Unruh, Peter, Weimarer Staatsrechtslehre

und Grundgesetz. Ein verfassungstheoretischer Vergleich (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 68). Duncker & Humblot, Berlin 2004. 215 S. Besprochen von Walter Pauly.

Unruh, Peter, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz. Ein verfassungstheoretischer Vergleich (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 68). Duncker & Humblot, Berlin 2004. 215 S.

 

Ausgekoppelt aus seiner im Jahre 2002 erschienenen Habilitationsschrift „Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungstheoretische Rekonstruktion“ legt der Verfasser nun seine Vorstudien zu den Weimarer Klassikern vor, denen bekanntermaßen bis heute erhebliche Bedeutung in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft zukommt. Die Fragestellung der Studie geht dahin, die Relevanz der Lehren von Hans Kelsen, Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller für die grundgesetzliche Verfassungslehre zu überprüfen. Dazu wird zunächst die Verfassungstheorie des Grundgesetzes an Hand von Verfassungsbegriffselementen rekonstruiert, die sich aus der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ergeben sollen. Als „verfassungstheoretischer Basiswert“, der alle Verfassungsbegriffselemente zusammenhält, fungiert die Vorstellung individueller Autonomie (S. 26). Zu den geltungsorientierten formalen Strukturmerkmalen des Grundgesetzes rechnet der Verfasser u.a. die Herrschaftskodifikation qua Verfassung sowie deren Vorrang, Normativität und Universalität (S. 29ff.), zu den materialen Verfassungsbegriffselementen des Grundgesetzes etwa die repräsentative Demokratie, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Grundrechte und die Sozialstaatlichkeit (S. 37). Diese insgesamt sechzehn Merkmale bilden denn auch das Raster, das die Untersuchung der genannten Autoren strukturiert. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Keiner der Klassiker tauge zu einer „vollständigen Rekonstruktion der Verfassungstheorie des Grundgesetzes“, am nächsten komme ihr Heller, am entferntesten stehe Schmitt (S. 185f.).

 

Den Auftakt bildet Hans Kelsen, der, wie auch die anderen Autoren, zunächst im Ganzen kurz vorgestellt und dann auf die vom Verfasser herausgestellten Verfassungsbegriffselemente hin abgeklopft wird. Daß Autonomie für Kelsen kein rechtstheoretischer Basiswert und Volkssouveränität kein Strukturmerkmal von Verfassung ist, sondern beide Begriffe auf der rechtsinhaltlichen Ebene ressortieren, also positiv vorgesehen oder negiert sein können, hätte der Verfasser dabei klarer herausarbeiten können (S. 68ff.). Zu Recht betont wird die herrschaftskonstituierende Bedeutung, die Kelsen dem Recht zumißt, gipfelnd in der Identifizierung von Staat und Rechtsordnung. Selbstredend bereiten Vorrang und Normativität der Verfassung dem Theoretiker der scharfen Trennung von Sein und Sollen, der Adolf Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung rezipiert hatte, keine Probleme. Angelastet wird Kelsen dagegen, daß er die Unterscheidung zwischen dem pouvoir constituant und den pouvoirs constitués nicht hinreichend reflektiert habe (S. 76), mit der Folge mangelnder Schranken für Verfassungsänderungen. Dafür bietet Kelsens Demokratietheorie aber eine rechtspolitische Begründung parlamentarischer Demokratie, sogar unter Hervorhebung der Rolle der Parteien (S. 78), und legt seine Stufenbaulehre in der Tat eine Verfassungsgerichtsbarkeit nahe (S. 80ff.). Seine zunächst zu schlichte Grundrechtstheorie, derzufolge Freiheit aus fehlender staatlicher Ermächtigung resultiere und daher keiner Grundrechtsnormierung bedürfe, habe Kelsen später zumindest abwehrrechtlich aufgebessert (S. 84f.). Das Fazit erkennt folglich denn auch nur auf eingeschränkte Verwendbarkeit (S. 87).

 

Demgegenüber scheitere eine Rezeption der Verfassungslehre von Carl Schmitt nahezu vollumfänglich an dessen antiliberaler, antipluralistischer und antiparlamentarischer Grundhaltung, weshalb schon seiner Analyse der Weimarer Verfassungsrechtslage ein polemischer Charakter anhafte (S. 101). Schmitts Absetzung eines positiven Verfassungsbegriffs vom Verfassungsgesetz löse die Normativität der Verfassung auf und bewirke eine dauerhafte, mit dem normierten Verfassungsrecht konkurrierende Präsenz der verfassunggebenden Gewalt (S. 109f.). Die hierdurch bewirkte Dynamisierung und Entfernung von einem durch verfassungsgesetzlichen Katalog unabänderlich gestellten Kerngehalt belege auch die Kluft gegenüber Art. 79 Abs. 3 GG (S. 114), für den bevorzugt auf Schmitts gedankliche Vaterschaft verwiesen wird. Weiteren Abstand zur grundgesetzlichen Verfassungstheorie begründen Schmitts Skepsis gegenüber einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die eben nicht Justiz, sondern politische Gewalt sei (S. 127), seine auf substanzhafte Homogenität ausgehende identitäre Demokratietheorie und Ablehnung des Menschheitsgedankens (S. 119ff.) sowie eine gnadenlose Relativierung von Autonomie und Menschenwürde zugunsten der Belange und Entscheidungen der politischen Einheit (S. 105).

 

Auch Smend verfehle das Prinzip autonomer Selbstbestimmung, da die bei ihm zentrale Vorstellung von Integration auf den Staat und damit letztlich auf die Sphäre des objektiven Geistes ausgerichtet sei, in der Individuen lediglich eine Teilnehmerrolle zugebilligt werden könne (S. 142). Entsprechend fänden sich bei Smend die Gedanken von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt des Volkes als trägerbezogener Emanatismus zurückgewiesen (S. 143). Damit würde auch eine umfassende Herrschaftskonstitution durch abstrakt-rechtliche Verfassunggebung ausscheiden (S. 144), offensichtlich im Widerspruch zum beliebten literarischen Rekurs auf Smend für den Satz, es gebe nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiere. Indem Smend den Integrationswert der Verfassung gegen deren Rechtswert ausspiele, gingen im Ergebnis Vorrang und Normativität der Verfassung verloren (S. 146). Integrationistisch und nicht hinreichend juristisch falle demnach auch Smends Konzeption des Parlamentarismus, der Grundrechte und der Verfassungsgerichtsbarkeit aus. Angesichts der unübersehbaren Bedeutung der „Smend-Schule“ in der frühen Bundesrepublik mag die hier gezogene Göttinger Negativbilanz zwar überraschen, überzeugt jedoch, untermauert durch Smends spätere Selbstkritik (S. 141).

 

Kritik trifft zunächst auch Heller, dessen dialektisches Verständnis von Normativität und Normalität unweigerlich die Normativität und den Vorrang der Verfassung auflöse (S. 169f.). Die Geltung der Verfassung werde zu stark von tatsächlichen Gegebenheiten abhängig gemacht und nach Maßgabe der jeweiligen Verwirklichung von kulturkreisbedingten, wandelbaren ethischen Rechtsgrundsätzen bestimmt. Lob gilt der Verteidung der Verbindung von Demokratie und Parlamentarismus, namentlich gegen Carl Schmitt (S. 173), wie auch der Einsicht in die Funktionsbedingung „soziale Homogenität“, die erst das erforderliche und in Weimar absente „Wir-Bewußtsein“ dauerhaft stifte (S. 175). Jedoch nicht nur zur Herstellung und Bewahrung der politischen Einheit, sondern auch zur Sicherung der individuellen Selbstbestimmung erschien Heller der Übergang vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat unerläßlich (S. 181). Den über den Sozialstaatsgedanken hinausgreifenden „sozialistischen Vorstellungen“ bei Heller sei das Grundgesetz allerdings nicht gefolgt (S. 182).

 

Die geschilderte Befragung der Weimarer Klassiker, die nach den angelegten Maßstäben und der Summe des Buches jedenfalls partiell von „Weimarer Verfassungsfeinden“ sprechen ließe, mag als unhistorisch abgetan werden. Sie ist jedoch überaus originell und ertragreich im Sinne einer Präzisierung der Werkverständnisse. Das überschaubare Buch ist damit äußerst inhaltsgeladen. Die nach Art richterlicher Strafzumessung formulierten Bewertungen (S. 186 zu Smend: „Besonders schwer wiegen die Verabsolutierung [!] der Integrationsfunktion der Verfassung ...“) erhöhen den Lesespaß ungemein.

 

Jena                                                                                                                           Walter Pauly