Schäfer, Herwig, Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941 - 1944
MuschelerSchäfer20000824 Nr. 10024 ZRG 118 (2001)
Schäfer, Herwig, Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941 – 1944 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 23). Mohr (Siebeck), Tübingen 1999. XIV, 273 S.
Wer, etwa im Zivilrecht, nach Rechtsprechung zu einem bestimmten Problem sucht, stößt bisweilen noch auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Colmar, ergangen vor 1900 zum französischen, teilweise schon deutschen Recht, nach 1900 bis 1918 zum noch jungfräulichen Bürgerlichen Gesetzbuch. Dass es ein OLG Colmar auch in den Jahren 1941 bis 1944 gab, kann man sich zwar denken, wirklich bewusst ist es aber nur den wenigsten. Ähnlich verhält es sich mit der Universität Straßburg. Die von 1872 bis 1918 existierende Reichsuniversität Straßburg (seit 1877 „Kaiser‑Wilhelms‑Universität Straßburg“) und in ihr die „Rechts‑ und Staatswissenschaftliche“ Fakultät (die erste ihrer Art in Deutschland) braucht man selbst dem wissenschaftsgeschichtlich nur oberflächlich Informierten nicht eigens nahe zu bringen. Speziell dem Juristen verbinden sich mit ihr so glanzvolle Namen wie Paul Laband und Otto Mayer. Die „zweite“ Reichsuniversität Straßburg der Jahre 1941 bis 1944 kennt man dagegen in der Regel nicht, ja man weiß kaum um ihre Existenz, was sich gewiss der Kürze ihres Bestehens, vielleicht aber noch mehr ihrer weniger ruhmvollen Tätigkeit verdankt.
Die Freiburger Dissertation von Herwig Schäfer zum Thema „Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941 ‑ 1944“ schließt diese zwar kleine, aber doch nicht ganz unbedeutsame Lücke in unseren wissenschaftsgeschichtlichen Kenntnissen. Schäfer schildert in einem ersten Kapitel die Straßburger Universitätsgeschichte von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, und hier insbesondere die Entwicklung des juristischen Studiums vor und nach der Erhebung einer Vorläuferinstitution zur Universität im Jahre 1621. In diesem einleitenden Kapitel kommen namentlich auch die „Kaiser‑Wilhelms‑Universität“ sowie die Université de Strasbourg zwischen 1919 und 1945 und deren nach dem deutschen Einmarsch erfolgte Verlegung nach Clermont‑Ferrand zur Sprache. Das zweite Kapitel berichtet über Gründung und Aufbau der Reichsuniversität in den Jahren 1940/41, deren staats- und völkerrechtliche Rahmenbedingungen, also namentlich die de‑facto‑Annexion des Elsaß, den bei der Errichtung zutage tretenden Kompetenzstreit zwischen dem Chef der elsässischen Zivilverwaltung und dem Reichswissenschaftsministerium, den Hitler zugunsten des letzteren entschied, die kritischen Reaktionen anderer deutscher Hochschulen, insbesondere der besonders stark von Abwanderung bedrohten. Im dritten Kapitel geht es um den Aufbau der Rechts‑ und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Der Verfasser berichtet darin über die Diskussion, die um die grundsätzliche Ausrichtung der Fakultät geführt wurde und die schließlich zur erneuten Zusammenfassung von Rechts‑ und Staatswissenschaften, aber doch unter eindeutigem, auch im Stellenplan zum Ausdruck kommendem Vorrang der Rechtswissenschaft und ferner zur deutlichen Betonung des öffentlichen Rechts führte. Die Anzahl der öffentlich‑rechtlichen Ordinariate sollte wegen der gestiegenen Bedeutung des Verwaltungsrechts für die juristische Ausbildung über der damals üblichen liegen. Hinter dieser Strukturüberlegung stand Ernst Rudolf Huber, der eigentliche spiritus rector der neuen Fakultät. Den größten Teil des dritten Kapitels nimmt die Darstellung der Besetzungsfragen ein; nach Straßburg berufen wurden, soweit es um den juristischen Part der Fakultät ging, Georg Dahm, Friedrich Schaffstein, Ernst Rudolf Huber, Ulrich Scheuner, Herbert Krüger, Hans Dölle, Arthur Nikisch, Ludwig Raiser, Georg Dulckeit, Adalbert Erler und Dieter Pleimes. Einige der Berufenen leisteten Wehrdienst und konnten deshalb ihr Amt gar nicht oder nur kurz ausüben. Das vierte Kapitel schildert die juristische Lehre an der neuen Fakultät: die ausbildungsrechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem die reichsrechtliche Justizausbildungsordnung von 1939 und die vielfach kritisierte, aber doch nachhaltig einflussreiche Eckhardtsche Studienordnung von 1935, ihre konkrete Umsetzung in Straßburg, das Lehrangebot, auch im Vergleich zu den nächstgelegenen Fakultäten in Tübingen, Freiburg und Heidelberg, schließlich die Studierendenstatistik und das Prüfungswesen. Im fünften Kapitel werden die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der an die Fakultät Berufenen, soweit sie während der Straßburger Zeit entstanden, dargestellt. Übel riechende und schwer verdauliche Kost bekommt der Leser hier vorgesetzt, insbesondere soweit es um die Fakultätsprotagonisten Dahm, Schaffstein und Huber geht, aber er erkennt auch am Beispiel der von ideologischen Anwandlungen freien, meist rechtshistorischen Themen gewidmeten Arbeiten eines Adalbert Erler, dass es anders ging. Da das fünfte Kapitel der „Juristischen Forschung an der Rechts‑ und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Reichsuniversität Straßburg“ gewidmet ist, werden auch die zwei durchgeführten Promotionen und das einzige Habilitationsverfahren, das des kürzlich verstorbenen Familienrechtlers Friedrich Wilhelm Bosch, geschildert. Ein kurzes sechstes Kapitel befasst sich sodann mit der ablehnenden Haltung, die die Straßburger Fakultät gegenüber der vom Staatssekretär im Reichsjustizministerium erhobenen Forderung einnahm, die Studienanfänger müssten anhand von praktischen, lebensnahen Fällen induktiv in kleinen, vorwiegend von Praktikern gehaltenen Arbeitsgemeinschaften unterrichtet werden, die an die Stelle der systematischen Hauptvorlesungen treten sollten. An diesem wie an anderen Punkten zeigt sich, wie allergisch selbst solche Personen auf das professionelle Selbstbewusstsein in Frage stellende Reformvorhaben reagieren konnten, die ideologischer Ferne zum Nationalsozialismus unverdächtig waren. Ein eigenes Kapitel wird den elsässischen Studierenden an der Juristischen Fakultät gewidmet, ihrer schwierigen Lage zwischen Anpassung und Résistance. Das achte Kapitel versucht gewissermaßen eine wertende Zusammenfassung des bisher ausgebreiteten Tatsachenmaterials unter zwei leitenden Fragestellungen: Wurde die Universität Straßburg und speziell die Rechts‑ und Staatswissenschaftliche Fakultät der ihr bei der Gründung gestellten Aufgabe gerecht, eine geistige Hochburg des Nationalsozialismus sein und als „Grenzlanduniversität“ durch eine Auseinandersetzung mit der französischen Kultur zur Überwindung „westlerischen“ Denkens beizutragen? Und zweitens: Kann man die Rechts‑ und Staatswissenschaftliche Fakultät der Reichsuniversität als Nachfolgerin der „Kieler Schule“ bezeichnen? Im neunten Kapitel wird der Leser über die Verlegung der Reichsuniversität nach Tübingen, ihr schließliches Ende und über den weiteren Werdegang der juristischen Ordinarien informiert. Das Schlusskapitel zieht eine Bilanz.
Die Hauptthesen des Verfassers, herausgearbeitet vor allem im achten Kapitel, sind folgende: In Personalauswahl, Lehre und Forschung sei die Rechts‑ und Staatswissenschaftliche Fakultät in Straßburg ein Abbild der Verhältnisse gewesen, die auch an anderen Rechtsfakultäten des Reiches in den Jahren 1941 bis 1944 geherrscht hätten. Insofern sei die Fakultät der ihr zugewiesenen Aufgabe, eine Hochburg der nationalsozialistischen Rechtserneuerung und ein Grenzposten zur Bekämpfung des französischen, ja des westlichen Rechtsdenkens zu sein, nicht gerecht geworden. Auch sei es verfehlt, von einer Fortführung des Wissenschaftsprogramms der „Kieler Schule“ zu sprechen.
Schäfer bringt zur Unterstützung dieser Thesen einige beachtliche Argumente vor. Doch kann man über diese Wertungen auch durchaus anderer Ansicht sein. Mir scheint es eher so gewesen zu sein: Die Fakultät wurde ihrer „Aufgabe“ nicht gerecht, weil sie ihr nicht gerecht werden konnte, und nicht, weil sie ihr nicht gerecht werden wollte. Für ihre Tätigkeit war die Zeit zu kurz, die Ausstattung zu dürftig, die Verhältnisse zu ungünstig. Doch an „gutem Willen“ hat es nicht gefehlt. Die Arbeiten von Dahm, Schaffstein, Huber und, in weniger markantem Ton, auch einiger anderer Fakultätsmitglieder legen davon beredtes Zeugnis ab. Der Verfasser ist zu sehr geneigt, einige, rein innerideologisch motivierte kritische Bemerkungen bei Dahm und Schaffstein überzuinterpretieren, zu schnell bereit, die (schon in den achtziger Jahren geführten) Interviews mit den Betroffenen und die darin aus der Rückschau geäußerten Bewertungen für bare Münze zu nehmen. Dass es sich um „Anpassung an die anläßlich der Eröffnung der Reichsuniversität gängige Propaganda“ gehandelt habe, um Bemerkungen, die „der Selbstdarstellung nach außen gedient“ hätten, „um unter einer phraseologischen Schutzhülle gegen Einmischungen von Staats‑ und Parteistellen gefeit zu sein und den traditionellen Lehr- und Forschungsbetrieb aufrecht erhalten zu können sowie den Fluß an finanziellen Mitteln sicherzustellen“ ‑ so die Formulierungen in einigen Interviews ‑, erscheint wenig glaubhaft.
Und was die Nachfolge der „Kieler Schule“ angeht, so war natürlich die ursprüngliche Aufgabe dieser Schule, dem nationalsozialistischen Parteiprogramm breiten und dauerhaften Einfluss auf das deutsche Rechtsdenken zu sichern, anfangs der 40‑er Jahre bereits weitgehend erfüllt. Doch hatte sich nach Beginn des Krieges eine neue Aufgabe aufgetan, für die man erneut eine „Stoßtruppfakultät“ brauchte: Die genannten Segnungen sollten nun auch den eroberten Gebieten zugute kommen. Mit Dahm, Dulckeit, Huber, Schaffstein und Nikisch hat, wie auch der Verfasser nicht verkennt, ein erheblicher Teil der Straßburger Juristen in den 30‑er Jahren der Kieler Rechtsfakultät angehört, und nach der ursprünglichen (dann doch nicht verwirklichten) Konzeption sollten mit Wolfgang Siebert und Franz Wieacker sogar zwei weitere Ex‑Kieler berufen werden. Ebenso wie in Kiel sahen sich die Straßburger Fakultätsmitglieder als Lehr‑ und Forschungsgemeinschaft, eine Gemeinschaft, die sich vor allem in gemeinsamen fachübergreifenden seminarähnlichen Veranstaltungen ausdrückte. Man könnte also durchaus von einer Fortsetzung der Kieler Schule, nur diesmal mit verändertem, nicht nach innen, sondern nach außen, auf die neuerworbenen Gebiete gerichtetem Aufgabenkreis sprechen.
Wenn sich somit über die Thesen des Verfassers trefflich streiten lässt, so ist das nicht etwa ein Mangel, sondern ein entschiedener Vorzug seiner Arbeit. Die Arbeit ist gründlich in der Materialsammlung, klar in den inhaltlichen Aussagen, unaufgeregt und gut lesbar in der Darstellung, sie ist, kurz gesagt, gut.
Bochum Karlheinz Muscheler