Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums
Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38. Band 8 21. März 1890 bis 9. Oktober 1900, bearb. v. Spenkuch, Hartwin (= Acta Borussica N. F. Erste Reihe, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). Olms-Weidmann, Hildesheim 2003. IX, 757 S.
Band 9 23. Oktober 1900 bis 13. Juli 1909, bearb. v. Zilch, Reinhold. 2001, IX, 488 S.
Band 11 14. November 1918 bis 31. März 1925, bearb. v. Schulze, Gerhard. 2002. IX, 1-420, 421-780 S.
Nach den zuletzt besprochenen Bänden 1, 3 und 5 (ZRG, Germ. Abt. 119 [2002]) der Mikrofiche- und Regestenedition sind inzwischen drei weitere Bände erschienen. Wie für die früheren Bände gilt die Feststellung Spenkuchs in Band 9, dass „keineswegs alle politisch-exekutiven Handlungen der preußischen Ministerien oder gar des Reichs“ – auch nicht alle Stadien insbesondere eines Gesetzgebungsvorhabens -, erfasst würden, „geschweige denn alle gegenwärtige Forschung beschäftigenden Themenfelder, die sich zuweilen nur ansatzweise in den Staatsministerial-Sitzungsprotokollen widerspiegeln“ (S. 1). Bd. 8, hg. von H. Spenkuch, umfasst den Zeitraum vom 21. 3. 1890-19. 10. 1900, mithin die Kanzlerjahre von Caprivi und Hohenlohe(-Schillingsfürst). Schwerpunkte der Beratungen waren in dieser Zeit „gesetzgeberische Reformmaßnahmen“, die Landwirtschaftspolitik, das Verhältnis der Staatsregierung zu Parlamenten und Parteien, das Preußen-Reich-Verhältnis, Beamtenfragen (u. a. Richterernennung, Kommunalwahlbeamte), das Ordens- und Titelwesen, die Polenpolitik, das Verhältnis des preußisch-protestantischen Staates zur katholischen Kirche sowie Militärfragen (Flottenbau, Kriegervereine). Fragen der Kulturgeschichte (u. a. Landschaftsschutz, Lotterie-Spielsucht, Konsumgeschichte) tauchen in den Protokollen nur punktuell auf. Anschaulich beschreibt Spenkuch in der Einleitung die Persönlichkeit der Kanzler und preußischen Minister (so ausführlich Caprivi, Marschall v. Bieberstein, v. Posadowski-Wehner, Miquel sowie Hohenlohe) und das persönliche Regiment Wilhelms II. Der Band verdeutlicht, dass in dem behandelten Zeitraum die Grundlagen für die noch heute maßgebende Zivilrechtsordnung Deutschlands gelegt wurden, die inhaltlich stark von Preußen beeinflusst war. Insbesondere befasste sich das Staatsministerium wiederholt mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dessen Zustandekommen (S. 180, 191, 194, 205, 208, 226, 227, 228, 231), vor allem mit dem Vereinsrecht (S. 168, 175, 211, 234f., 275; hierzu auch die Staatsministerialprotokolle bei Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, Allgemeiner Teil, 1985, S. 1354ff.; hier auch die ausführlichen Voten der Minister). Auch das preußische Ausführungsgesetz zum BGB nimmt in den Beratungen des Staatsministeriums (StM) einen breiten Raum ein. Hinzu kommt noch die Befassung des StM mit den Nebengesetzen zum BGB (FGG, ZVG und GBO) sowie mit der Anpassung der Reichsjustizgesetze (ZPO, GVG, KO) und des ADHGB an das vereinheitlichte Zivilrecht. Ferner sei erwähnt die Befassung des StM mit dem Börsen- und dem Depotgesetz, dem GmbH- und UWG-Gesetz und der Wuchergesetzgebung. Zur Sprache kamen auch die Teilreform des Vermieterpfandrechts (S. 155; hierzu Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 285), die Beibehaltung der obligatorischen Zivilehe (S. 218, 221), die Sicherung der Forderungen der Bauhandwerker, der Wegfall des Ehekonsenses für Beamte sowie ausführlich die Militärstrafgerichtsordnung von 1898 (hierzu Werner Schubert, ZRG Germ. Abt. 110 [1996], S. 1-39). In den Zeitraum des Bandes fallen auch die Miquelsche Steuergesetzgebung, die Reformen der Gewerbeordnung von 1890 und 1900 zugunsten des Arbeiterstandes und des Handwerks, das Binnenschifffahrtsrecht, das Ansiedlungsrecht sowie der Versuch von 1893, ein gesamtdeutsches Apothekergesetz zu erlassen. Wenn auch die Vorlagen zu den genannten Gesetzen vom Reich kamen, so waren diese doch inhaltlich vorher mit Preußen abgesprochen worden, bevor sie im Bundesrat eingebracht wurden. Eine Ausnahme wurde nur für den BGB-Entwurf gemacht, zu dem die preußischen Änderungswünsche ausführlich in den Ausschussverhandlungen des Bundesrats zur Sprache kamen. Insgesamt kann für die Zeit bis 1900 nur von einer sehr eingeschränkten Verreichlichung der Gesetzgebung gesprochen werden, zumal die Beteiligung preußischer Minister und Beamter an den Beratungen im Bundesrat dominierend war. Die spezifisch rechtshistorische Literatur ist hinreichend berücksichtigt, wenn auch die Hinweise auf die Entstehungsgeschichte der behandelten Gesetze mitunter etwas detaillierter hätten ausfallen können (für das GmbH-Gesetz von 1892 fehlt der Hinweis auf das Werk Peter Kobergs, Die Entstehung der GmbH in Deutschland und Frankreich, 1992). Nach Abschluss des Manuskripts zu diesem Band sind noch erschienen die Werke Carmen Buxbaums über das Depotgesetz von 1896 und Henning von Stechows über das UWG von 1896. Insgesamt ist Teil 8 der Edition im Hinblick auf die Einflussnahme Preußens auf die zahlreichen Reichsgesetze der 90er Jahre für die preußische und deutsche Rechtsgeschichte vor allem des Zivil- und Verfahrensrechts besonders bedeutsam.
Der von Reinhold Zilch bearbeitete Band 9 umfasst die Amtszeit des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Bernhard von Bülow (23. 10. 1900-13. 7. 1909) mit 210 Sitzungen und vertraulichen Besprechungen des StM sowie vier Kronratssitzungen. In der Einleitung kennzeichnet Zilch als Schwerpunkte der Beratungstätigkeit die Beamtenpolitik (Besoldung, Wohnungsgeldzuschüsse, Beamtenbewegung), die Haushaltslage in Preußen und im Reich (Steuerreform; insbesondere die Vorlagen zur Erbschaftssteuer und zu einem Erbrecht des Staates), die Polenpolitik (Landerwerb, Sprachenfrage), soziale Fragen (Novellierung des Berg- und Knappschaftsgesetzes; Heimarbeiter; Beamtenwohnungsbauvereine), Eisenbahnfragen sowie das Justizwesen. Eine große Rolle spielte in der Bearbeitungszeit die Reform der Strafgerichtsverfassung und des Strafprozesses, die 1908 den Bundesrat beschäftigte, aber im Reichstag nach intensiven Beratungen 1910 scheiterte (hierzu Werner Schubert, Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses [1903-1905], 1991, m. w. N.; Protokolle der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuches [1911-1913], 1990, Einleitung in Bd. 1; vgl. die vorliegende Edition S. 112, 217, 194f., 212). Hinsichtlich des materiellen Strafrechts blieb es bei der Erörterung von Einzelfragen (S. 192f., Majestätsbeleidigung; S. 165, 181, 225, Novellenentwurf von 1909). Fragen der Gerichtsverfassung betrafen die Vorlage zur Einführung von Kaufmannsgerichten, deren Einzelheiten im StM auf wenig Gegenliebe stießen (S. 95f., 105, 116, 128). Privatrechtlich relevante Gesetze, die im StM beraten wurden, waren das Versicherungsvertragsgesetz von 1909, das Vereinsgesetz, die Börsengesetznovelle und das Bauforderungssicherungsgesetz. Einige wichtige Gesetze tauchen in den Protokollen, soweit feststellbar, nicht auf, da sie wohl nicht kontrovers waren, wie die Vorlagen zum KFG von 1908 und zur Änderung der Tierhalterhaftung in § 831 BGB (hierzu R. Schmalhorst, Die Tierhalterhaftung im BGB von 1896, 2002). Ausführlich beraten wurde dagegen der Entwurf zur Reichsversicherungsordnung von 1911 (S. 226, 228, 231, 232) und zum Reichsvereinsgesetz von 1908 (vgl. S. 198). Erwähnt sei schließlich noch das wichtige Haftentschädigungsgesetz von 1904, das S. 114f. erwähnt ist. In der Einleitung kennzeichnet Zilch die Mitglieder des StM auch in ihrem Verhältnis zueinander und ihr Verhältnis zur Reichsleitung und zum Monarchen. Leider fehlen Ausführungen über die Justizminister Schönstedt und Beseler sowie über Nieberding (Staatssekretär des Reichsjustizamts). Für die Benutzung der Edition und die weiterführenden Verweise auf die einschlägigen Archivakten ist der Abschnitt über die Entstehung und Überlieferung der Sitzungsprotokolle des StM im Rahmen des Geschäftsganges sehr hilfreich.
Der von Gerhard Schulze herausgegebene Band 11 umfasst die Protokolle des StM vom November 1918 bis zum 31. 3. 1925. Die gemeinsamen Sitzungen des StM mit dem Reichskabinett und die Reichskabinettssitzungen mit preußischer Beteiligung werden mit Anführung der Beratungsgegenstände nachgewiesen (mit Hinweis auf die parallele Aktenedition des Bundesarchivs, Akten der Reichskanzlei: Weimarer Republik). Der Band dokumentiert zunächst die zentralen Fragen der Staats- und Verfassungserneuerung in Preußen, insbesondere die Entstehung der preußischen Verfassung von 1920. Häufiger Beratungsgegenstand war die im Vergleich zur Kaiserzeit erheblich geschwächte Position Preußens gegenüber dem Reich (Aufhebung der Realunion). Eine Mitwirkung des preußischen Kabinetts an der Reichsgesetzgebung war nicht selten dadurch behindert, dass die überwiegende Mehrheit der Provinzialvertreter bis 1928 in etwa 24 Fällen gegen die Regierungsvertreter stimmte. Die Folge davon war die „staatspolitisch unerträgliche und groteske Erscheinung“, dass „sich die preußischen Stimmen gegenseitig aufhoben, sich ,tot stimmten’, ... während der ausschlaggebende Einfluss im Reichsrat auf das ungeteilt abstimmende Bayern überging“ (S. 8; nach einem von der Pressestelle des preuß. StM herausgegebenen Band: Preußen 1928, Politik in Stichworten). Ferner befasste sich das StM mit den Friedensbedingungen und dem Versailler Vertrag, den es als „unannehmbar“ ablehnte (S. 7). Ausführlich dokumentiert der Band die Beamtenpolitik (Einführung einer festen Altersgrenze; Zwangspensionierung politischer Beamter; Republikanisierung des Beamtenapparates). Ferner ist hinzuweisen auf die Tätigkeit des Finanzministers (weitgehender Verlust der Steuerhoheit), auf das Scheitern einer umfassenden Kommunalreform und auf das neu gebildete Ministerium für Volkswohlfahrt mit seinen Maßnahmen zur Wohnungswirtschaft. Im einzelnen geht Schulze in seiner präzisen Einleitung auf die Funktionsweise des StM (kein Mehrstimmrecht des Ministerpräsidenten bei Stimmengleichheit mehr) und auf die Besetzung der Ministerien ein. Das Justizministerium war seit März 1919 in den Händen des konservativen Zentrumspolitikers Hugo am Zehnhoff, von dem keine wichtigen Initiativen zur Reform des bürgerlichen und des Strafrechts sowie des Prozessrechts (einschließlich der Gerichtsorganisation) ausgingen. Im übrigen waren die genannten Rechtsgebiete bis zum März 1925 nur selten Gegenstand von Beratungen des StM (S. 257, Arbeitsgerichte; S. 103, 106, Betriebsrätegesetz; S. 159, Jugendgerichtsgesetz; S. 284, StGB-Entwurf; hier Erwähnung der leider nicht mehr auffindbaren Denkschrift des Justizministeriums zum Entwurf von 1922). Mehrmals behandelt wurde die Strafgerichtsorganisation (S. 284, 319, 328, 336, 373). Ergebnis der langwierigen Beratungen war die Emminger-Verordnung von 1924, mit der die ausschließlich mit Laien besetzten Schwurgerichte abgeschafft wurden (hierzu die Edition von Werner Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Abt. I, Bd. 4, 1999). In der Sitzung vom 19. 5. 1922 wurde die Eheschließungsreform angesprochen (hierzu mit Quellen Werner Schubert, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, 1986). Es ist zu erwarten, dass in dem weiteren Band zur Weimarer Zeit das Privat- und Strafrecht einen größeren Raum einnehmen wird. Insgesamt war aber der Einfluss des preußischen Justizministers und des StM gegenüber der Kaiserzeit auf die Reichsgesetzgebung erheblich geringer.
Die drei neuen Bände der Edition verdeutlichen erneut die Bedeutung der Edition für den Privat- und Strafrechtshistoriker, von der großen Wichtigkeit für das Verfassungsrecht und das öffentliche Recht sowie für die Justizpersonalpolitik einmal abgesehen. Insgesamt ist das Ungleichgewicht zwischen dem Regesten- und dem Registerteil bestehen geblieben, was wohl auf den den Herausgebern vorgegebenen Herstellungsprozess zurückzuführen sein dürfte. Trotz des sehr umfangreichen Sachregisters sind einige Beratungsgegenstände nicht immer leicht aufzufinden. Mit den Bänden 8 und 9 ist nunmehr der Beitrag Preußens zur Vereinheitlichung des Zivilrechts und zu den Anfängen der sozialpolitisch beeinflussten Spezialgesetzgebung erschlossen (UWG, Börsengesetz, Versicherungsvertragsgesetz). Vor allem steht nunmehr noch aus der Band, der die innerpreußische Rechtsvereinheitlichung (u. a. Immobiliarsachenrecht; Vormundschaftsrecht) und die Verreichlichung der Gerichtsverfassung sowie des Straf- und Zivilprozesses dokumentieren wird.
Kiel
Werner Schubert