Roth, Andreas, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914.

*Roth, Andreas, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte Band 7). Erich Schmidt, Berlin 1997. Besprochen von Rainer Möhler. ZRG GA 118 (2001)

MöhlerRoth20000206 Nr. 947 ZRG 118 (2001)

 

 

Roth, Andreas, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850-1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 7). Erich Schmidt, Berlin 1997. 460 S.

„In Hinterpommern geboren, Dorfschule besucht, Rüben gezogen, Soldat geworden, kapitulirt, zum Unteroffizier avanciert, Schreiben und knapp Rechnen gelernt, Rekruten dressiert, Sergeant geworden, Rekruten dressiert, Vize-Feldwebel, immer noch Rekruten dressiert, Zivilversorgungsschein und schließlich Polizeibeamter“ - so karikierte der sozialdemokratische „Vorwärts“ im Jahr 1892 den Typus eines uniformierten Vertreters der deutschen Staatsmacht im ausgehenden 19. Jahrhundert. Bereits damals jedoch hatte die Institution der „Polizei“ nicht nur einen bedeutenden Funktionswandel von einer „Wohlfahrtspolizei“ zu einem „nur“ inneren Sicherheitsorgan durchlaufen, sondern - vor allem im Bereich der Kriminalpolizei - auch eine rapide „Verfachlichung“ erfahren. Die in dem seit 1898 erscheinenden Fachorgan „Archiv für Kriminalanthropologie“ beschriebenen Anforderungen an einen Kriminalpolizisten der höheren Beamtenlaufbahn zeugen von dem gewandelten Berufsbild: „Ein Mann von hoher moralischer und physischer Widerstandsfähigkeit, der logisch zu denken und zu handeln vermag und über ein seiner Stellung entsprechendes juristisches und encyclopädisches Wissen verfügt neben weitgehendster Menschen- und Weltkenntnis“ (ArchKrim 1901, S. 311).

Der Autor des hier zu besprechenden Buches, Andreas Roth, hat sich in seiner Münsteraner Habilitationsschrift dem Thema der „Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten in der zweiten Hälfte des „langen 19. Jahrhunderts“ gewidmet. Ihm ging es dabei weder um die Geschichte der Rechtsprechung noch um die der Strafvollstreckung. Der Schwerpunkt seiner Studie liegt vielmehr eindeutig auf der dem kriminellen Akt als Nächstes folgenden Phase des Ermittlungsverfahrens; daneben werden von Roth aber auch die Entwicklung der Gesetzgebung und die rechtspolitischen Reformdiskussionen des betreffenden Zeitraums berücksichtigt. Die sehr gut lesbare Arbeit ist in zwei große Abschnitte untergliedert, die sich zum einen der historischen Entwicklung der beiden wichtigsten Institutionen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, von Polizei und Staatsanwaltschaft, zum anderen der spezialisierten Kriminalitätsbekämpfung in der Praxis widmen. Neben zeitgenössischer Literatur hat Roth hierfür das betreffende Archivmaterial der Großstädte Berlin und Hamburg sowie ergänzend der damals „neuen“, stark industriell geprägten Großstadt Duisburg ausgewertet. Eines der innovativen Elemente von Roths Studie liegt darin, dass er sich weniger den spektakulären Kriminalfällen von Mord und Totschlag zuwendet als vielmehr den zeitgenössisch massenhaft auftretenden Delikten der Kleinkriminalität, die heutzutage infolge der Strafrechtsreformgesetze der 1970er Jahre zumeist entkriminalisiert sind. Der Umfang und Charakter der von der zeitgenössischen Öffentlichkeit vehement geforderten Bekämpfung der meist unter dem Sammelbegriff „Asozialität“ zusammengefassten Delikte des § 361 RStGB (Landstreicherei, Bettel, Obdachlosigkeit und Arbeitsscheu sowie Prostitution) wird von Roth anhand des vorhandenen Zahlenmaterials anschaulich aufgearbeitet. Sein methodischer Umgang mit dem zeitgenössischen statistischen Quellenmaterial - die Reichskriminalstatistik erschien erstmals im Jahr 1882 - ist gleichzeitig einer der interessantesten Aspekte seiner Studie: Im Kaiserreich einer der Auslöser für die fast zeitgleich einsetzende wissenschaftliche Strafrechtsreformdiskussion mit ihrer zentralen Forderung nach einer effektiveren Bekämpfung der Rückfallkriminalität, stellt das statistische Material den Rechtshistoriker heute vor schwierige Interpretationsfragen: Wenn eine Korrelation zwischen Großstadt und Kriminalität existiert und ein Stadt-Land-Gefälle zu konstatieren ist, bleibt die Frage nach den Gründen dafür zunächst offen (zieht die Stadt Kriminelle an oder bringt sie diese erst hervor?). Ebenso könnte der von den Zeitgenossen stark beklagte und durch die Statistik „bewiesene“ Kriminalitätsanstieg auch durch rechtspolitisch bedingte neue Kriminalisierungen, durch eine veränderte gesellschaftliche Einstellung gegenüber delinquentem Verhalten oder aber durch eine verstärkte Polizeipräsenz verursacht worden sein.

Das ausgeprägte Sicherheitsbedürfnis der bürgerlichen Industriegesellschaft (Schutz des Privateigentums), Effektivitätsdenken sowie naturwissenschaftliche Neuerungen (Fotografie, Spurenkunde) führten dazu, dass der Polizeiapparat um die Jahrhundertwende einen rapiden Modernisierungsprozess, verbunden mit einer starken personellen Ausweitung und Ausdifferenzierung, durchlief. Auch bei der Kriminalitätsbekämpfung trat ein differenziertes Denken immer stärker an die Stelle eines nur reaktiven, allein dem Legalitätsprinzip verpflichteten Repressionsapparates. Während sich Kriminalpolizei und Strafrecht auf die Bekämpfung der „unverbesserlichen“, d.h. vor allem der rückfälligen Delinquenten konzentrierten, wurde die Behandlung der für die bürgerliche Gesellschaft weniger gefährlichen, „besserungsfähigen“ Kriminellen zunehmend dem Verwaltungs- und Sozialrecht zugeordnet. Vorbildfunktion hatte hierbei - von Roth in einem Exkurs dargelegt - die Entwicklung im Jugendrecht, aber auch in anderen Bereichen wie zum Beispiel bei Prostitutionsangelegenheiten gewann das jetzt zuständig werdende (Gesundheits-)Amt gegenüber Polizei und Strafrecht immer mehr an Bedeutung.

Roth gelingt es in seiner rechtshistorischen Arbeit, durch die intensive Auswertung von Archivmaterial und zeitgenössischen Quellen eine ausgesprochen instruktive „andere“ Gesellschaftsgeschichte des deutschen Kaiserreiches zu zeichnen. Bemerkenswert ist die Neigung des Autors, eine eindeutige wissenschaftliche Stellungnahme zu vermeiden. Bei einer Habilitationsschrift wäre zudem vielleicht eine noch stärkere Orientierung an bzw. Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsdebatten zur Polizei-, Strafrechts- und Fürsorgegeschichte, vor allem den theoretischen Konzepten der „Sozialdisziplinierung“ bzw. der „sozialen Kontrolle“, zu erwarten gewesen.

Saarbrücken                                                                                                 Rainer Möhler