das dritte Kapitel befasst sich mit der Geschichte des Problems im englischen Recht (S. 151ff.). Das vierte Kapitel ist schließlich den deutschen Territorien gewidmet. Hier beginnt die Darstellung mit den ersten Problemthematisierungen in der aufgeklärten absolutistischen und frühkonstitutionellen Tradition zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert und geht anschließend zu den konstitutionellen Formulierungen und deren rechtsstaatlichen Interpretationen, vor allem bei der Paulskirche-Verfassung und deren Wirkungsgeschichte, über. Ein fünftes Kapitel (S. 327ff.) fasst in einem historischen Vergleich die wesentlichen Ergebnisse der jeweiligen Untersuchungen zusammen. Diese gesamte historisch-vergleichende Auswertung wird ihrerseits am Ende dieses ersten Teils zusammengefasst (S. 338-339). Ein zweiter Teil der Gesamtuntersuchung (S. 340-390) geht der aktuellen verfassungsrechtlichen Problematik in vergleichender Sicht nach. Hier stehen einige Länderberichte im Vordergrund. Ein erstes Kapitel ist der rechtlichen Konkretisierung des Gebots des gesetzlichen Richters „im gerichtsexternen Bereich“ gewidmet (S. 343-367). Ein zweites Kapitel gilt der Konkretisierung dieser Garantie „im gerichtsinternen Bereich“ (S. 369-384). Auch hier wird der deutsche, englische und französische Rechtsvergleich durch eine Zusammenfassung der Ergebnisse am Schluss kurz festgehalten (S. 386-390). Der dritte Teil der Arbeit erfasst die europäische Rechtsentwicklung und die hier erfolgte Verankerung der Garantie des gesetzlichen Richters (S. 391-480). Im Vordergrund des „Europarechts“ steht in einem ersten Kapitel die Darstellung des Problems im Recht und in der Judikatur der europäischen Menschenrechtskonvention (S. 391-444) sowie in einem zweiten Kapitel das europäische Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union (S. 446-479). Auch hier werden die rechtsvergleichenden Ergebnisse am Schluss (S. 480) zusammengefasst. In einem Schlusswort (S. 481-488) werden die Ergebnisse der gesamten Untersuchung noch einmal im Überblick thesenartig zusammengestellt.

 

Der Informationsreichtum der einzelnen Abschnitte ist z. T. ganz beeindruckend. Vor allem die historischen Kapitel zur Entwicklung des Problems in der mittelalterlichen Kanonistik sowie in der französischen, in der englischen und in der deutschen Rechtsgeschichte stellen eine Fundgrube für den Leser dar, welcher an verfassungshistorischen Fragen interessiert ist. Die jeweiligen Kapitel erreichen die Qualität und den Umfang von selbständigen und regelrecht monographischen Untersuchungen. Man erwähne hier nur das zweite Kapitel des ersten Teils, welches der französischen Rechtsentwicklung gewidmet ist (S. 81-150). Es handelt sich um eine regelrecht monographische Darstellung der Auseinandersetzungen im Frankreich des Ancien Régime zwischen königlichem Absolutismus und Rechtsunterworfenen. Die Konfliktprobleme in der königlichen Justizorganisation, nicht zuletzt durch den Einsatz der königlichen Kommissionen beim Ausbau der zentralen Königsmacht (1610-1715) und im Spätabsolutismus (1715-1789), werden im Einzelnen dargestellt. Dasselbe gilt für die Auseinandersetzungen zwischen der Zentralmacht und der ständischen Opposition bei den Beschwerden der Parlamente in Justizsachen. Ähnliches lässt sich etwa zum vierten Kapitel sagen, welches der Entwicklung in den deutschen Territorien zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert gewidmet ist (S. 214-325). Auch im modernrechtlichen Teil zeigt sich die Verfasserin außerordentlich gut informiert. Die Darstellung der Rechtslage bei den völkerrechtlichen Gerichtshöfen und vor allem im Hinblick auf das europäische Gemeinschaftsrecht, ist präzise und äußerst aktuell dokumentiert. Einiges sei zu den wesentlichen Ergebnissen der umfangreichen Untersuchung zusammenfassend gesagt. Ausgangspunkt der Suche nach einem europäischen Ursprung der Geschichte der Garantie des gesetzlichen Richters war die im kanonischen Recht (C.2.q.1.c.7) verankerte Festlegung der Gerechtigkeitsfunktion des „ordo iudiciarius“: Das verfahrensrechtlich fehlerhafte Urteil ist nach dem Selbstverständnis des gelehrten Prozessrechts nichtig. Die Unzuständigkeit des Richters führt hier deshalb zur Nichtigkeit seines Urteils (X.2.1.4). In der französischen und in der englischen Rechtsgeschichte findet man andere Formulierungen des Problems, aber auch eine andere historische und verfassungsrechtliche Verwurzelung desselben. Die französische Idee des „juge naturel“ wurzelt nach Ansicht der Verfasserin vor allem in der Konfliktlage zwischen monarchischem Zentralismus und ständischem Selbstverwaltungswillen, vor allem bei den Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Parlamenten zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. Der ständische Widerstand gegen den in den königlichen Kommissionen realisierten absolutistischen Zentralismus gibt das Substrat an der Vorstellung des „juge naturel“ als Gegenbegriff zu den „commissions speciales“ an. Dies ist nach den Feststellungen der Verfasserin noch in den Formulierungen bei den gesetzlichen Bestimmungen von 1719 und bei der Charte constitutionnelle von 1814 zu erkennen. Der gesetzliche Richter sei also im französischen Verständnis vor allem als Gegenbegriff zum „Kommissar“ zu sehen und illustriere insoweit eine Kontinuität zwischen den ständischen und den konstitutionellen Formulierungen des Problems. Die auf Volkssouveränität gegründeten Formulierungen in den späteren französischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts lehnen sich sprachlich an diese Tradition an. Der gesetzliche Richter sei in der französischen Verfassungstradition der Gegenbegriff zu Kommissionen und Ausnahmegerichten. Die englische „Rule of Law“ geht dagegen nach den Feststellungen der Verfasserin von der einzigartigen Legitimation des Common Law als von altersher nicht verfügbaren und unantastbaren Rechtsmasse aus. Durch die bereits im Mittelalter erfolgte Zentralisierung stehen der absolutistischen Justizhoheit der Gerichte von Common Law keine dezentralen ständischen Selbstverwaltungsrechte entgegen. Eine der französischen Verfassungsgeschichte vergleichbare Konfliktlage zwischen ständischer Selbstverwaltung der Justiz und monarchischem Zentralgericht sei insoweit in der englischen Entwicklung unbekannt. Die Justizhoheit realisiert sich hier nach den Beobachtungen der Verfasserin in den zentralen Common Law-Gerichten. Der Kampf gegen die im Jahre 1641 abgeschafften „Star Chamber“ und „Court of High Commission“ stellt deshalb nach den Feststellungen der Verfasserin die Common Law-Opposition gegen den Stuart-Absolutismus dar und insoweit den Vorrang des Rechts (Common Law) vor der monarchischen Prärogative (royal prerogative). Dieser Vorrang sei zugleich das Zeichen des Primats des Rechts (Supremacy of Law) nach dem historischen traditionellen Selbstverständnis des Common Law. Deshalb seien das Primat des Rechts und des Common Law Ausdruck der staatstragenden Balance zwischen im Common Law garantierten Recht der Untertanen und dem Königtum. Die Striktheit und die Regelbindung des Common Law garantiere die sachliche Unabhängigkeit der englischen Gerichte und Richter. Deren persönliche Unabhängigkeit wurde bereits 1701 festgehalten (Act of Settlement). Die deutsche Verfassungsgeschichte unterscheide sich grundlegend von solchen Entwicklungen in Frankreich und in England, und zwar vor allem durch das Machtvakuum bei der Reichsgewalt. Staatsbildung und Zentralisierung der Justizverwaltung setze sich auf der Ebene der Territorialstaaten durch. Das Primat der Gesetzgebung bei dem Ausbau des Territorialstaats habe ein neues Verständnis der Richterentscheidung zur Folge: der Rechtsspruch des ordentlichen Richters ist nicht nur formal-institutionell, sondern auch inhaltlich vom Machtspruch des Landesherrn verschieden. In dieser Tradition stehen auch die frühkonstitutionellen Garantien als landesherrliche Gewährleistungen kraft monarchischer Justizhoheit. Als positivrechtliche staatliche Zusagen, auf Kabinettjustiz zu verzichten, schaffen sie keinen vorstaatlichen, subjektiven Freiheitsraum. Unter dem Einfluss der polizeistaatlichen Repressalien der Restaurationszeit habe erst das von der kantischen Philosophie beeinflusste liberale Schrifttum die rechtsstaatliche Konzeption des Rechts auf den gesetzlichen Richter entwickelt. Diese gehe in die Reichsverfassung von 1849 ein und präge die spätere verfassungsgeschichtliche Entwicklung. Die Selbstbindung der Justizhoheit des aufgeklärten Absolutismus und Frühkonstitutionalismus werde insoweit 1848/49 von der konstitutionellen Beschränkung der Justizhoheit durch den gerichtsverfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt verdrängt. Dies sei dann mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 näher ausgestaltet worden. Der Ursprung der deutschen Formulierungen einer Garantie des gesetzlichen Richters im Konflikt zwischen dem aufgeklärt-absolutistischen Landesherrn und den anderen Trägern hoheitlicher Gewalt hilft deshalb nach Ansicht der Verfasserin, die ausschließliche Einordnung des Art.101 Abs.1 S.2 GG als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips zu korrigieren. Die frühkonstitutionellen Garantien des gesetzlichen Richters sind nach ihren Befunden in der deutschen Verfassungstradition nicht Ergebnis einer rechtsstaatlichen Gewaltenteilung, sondern „Richtungsbegriffe“ für die Anpassung der überlieferten Rechtsverhältnisse an den liberalen Rechtsstaatsgedanken. Die eigentliche Auseinandersetzung und die Garantie des gesetzlichen Richters waren damals bereits abgeschlossen. Dies offenbart, dass die Garantie des gesetzlichen Richters in der deutschen Verfassungsgeschichte einen nicht rechtsstaatlichen Ursprung habe. In dieser Hinsicht erscheint nach Ansicht der Verfasserin die extensive Interpretation von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im gerichtsinternen Bereich korrekturbedürftig. Nicht jeder, sondern nur ein willkürlicher Verstoß gegen das Vorausbestimmungserfordernis der Geschäftsverteilung bei der Spruchkörperbesetzung stelle eine Verletzung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters dar. Die Überbewertung des Rechtsstaatsprinzips bei den deutschen verfassungsrechtlichen Anforderungen bei den Geschäftsverteilungsplänen eines Spruchkörpers zeige sich auch im Kontext der gemeinsamen europäischen Verfassungstradition. Sowohl die französische als auch die englische Gerichtstradition verstünden diese Garantie vor allem in dem Sinne, dass die Errichtung eines Gerichts eines Gesetzes bedarf. Im gerichtsinternen Bereich sei eine gemeinsame europäische Verfassungstradition zu verneinen. Die Erweiterung der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG stelle insoweit nach den Feststellungen der Verfasserin einen deutschen Sonderweg nach 1945 dar, vor allem vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Untaten auch in der Rechtspflege. Die gemeinsame europäische Verfassungstradition und das Selbstverständnis der Garantie des gesetzlichen Richters führe dagegen im aktuellen Recht zu einem europäischen Konsens gegen Ausnahmegerichte. Die Einrichtung eines Gerichts bedürfe eines Gesetzes. Die interne Gerichtsorganisation sei allerdings weder im französischen noch im englischen Verfassungsverständnis damit gemeint. Damit wird übrigens auch das Unverständnis begreifbar – fügt der Rezensent hinzu -, womit manche deutschen Vorstöße am Europäischen Gerichtshof gegen dessen Geschäftsverteilungspraxis vor einigen Jahren aufgenommen wurden.

 

Die Ergebnisse der Verfasserin schlagen einen großen Bogen von den Anfängen eines rationalen Prozesses in der mittelalterlichen Kanonistik bis zu den Diskussionen zur Angemessenheit des Geschäftsverteilungsplans des Europäischen Gerichtshofs. Am Ende der Lektüre ist der Leser vom Reichtum an Einsichten und Einblicken in diese gemeinsame europäische Geschichte des Problems beeindruckt. Das Buch hat bereits im Ausland eine sehr positive Aufnahme erfahren (siehe S. Salmonowicz, in: Revue historique du droit français et étranger 2003, S.380-381). Es dürfte auch zur obligaten Lektüre bei künftigen Untersuchungen zur europäischen Verfassungs- und Justizgeschichte werden.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri