Töngi, Claudia, Geschlechterbeziehungen

und Gewalt. Eine empirische Untersuchung zum Problem von Wandel und Kontinuität alltäglicher Gewalt anhand von Urner Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts. Haupt, Bern 2002. VIII, 164 S., graph. Darst. Besprochen von Arndt Duncker.

DunckerTöngi20040917 Nr. 11089 ZRG GA 122 (2005) 58

 

 

Töngi, Claudia, Geschlechterbeziehungen und Gewalt. Eine empirische Untersuchung zum Problem von Wandel und Kontinuität alltäglicher Gewalt anhand von Urner Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts. Haupt, Bern 2002. VIII, 164 S., graph. Darst.

 

Die Arbeit Töngis umfaßt eine in erster Linie quantitative Auswertung regionaler fallbezogener strafrechtsgeschichtlicher Quellen aus den Jahren 1803-1885. Neben der Hauptuntersuchung (S. 1-70) fällt ein umfangreicher Tabellenanhang (S. 83-164) ins Auge, in welchem in übersichtlicher Form zentrale Ergebnisse der Studie präsentiert werden. Die vorliegende Kurzuntersuchung steht im Zusammenhang zweier größerer Projekte: Sie ist einerseits als Vorarbeit zu Töngis (von Martin Schaffner betreuter) Dissertation „Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt, Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts“ zu verstehen, die (S. V) „einen qualitativen Ansatz der quellennahen Rekonstruktion der verschiedenen Gewaltpraktiken, -situationen und ihrer kulturellen Bedeutungen“ verfolgen soll. Weiterhin ist Töngis Arbeit ein Projekt im Rahmen des schweizerischen Nationalfondsprogramms (NFP) 40 „Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität“.

 

Hauptverdienst der vorliegenden Publikation ist sicherlich die umfassende Erschließung eines bisher nur archivalisch vorliegenden Quellenbestandes zur Gewaltkriminalität des 19. Jahrhunderts im Kanton Uri. Ausgewertet wurden die Akten der gerichtlichen Untersuchungsbehörde dieses Kantons, des Verhöramts (bzw. seiner Vorläuferinstanzen), und zwar sämtliche Dossiers zu körperlichen Gewalthandlungen, insgesamt 488 Fälle. Die denkbaren Fragestellungen, mit der sich diese Fälle behandeln ließen, könnten höchst unterschiedlicher Natur sein: im engeren Sinne juristisch-rechtshistorischer, geschichtswissenschaftlicher, soziologischer, kriminologischer, feministischer oder psychologischer Art. Töngi, eine ausgebildete Historikerin und Philologin, entscheidet sich in der vorliegenden Teiluntersuchung für eine quantitative sozialhistorische Übersicht (S. 32-53, 83-164) und ergänzt diese durch die schlaglichtartige Betrachtung einiger inhaltlicher Teilaspekte, darunter auch solchen der historischen Geschlechterforschung (S. 57-66, hinzu kommt ein „Ausblick“, S. 67-70). Weitere Ergebnisse sind der eingangs erwähnten Dissertation vorbehalten.

 

Einleitend (S. 1-11) gibt Töngi einen Überblick über Positionen der Sekundärliteratur zur historischen Gewaltforschung und entwickelt daraus (S. 11) eine Begriffsbestimmung von Gewalt als „keine feststehende Konstante, sondern ein historisch-gesellschaftliches Konstrukt“, welches immer auf zugrundeliegende Verlaufs- und Verhaltensmuster der jeweils vorgefundenen Gesellschaft zurückbezogen werden müsse; Töngi verweist hierzu (S. 12, Fn. 35) auf einen in der gegenwärtigen Sekundärliteratur zur historischen Anthropologie häufig vertretenen, auf die ethnologischen Forschungsansätze Geertz’ zurückgehenden Kulturbegriff. Auf dieser Basis wird Gewalt mit der „zentrale(n) Deutungskategorie“ Geschlecht, mit der Konstruktion von „Vorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit“ verknüpft (S. 13). In erster Linie sollen Formen alltäglicher Gewalt untersucht werden, die u. a. Bezüge zur Geschlechterrolle aufweisen (S. 14).

 

Im Hauptabschnitt „strukturelle Aspekte der Gewaltdelinquenz in Uri im 19. Jahrhundert“ (S. 17-55) wird zunächst das Quellenmaterial beschrieben und abgegrenzt. Die hierauf folgende quantitative Untersuchung ergibt folgende Befunde:

 

Die Deliktrate nimmt im Laufe des Jahrhunderts immer weiter zu, sowohl in absoluten Zahlen als auch pro Kopf der Wohnbevölkerung. Dies muß nicht zwingend auf eine Zunahme der Gewalt deuten. Auch andere Gründe sind denkbar, z. B. eine gesteigerte Anzeigebereitschaft oder effektivere Strafverfolgung. Täter und Opfer kommen überproportional stark aus der Gruppe der jungen Männer. Bedingt durch den wirtschaftlichen Wandel sind es aber im Laufe des Jahrhunderts unterschiedliche Gruppen, die besonders stark repräsentiert sind: zunächst Bauern, dann zunehmend Handwerker, später auswärtige Bahnarbeiter. Eine Sondersituation ergibt sich bei den Opfern sexueller Gewalt. es handelt sich fast nur um Frauen, und mehrheitlich um ledige junge einheimische Frauen aus der Unterschicht, z. B. Dienstmägde.

 

Der Gewalt zugeordnet werden bestimmte Leitbegriffe, so z. B. Ehre und Eigentum (S. 57f.) für die Austragung von „Ehr- und Schlaghändeln“ unter verheirateten Männern auf dem Lande, Nachtruhestörung und Ordnungspolitik (S. 58-61) für Streitigkeiten zwischen jungen Männern, oft verknüpft mit Wirtshausbesuchen. Hinsichtlich von Frauen und Gewalt (S. 61f.) ist zwischen männlichen und weiblichen Tätern zu differenzieren. Körperliche Gewalt von Männern gegen Frauen in Form von „Ehr- und Schlaghändeln“ galt als unehrenhaft, in Form einer gewissermaßen pädagogischen Bestrafung oder auch einer massiven Gewaltanwendung als Reaktion auf eine Ehrverletzung dagegen habe sie einem gesellschaftlichen Rollenmuster gefolgt. Gewalt zwischen Frauen dagegen sei im Vergleich zu Gewalt zwischen Männern oft von Beleidigungen begleitet gewesen. In Ehe und Familie (S. 63-65) war die Gewalt gegen Ehefrau und Kinder gerichtet. Angesichts gesellschaftlicher Akzeptanz solcher Gewalt und unterstellter sog. Züchtigungsrechte muß davon ausgegangen werden, daß Schläge gegen die Ehefrau nur selten zur Anzeige kamen und Schläge gegen Kinder fast nie. Auch in einer vorrangig soziologischen Arbeit hätte ein historischer Primärquellennachweis der insoweit für Uri angenommenen Züchtigungsrechte erfolgen müssen. Dieser unterbleibt leider, der bloße Hinweis auf „einen Diskurs, der von einem hierarchischen Ehemodell ausging“ (ohne jeden näheren Nachweis, S. 63) ist unexakt. Aufschlußreich hingegen ist, daß Gewalt des Ehemanns typischerweise in der Situation eines befürchteten Autoritätsverlusts ausgeübt wurde, also nicht ein Zeichen der Stärke, sondern eher ein Zeichen der Schwäche darstellte. Was schließlich sexuelle Gewalt (S. 65f.) betrifft, so war diese nach dem historischen Befund typischerweise mit alltäglichen Nahbeziehungen - wie Arbeitsverhältnissen - verknüpft und wurde regelmäßig von einem sozial oder wirtschaftlich überlegenen Mann gegen eine ihm unterlegene Frau, z. B. eine Dienstmagd, ausgeübt. Hieraus ließe sich möglicherweise folgern, daß es den Tätern eher um Machtausübung als um die Befriedigung ihrer Triebe ging. Hinzu sei (S. 66) eine soziale und juristische Konstruktion des Vergewaltigungsbegriffs gekommen, welche die meisten Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen ausgegrenzt und bagatellisiert habe. Abschließend (S. 67-71) verweist Töngi auf weiterführende sozialgeschichtliche Verknüpfungen von Alltagsgewalt.

 

Insgesamt ist in ihrem kurzen Bericht, der ja nur eine Vorarbeit zur Dissertation bilden soll, der kurze Abschnitt auf S. 57-66 sicherlich zentral. Die dortige Bildung von typischen Gewaltkategorien ist in sich konsistent, nachvollziehbar und wird recht überzeugend dargelegt, wenngleich die Diskussion möglicher Gegenargumente weitgehend ausbleibt. In der einleitenden und abschließenden Bezugnahme auf Theorieansätze der Sekundärliteratur ist viel Fleiß erkenntlich. Gleichwohl läßt dieser Bereich eine gegenüber den zitierten Autoritäten eigenständige und kritische Theoriebildung nicht deutlich erkennen. Was die Aktenauswertung betrifft, hätte die beachtliche quantitative Untersuchung punktuell ohne weiteres noch gut durch eine Reihe von konkreten Fallbeispielen und Aktenzitaten ergänzt werden können, um die hier handelnden Menschen nicht nur als kühle Abstraktion auftreten zu lassen, sondern auch als Individuen, die mit eigener Stimme über das Erleben von Gewalt und die damit verbundenen Motivationen berichten. Doch muß eingeräumt werden, daß in einer bewußt als Teilergebnis publizierten Arbeit noch nicht das Endergebnis vorweggenommen zu werden braucht. Bereits die vorliegende quantitative Auswertung ist durchaus beachtlich und macht das Werk Töngis zu einer wichtigen Quelle für zukünftige Vergleiche mit anderen Regionen.

 

Hannover                                                                                  Arne Duncker