Brand, Jürgen, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit

* in Deutschland, Band 2 Von der Ehre zum Anspruch (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 151). Klostermann, Frankfurt am Main 2002. XIV, 757 S. Besprochen von Ute Walter. ZRG GA 121 (2004)

Brand, Jürgen, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, Bd. 2 Von der Ehre zum Anspruch (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 151). Klostermann, Frankfurt am Main 2002. XIV, 757 S.

 

Über die arbeitsrechtliche Sonderordnung wissen wir wenig. Grund dafür ist die überwiegend zivilrechtliche Ausrichtung des modernen Arbeitsrechts. Aufgrund dieser systematischen Zuordnung findet oftmals eine Projektion in die Vergangenheit statt, was zu Behauptungen führt wie: das Arbeitsrecht sei kein eigenes Rechtsgebiet mit eigenen Normen. Brand setzt dem aus rechtshistorischer Sicht die These entgegen, dass nicht die vom Staat gesetzte Rechtsordnung, sondern eine konkurrierende, aus dem ständischen Recht gewachsene Sonderordnung das Recht der Arbeit entscheidend beeinflusst hat. Er weist dies in seinen Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland nach, von denen nun der zweite Band erschienen ist. Seine Aufmerksamkeit gilt hier insbesondere der Handwerks- und Gewerbegerichtsbarkeit als Institutionen dieser Sonderordnung sowie insbesondere den rheinischen Gewerbegerichten im 19. Jahrhundert; im Anhang (S. 535-757) sind die hauptsächlich herangezogenen Quellen abgedruckt. (Im ersten, bereits 1990 erschienenen Band „Zwischen genossenschaftlicher Standesgerichtsbarkeit und kapitalistischer Fertigungskontrolle“ stellte Brand die allgemein rechtshistorischen, produktionstechnischen und psychologischen Voraussetzungen für die Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit dar.)

 

Das bisherige rechtshistorische Schrifttum vernachlässigte die unabhängig vom Gesetzgeber entwickelte ständisch-genossenschaftliche Sonderrechtsordnung, die im 19. Jahrhundert eine eigenständige Prägung erhielt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet noch die zünftige Gerichtsbarkeit: gewerbliche Streitigkeiten wurden (bis zur Aufhebung der Zünfte in den meisten Territorien in den damaligen sechziger Jahren) vor dem Zunftvorstand ausgetragen. Die Streitfrequenz war allerdings nicht hoch: wegen des engen persönlichen Beziehungsgeflechts innerhalb des „Hauses“ wurden viele Streitigkeiten als nicht justitiabel angesehen. Zudem gab es ausführliche Bestimmungen in den einzelnen Zunft- und Handwerksordnungen, die Streitigkeiten vorbeugten. Den von den Gesellen eingerichteten Gesellengerichten kam die Funktion zu, individuellen Rechtsstreitigkeiten kollektive Bedeutung zuzumessen.

 

Auch in Gebieten wie etwa in Preußen oder im Rheinland, in denen alsbald Gewerbefreiheit herrschte, wurden gleichsam zur Auffüllung des durch die Deregulierung entstandenen Vakuums die Prinzipien der Handwerkszunft-Sonderordnung auf bestimmte zunftfreie Großbetriebe erstreckt. Dies galt insbesondere für die dezentrale Vertriebsform des Verlages, da die mangelnde tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit des Verlegers (der den Absatz der Produkte zentral organisierte) auf die produzierenden Handwerker nach einem rechtlichen Instrumentarium zur Produktionssteuerung verlangte, die in einem zentralisierten Betrieb vom „Fabrikherren“ ohne weiteres wahrgenommen werden konnte. Von der Polizei oder den Magistraten wurde dies über entsprechende Generalklauseln oder gewohnheitsrechtlich verwirklicht. Damit blieb die Arbeitsverfassung der Zunft zur Disziplinierung der Arbeitnehmer und zur Schaffung gleichartiger Konkurrenzbedingungen in maßgebenden Unternehmen weiterhin Vorbild. Der prosperierende Industriestaat Sachsen behielt ohnehin die Zunftverfassung bei. Inwieweit von zunftfreien Arbeitskräften die ordentlichen Gerichte angerufen wurden, ist noch nicht abschließend geklärt; die von Brand bisher aufgefundenen statistischen Daten ergeben nur eine minimale oder keine Beanspruchung der staatlichen Justiz.

 

Warum es nicht gelang, die beiden Rechtsordnungen miteinander zu versöhnen, liegt nach Brand daran, dass dem Vorschlag, ein spezielles Arbeitsrecht als Teil des Bürgerlichen Rechts zu begründen, angesichts der herrschenden Doktrin der Vertragsfreiheit die politische Rückendeckung fehlte. Während der Beratungen zur Paulskirchenverfassung hatten insbesondere Angehörige der historischen Rechtsschule Vorschläge zur Bildung von Fabrikgerichten eingereicht, die mit sachkundigen, von den Berufsgenossen frei gewählten „Richtern“, also Männern aus dem Volke mit besonderer Berufserfahrung besetzt sein sollten. Die damals entwickelte Idee, welche die Möglichkeit eröffnet hätte, die Sonderordnung unter einem gemeinsamen Dach staatlicher Gerichtsbarkeit zu integrieren, wurde allerdings nicht umgesetzt.

 

Als Folge der 1848/49er-Revolution wurden in Preußen und Sachsen Gewerbegerichte eingerichtet, und zwar nunmehr nach dem Vorbild der französischen Conseils de Prud’hommes, wie sie von Napoleon in Frankreich im Jahre 1806 errichtet worden waren. Anders als im französischen Modell, in dem neben Arbeitgebern nur die Werkmeister, d. h. leitende Angestellte, wirkten, waren zu den Gewerbegerichten neben dem juristisch vorgebildeten Vorsitzenden auch Arbeitnehmer als Richter wählbar. Gleichwohl scheiterten die preußischen Gewerbegerichte, einmal an den hohen Kosten, zum anderen daran, dass sich die Laien nicht auskannten und die Juristen umgekehrt in der juristischen Sonderordnung nicht firm waren. Zudem fehlte es, anders als im französisch beeinflussten Rheinland, an erfolgreichen Kaufleuten, die das Ehrenamt des Richters übernahmen. Die rheinischen Fabrikgerichte (die sich nach Brand auf Anregung vor allem zweier Juristen etabliert hatten, die führende Unternehmer für sich gewinnen konnten) wiesen zudem die Besonderheit auf, dass Arbeiter nicht beteiligt waren, sondern die vermögenden Fabrikherren, die es sich leisten konnten, das Ehrenamt ohne Entgelt auszuüben. Die jeweiligen Honoratioren prägten „ihr“ Gericht, so dass es sich faktisch um eine Einrichtung von Unternehmern handelte, die in patriarchalischer Weise Recht setzten und gleichartige Konkurrenzbedingungen untereinander sicherten. Aber es hing weitgehend von der Bereitwilligkeit der Unternehmer und deren Mitarbeiter ab, ob das Gericht funktionierte. Wenn es nicht gelang, Unternehmer zu einem Mitwirken zu bewegen, blieb die Sonderordnung ohne Sachwalter und ohne institutionelle Verantwortung. Im Rheinland jedenfalls gelang die Balance der Aufrechterhaltung der französischen Erbschaft, obwohl der Staat grundsätzlich kein Interesse an einer Gerichtsbarkeit hatte, die mit der ordentlichen Justiz konkurrierte.

 

Der vielfach anzutreffende Vorwurf, dass die Fabrikgerichte von den Unternehmern abhängig waren, lässt außer Acht, dass mit ihrer Errichtung und Fortführung ein Systembruch verbunden war (der im Jahre 1926 schließlich in die Schaffung des Arbeitsgerichtsgesetzes mündete). Denn die neuen Gerichte waren vom revolutionären Frankreich eingeführt worden, lagen außerhalb der staatlichen Justiz, entschieden auf der Grundlage einer seit Jahrhunderten von Obrigkeit und Staat bekämpften Sonderordnung, finanzierten sich selbst und rekrutierten sich und ihre Amtsträger autonom. Insgesamt betrachtet also eine Organisation, die in allen grundlegenden Punkten mit dem damals herrschenden System unvereinbar war. Die Conseils de Prud’hommes retteten die Idee der Sonderordnung und eines Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit in eine neue Zeit hinüber.

 

Die von Brand vorgelegte Forschungsleistung belegt in eindrucksvoller Weise, dass die Ausformung eines eigenständigen Arbeitsrechts sowie vor allem der heutigen Arbeitsgerichtsbarkeit in wesentlichen Teilen auf die Zünfte zurückzuführen ist; von der These, dass mit dem Aufkommen der großbetrieblichen Fertigung aufgrund gewerblich-technischen Fortschritts ein Niedergang der zünftigen Ideen verbunden gewesen sei, ist Abschied zu nehmen.

 

Regensburg                                                                                                                Ute Walter