Rexroth, Frank, Das Milieu der Nacht.

* Obrigkeit und Randgruppen im mittelalterlichen London (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 153). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999. Besprochen von Eva Schumann. ZRG GA 118 (2001)

SchumannRexroth20000914 Nr. 10030 ZRG 118 (2001)

 

 

Rexroth, Frank, Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im mittelalterlichen London (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 153). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999. 450 S., 4 Abb., 2 Kart.

Die von Michael Borgolte an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt‑Universität betreute und 1998 mit dem Preis für hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses vom Verband der Historiker Deutschlands ausgezeichnete Habilitationsschrift untersucht ‑ wie der Untertitel darlegt ‑ das Verhältnis von Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London. Der Titel bezeichnet die vom Verfasser getroffene Umschreibung der von ihm unter dem Begriff „Milieu der Nacht“ zusammengefaßten Randgruppen. Als Ausgangspunkt dienen ihm dabei die von dem Londoner Stadtschreiber John Carpenter im Jahre 1419 im Liber Albus aufgezeichneten Texte zur städtischen Verfassung und Verwaltung, die in einem Abschnitt ‑ laut Verfasser „für moderne Leser schockierend“ ‑ Bestimmungen zu „Juden, Aussätzigen und Schweinen, die aus der Stadt zu entfernen sind“, „über starke Bettler in der Stadt“ sowie über „Huren und andere, die beim Ehebruch ergriffen worden sind“, enthalten. Den „Assoziationen des Schreibtischtäters Carpenter“ will der Verfasser näher auf die Spur kommen, insbesondere der Frage nachgehen, warum in der Stadt unerwünschte Personen wie Aussätzige und starke, d. h. betrügerische Bettler in Zusammenhang mit Juden und Huren sowie in Verbindung mit streunenden Schweinen gebracht werden (S. 13f.). Er kündigt an, im nachfolgenden diese, „dem modernen Betrachter skurril anmutenden Assoziationen und vermeintlichen Merkmalsüber­einstimmungen“ der genannten Gruppen untersuchen und sich dabei der Erforschung von Randgruppen und Armut in der spätmittelalterlichen Stadt widmen zu wollen (S. 19).

Entgegen dieser Ankündigung beschränkt sich die dann folgende Untersuchung auf den starken Bettel einerseits und auf Huren, Ehebrecher, Kuppler, Zuhälter andererseits sowie auf Straftaten, die im Zusammenhang mit Bettel oder Prostitution auftreten. Nur am Rande finden sich Ausführungen zu Aussätzigen, so etwa die Aussage, daß außerehelicher Geschlechtsverkehr als Hauptinfektionsquelle für Lepra gegolten habe (S. 108). Zu den Juden stellt der Verfasser lediglich fest, daß in dem von ihm behandelten Zeitraum fast keine in London gelebt haben (S. 14, 18, 51). Als gemeinsames Merkmal der untersuchten Randgruppen will der Verfasser die vagierende nächtliche Aktivität ausmachen und sie daher unter dem Begriff „Milieu der Nacht“ zusammenfassen (S. 67). Mag dies vielleicht für den Bereich der Prostitution eine noch zutreffende Umschreibung sein, sind doch beim Bettel erhebliche Zweifel angezeigt.

Abgesehen von dem unglücklichen Titel sowie dem in der Einleitung angekündigten, jedoch später nicht so vollzogenen Untersuchungsgang vermag die Arbeit vor allem durch die Einbeziehung und Auswertung einer Vielzahl von Quellen, u. a. Privaturkunden und Testamenten, bislang unedierten Texten, Memoranden der Sitzungen des Bürgermeistergerichts sowie Protokollen des Aldermännerrats und des Gemeinen Rats, zu überzeugen. Die Zusammenführung einer Fülle von Details läßt ein lebendiges Bild vom spät­mittelalterlichen London entstehen.

Seine Untersuchung zur Randgruppenbildung und zur Bedeutung der städtischen Obrigkeit innerhalb dieses Prozesses gliedert der Verfasser in zwei Teile. Der erste Teil mit dem Titel „Der Wan­del der Denkformen im 14. Jahrhundert“ soll belegen, daß drei Krisen, der Ausbruch des Hundertjährigen Krieges 1338, die Große Pest 1348/49 sowie die Verfassungskrise von 1376 bis 1384, Anlaß für ausgrenzende Maßnahmen gegen Randgruppen gaben und damit zu einem historischen Wandel führten. Im zweiten Teil „Institutionen an der Grenze zum Milieu im 15. Jahrhundert“ untersucht der Verfasser drei Einrichtungen, die Bezirksversammlungen, die Armenfürsorge sowie die städtische Gerichtsbarkeit, die seiner Ansicht nach zur Ausgrenzung und Statusdegradierung der Randgruppen beitrugen.

Im ersten Kapitel des ersten Teils geht der Verfasser der These nach, daß unter dem Eindruck massiver Bedrohung von außen durch den Krieg mit Frankreich innenstädtische Randgruppen zum Symbol der Bedrohung erhoben wurden. Vor seiner Abreise nach Frankreich habe Edward III. im April 1338 den Stadtvätern das Mandat er­teilt, während seiner Abwesenheit Maßnahmen zur Sicherung des inneren Friedens in der Stadt zu ergreifen. Dies habe dazu geführt, daß sich innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Personen wegen Störung des Königsfriedens, insbesondere wegen Unterstützung der Prostitution oder spezifischer Gewaltdelikte, zu verantworten hatten.

Das zweite Kapitel widmet er der Großen Pest 1348/49 und deren Folgen für die Wirtschaft, aber auch für den sozialen Frieden durch eine Verknappung der Arbeitskräfte. Dies wiederum habe in den folgenden Jahren zu einer Bekämpfung des starken Bettels geführt. So wurde ein Verbot erlassen, körperlich unversehrten Bettlern, die lieber von Almosen als von Arbeit, also in Müßiggang und Sünde lebten, etwas zu geben. Darüber hinaus wurden Arbeitsfähige, die nicht arbeitswillig waren, mit Gefängnis bedroht. Als weitere Gründe für die Bekämpfung des starken Bettels nennt der Verfasser den als Folge der Pest ansteigenden Zustrom von fremden Bettlern sowie die Bedrohung der rechtmäßigen Armen, deren Almosen die starken Bettler verbrauchten und deren Existenz sie schädigten. Jedem starken Bettler drohte als Betrüger die einfache Prangerstrafe, wenn er ‑ obwohl arbeitsfähig ‑ sich als arm und krank darstellte, um sich sein Brot zu erbetteln und dadurch die Bevölkerung täuschte.

Im dritten und letzten Kapitel des ersten Teils macht der Verfasser den 1381 gewählten Bürgermeister John Northampton für die weitere Stigmatisierung und Diskriminierung der starken Bettler einerseits und der Huren, Kuppler, Zuhälter etc. andererseits verantwortlich. Er spricht insoweit von einer „Moralkampagne der Northampton‑Ära“ gegen die genannten Gruppen, deren Ausdruck ein Verbot des starken Bettels von 1381 sowie eine Verordnung über die Bestrafung von Hurenwirten, Kupplerinnen, Huren usw. von 1382 waren.

Der zweite Teil, der sich dem 15. Jahrhundert widmet, beginnt in seinem ersten Kapitel mit einer Beschreibung von Ablauf und Zweck der mindestens einmal jährlich stattfindenden Bezirksversammlungen. Das sog. wardemotum sei laut Definition des Stadtschreibers John Carpenter „die Versammlung des gesamten einberufenen Volkes eines Stadtbezirks im Beisein von dessen Haupt (nämlich des Aldermannes oder seines Stellvertreters) zum Zweck, Mängel zu berichtigen, schädliche Dinge zu beseitigen und den Nutzen des entsprechenden Bezirks zu fördern“ und entspräche dem, „was die Römer plebiscita und die Sachsen in alter Zeit folkesmot nannten“ (S. 215). Diese Bezirksversammlungen haben bereits durch die bloße Präsentation einer Person als betrügeri­schen Bettler, Vagabunden, Hure oder Kuppler deren Statusdegradierung innerhalb des Bezirkes bewirkt. Die Anklage einer Person vor dem versammelten Bezirk habe nicht in erster Linie eine Bestrafung derselben bezweckt, sondern die mit der auf Zeugen gestützten Anklage verbundene Diffamierung.

Im zweiten Kapitel zeigt der Verfasser am Beispiel der Armenfürsorge, wie zwischen verschämten und unverschämten Armen differenziert wurde. Zu ersteren zählt er verarmte oder gebrechliche Gildebrüder, die Aufnahme in den seit Beginn des 15. Jahrhunderts von den einzelnen Gilden errichteten Armenhäusern fanden. Sie erhielten dort einen abgeschlossenen Wohnraum mit eigener Feuerstelle sowie ein wöchentliches Almosen, so daß sie nicht auf Bettelei angewiesen waren. Da ihre Armut unverschuldet war, sollten sie Bestandteil der Mehrheitsgesellschaft bleiben. Hingegen fanden die unehrbaren Armen, wie Alkoholiker, Ver­schwender, Ehebrecher etc. keine Aufnahme in diesen Armenhäu­sern. Wer verschuldetermaßen arm war, habe außerhalb der Mehr­heitsgesellschaft gestanden und von ihr keine Fürsorge erhalten.

Der zweite Teil schließt in seinem dritten Kapitel mit der Darstellung der rechtlichen Maßnahmen gegen den starken Bettel und die Prostitution ‑ ein Kapitel, das gegenüber den beiden vorangehenden Kapiteln mit der Beschreibung der Statusdegradierung durch Bloßstellung in den Bezirksversammlungen und durch Nichtaufnahme in den Armenhäusern deutlich abfällt. Neben der Prangerstrafe wird noch der Entzug des Bürgerrechts und die Ausweisung aus der Stadt genannt. Zur Institutionalisierung der Bestrafung von Sexualdelikten sei darüber hinaus seit Beginn des 15. Jahrhunderts ein Register mit den Namen der Täter angelegt worden, das schon bald vornehmlich ein Verzeichnis von Zölibatsverstößen dargestellt habe, wobei dies zu Kompetenzstreitig­keiten zwischen der Kirche und der städtischen Obrigkeit geführt habe.

In einem umfangreichen Anhang finden sich neben einem Quellen- und Literaturverzeichnis auch Transkriptionen wichtiger Quellen sowie ein Personen‑ und Ortsregister, bedauerlicherweise jedoch kein Sachregister.

Insgesamt hinterläßt die Arbeit bei dem Rechtshistoriker einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits ist sie vor allem durch historische Fragestellungen geprägt, so daß der unmittelbare Erkenntnisgewinn für die Rechtsgeschichte sich in Grenzen hält, zumal der Verfasser hinsichtlich der rechtlichen Wertungen und Einordnungen wenig differenziert vorgeht. So arbeitet er nicht hinreichend heraus, daß gesunde und arbeitsfähige Bettler nicht wegen des Bettelns, sondern aufgrund des damit verbundenen Betrugs der Prangerstrafe zugeführt wurden. Straftaten aus dem Bereich der Prostitution werden mit anderen Delikten wie Ehebruch oder außerehelichem Verkehr in Konkubinaten sowie Zölibatsverstößen ohne die erforderliche rechtliche Differenzierung in einen Zusammenhang gestellt. Andererseits sind Arbeiten, die wie die vorliegende zahlreiche historische Details vermitteln und eine Fülle neuer Quellen erschließen, für die Forschung zur mittelalterlichen Stadtgeschichte durchaus verdienstvoll.

Leipzig                                                                                                                      Eva Schumann