Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte
Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4 Vom Beginn des ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. Beck, München 2003. XXIV, 1173 S.
Die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ Wehlers über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer und die NS-Zeit sowie die unmittelbare Nachkriegszeit kann des Interesses auch der Rechtsgeschichte gewiss sein, da eine solche ohne Einbeziehung der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Epochen kaum möglich erscheint. Wehler geht weiterhin aus von den drei in Band 1 (hierzu Rez., ZRG GA 106 [1989], S. 546ff.) näher erläuterten Grunddimensionen der geschichtlichen Entwicklung: Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, zu denen jetzt noch die Sozialstruktur (System der sozialen Ungerechtigkeit) hinzu kommt. Dieter Grimm hat 2000 eine „Anfrage an den Autor“ gerichtet, ob das Recht nicht auch zu den Grunddimensionen gehöre: Es wäre dann möglich, „dass es sich um eine vergessene Grunddimension handelt“. Es lasse sich auch denken, „dass Recht etwas Viertes, bei Wehler nicht weiter Expliziertes ist“ (Grimm, in: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, hg. v. P. Nolte, M. Hettling, F.-M. Kuhlemann, H.-W. Schmuhl, München 2000, S. 56). Im Vorwort zum vorliegenden Band konzediert Wehler, das Postulat Grimms besitze „Überzeugungskraft“ (S. XVII). Allerdings sei er dem Recht „keineswegs zielstrebig“ ausgewichen, was für die bisherigen Bände zutrifft. Aber letztlich fühle er sich „doch der rechtlichen Problematik, die überdies in einer eigenen, komplizierten Fachsprache traktiert wird, nicht gewachsen. Insofern bildet das Recht keine ,vergessene Grunddimension’, wohl aber eine zu oft nur umrissene, manchmal vernachlässigte, im Prinzip nicht angemessen aufgewertete Dimension. Auf jeden Fall hätte diese Problematik explizit erörtert werden müssen“ (S. XVIII). Daher bleibe die Einbeziehung des Rechts im Sinn einer fünften „Achse“ eine „herausfordernde Aufgabe für einen auf Synthese zielenden Autor“. Der Hinweis auf die „eigene, komplizierte Fachsprache“ des Rechts ist wohl kaum ernsthaft gemeint, da ein Sozialhistoriker in der Lage sein sollte – und Wehler ist dies auch in vollem Umfang, wie etwa die Erörterung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung zeigt (S. 351f.) -, den sozialgeschichtlichen Gehalt der rechtsgeschichtlichen Entwicklungen zu kennzeichnen.
Nur darum kann es bei einer Sozialgeschichte gehen, nicht um rechtsdogmatische Feinstrukturen oder rechtsautonome Entwicklungen (hierzu Grimm, S. 51, 56 m. w. N.). Im übrigen hat Wehler Recht daran getan, sich auf eine detaillierte Diskussion, ob das Recht eine „fünfte Dimension“ darstellen soll, nicht einzulassen. Es dürfte in einer modernen Gesellschaftsgeschichte, die mit kurzen Zeiträumen arbeitet, angemessen berücksichtigt sein, wenn die wichtigsten rechtlichen Entwicklungen bei den vier Grunddimensionen herausgestellt werden unter Berücksichtigung der zunehmenden Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche auch unter dem Nationalsozialismus. Weitergehende Dimensionen des Rechts lassen sich nur in einer zeitlich und methodisch breiter angelegten Rechtsgeschichte erfassen, wie dies etwa auch für die Philosophie- und Literaturgeschichte und weitere Wissenschaften zutreffen dürfte. Im übrigen hat Wehler in den vorhergehenden Bänden, wie er meint (S. XVIII) das Recht „nicht zu knapp“ erörtert, wenn auch einige Regelungsbereiche wohl etwas zu kurz gekommen sind. Das erstere gilt auch für den neuen Band, der etwa wiederholt auf das Weimarer Arbeits- und Sozialrecht hinweist, auch auf die Aufhebung des Gesinderechts 1918 und die Änderung des kaiserlichen Vereinsrechts (S. 91, 168, 187, 255, 325). Nicht näher erwähnt sind die straf- und familienrechtlichen Reformentwürfe der Weimarer Zeit, die sehr breit diskutiert wurden und an welche die Zeit der frühen Bundesrepublik wieder angeknüpft hat. Auch fehlt der Hinweis auf die Abschaffung der Schwurgerichte durch die lex Emminger 1924 als reine Laiengerichte, womit eine der wichtigsten liberalen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Für die NS-Zeit sind die Unrechtsgesetze wie das sog. Blutschutzgesetz usw. hinreichend erwähnt. Zu kurz kommen dagegen Gesetze, die zwar auch nationalsozialistisches Gedankengut enthalten, aber zugleich in der Tradition der Weimarer Reformdiskussion stehen, beispielsweise das Aktiengesetz von 1937, dessen Reformen sich erst in der frühen Bundesrepublik voll entfalten konnten, und das Ehegesetz von 1938, das zwar keine langfristige Erhöhung der Ehescheidungszahlen brachte (so Wehler S. 788), das aber durchaus von nicht ganz zu unterschätzender sozialhistorischer Bedeutung war. Mit Recht weist Wehler darauf hin, dass in der NS-Zeit das „Stigma der außerehelichen Geburt“ (S. 753) bekämpft worden sei, ohne aber den unterschriftsreifen, nur von Hitler verworfenen Unehelichenrechtsentwurf von 1940 zu erwähnen. Insgesamt wird die Rolle der Justiz in der Weimarer Zeit und in der NS-Zeit – vielleicht etwas wenig differenziert – sehr negativ bewertet (S. 364). Die von Wehler S. 726 angesprochene Ausschließung von Rechtsbeiständen von der mündlichen Verhandlung (vgl. § 157 ZPO i. d. F. vom 20. 7. 1933) geht vollinhaltlich auf den § 255 des ZPO-Entwurfs von 1931 zurück, beruht also nicht ausschließlich auf nationalsozialistischem Gedankengut (anders bei dem heute sehr umstrittenen Gesetz vom 13. 12. 1935 zur Verhütung von Missbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung). S. 728f. weist Wehler auf die verhängnisvolle Rolle hin, die Hochschuljuristen wie Carl Schmitt, Forsthoff, E. R. Huber, Höhn, Larenz, Maunz, Eckhardt und Koellreuter gespielt haben. In diesem Zusammenhang ist auch sein Urteil über die Jurisprudenz als „regimekonforme Afterwissenschaft“ (S. 787) zu sehen. Ungenau ist S. 673, dass es seit dem Frühjahr 1940 im Reichsjustizministerium „weit gediehene Überlegungen zu einem Gesetz zur ,Behandlung Gemeinschaftsfremder’“ gegeben habe, das an die Stelle des geheimen Führererlasses zur Euthanasie treten sollte. Diese Überlegungen gingen vielmehr von der SS und dem Reichsinnenministerium aus, das Reichsjustizministerium reagierte auf den Gesetzentwurf zunächst sehr verhalten bis ablehnend (hierzu zuletzt M. Willing, Das Bewahrungsgesetz [1918-1967], 2003, S. 187ff.). Erst unter dem Reichsjustizminister Thierack machte das Ministerium weitgehende Konzessionen an die SS.
Diese wenigen Hinweise schmälern jedoch keineswegs den Gesamteindruck, dass Wehler über die rechtlichen Entwicklungen, soweit sie sozialhistorisch bedeutsam sind, durchweg zuverlässig unterrichtet. Von besonderem Interesse für den Rechtshistoriker (zum Gesamtwerk U. Herbert, in: Süddeutsche Zeitung, Literaturbeilage vom 6. 10. 2003, S. 32 f.; R. J. Evans, Frankfurter Rundschau, Literaturbeilage vom 8. 10. 2003, S. 15) dürften die Passagen über die Deutung der nationalsozialistischen Herrschaft als „totalitäre Revolution“ (Gesinnungsrevolution, S. 597ff.) sein, die allerdings nur zu einer partiellen Aushöhlung der überkommenen Rechtsordnung, keineswegs zu deren vollständiger Zerstörung führte. Zu der von Dahrendorf 1968 ausgelösten Debatte, die Führerdiktatur habe zu einer Modernisierung der deutschen Gesellschaft geführt, weist Wehler darauf hin, dass manche Modernisierungstrends „wie von der Führerdiktatur völlig unberührt“ weiter gelaufen seien. Dies gilt etwa (mit Einschränkung) für die mit der Verreichlichung der Justiz verbundenen Reformen etwa im Bereich des Grundbuchrechts und des Notariats sowie des Wirtschafts- und des Steuerrechts. Für die Zeit nach 1945 weist Wehler die allzu griffige, schon früh geprägte Formel von der „Restauration“ zurück. Es sei „falsch oder zumindest irreführend, von einer Tabula-Rasa-Zäsur auszugehen, nach der die Restauration einer überlebten Ordnung partout vermieden werden müsse. Vielmehr setzte sich die Kontinuität des ökonomischen Systems und seine Organisationsprinzipien über den Einschnitt von 1945 hinweg weiter durch“ (S. 974f.). Dies gilt vor allem für das Wirtschaftsrecht, während die Änderungen des Familienrechts (Gleichberechtigung von Mann und Frau; Nichtehelichenrecht) bereits auf das Grundgesetz zurückgingen bzw. von diesem vorgegeben waren.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass das Sachregister der Themenvielfalt des Werkes nicht ganz gerecht wird, während das Personenregister keine Wünsche offen lässt. Der platzsparend gedruckte Anmerkungsapparat erschließt sich dem Leser nur mit einiger Mühe. Insgesamt unterrichtet Band 4 der Gesellschaftsgeschichte zuverlässig über die auch für den Rechtshistoriker relevanten sozialgeschichtlichen Entwicklungen über die Zeit des Ersten Weltkriegs, für welche allerdings die sozialgeschichtlichen Details gegenüber den beiden ersten Teilen des Werkes etwas knapper ausfallen.
Kiel Werner Schubert