Hartmann, Peter Claus, Kulturgeschichte
Hartmann, Peter Claus, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806 (= Studien zu Politik und Verwaltung 72). Böhlau, Köln 2001. 510 S., Abb.
Spätestens seit Jacob Burckhardts „Kultur der Renaissance in Italien“ steht fest, daß eine Kulturgeschichte nicht ohne die Verfassungsgeschichte der Gemeinwesen, innerhalb deren die kulturelle Entwicklung stattfindet, geschrieben werden kann. Die Verfassung bildet den Rahmen für die Entfaltung der Kultur und prägt deren Eigenart, ohne daß letztere allerdings ausschließlich durch die Verfassung bestimmt würde. Religiöse und geistige Einflüsse tragen ebenso zur kulturellen Entwicklung bei wie allgemeine politische Strömungen oder andere Einflußnahmen von außen. Umgekehrt ist nicht zu leugnen, daß die Kultur und deren Entwicklung unübersehbar ihre Spuren auch in der Verfassungsentwicklung hinterlassen haben, so daß im Ergebnis Kulturgeschichte und Verfassungsgeschichte einander wechselseitig beeinflussen und bedingen. All dies zwingt dazu, die Kulturgeschichte im geschichtlich gegebenen Rahmen der Verfassungsentwicklung zu betrachten und, was hier freilich nicht zu Debatte steht, die Verfassungsgeschichte nicht ohne einen Blick auf die Kulturgeschichte zu behandeln.
Für die Entwicklung der Kultur innerhalb des mitteleuropäischen Raumes bedeutet dies, daß die Kulturgeschichte sich an den verfassungsgeschichtlichen Gegebenheiten zu orientieren hat, die für diesen Raum bestimmend waren, will heißen, an der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches als dem beherrschenden Gemeinwesen in der politischen Geographie Europas in Mittelalter und Neuzeit. Von dieser Überzeugung geht der Verfasser bei seiner Darstellung der kulturgeschichtlichen Entwicklung für die Zeit von 1648 bis 1806 aus und legt sie seiner Arbeit zugrunde, wobei schon die zeitliche Abgrenzung die Orientierung an der Verfassungsgeschichte erkennen läßt. Denn gerade dieser Zeitraum spielt für die Verfassungsgeschichte der Neuzeit eine besonders signifikante Rolle. Stärker als alle vorausliegenden Perioden ist er durch die rechtliche Verfestigung der Reichsverfassung und damit des verfassungsrechtlichen Rahmens für die kulturelle Entwicklung geprägt und gekennzeichnet.
Im Vordergrund der Darstellung steht zunächst die enge Verbindung zwischen der Verfassung auf der einen und der konfessionellen wie kulturellen Entwicklung auf der anderen Seite. Dem Verfasser kommt es darauf an, sichtbar zu machen, welche Bedeutung den drei durch den Westfälischen Frieden anerkannten Konfessionen für die Entwicklung der Kultur innerhalb des Heiligen Römischen Reiches zukam und welche Rolle die Reichsverfassung hierbei spielte. Nicht zu Unrecht spricht er davon, daß die Reichsverfassung den „idealen Rahmen“ für die konfessionelle und kulturelle Entwicklung abgegeben habe, der, so wird man den Verfasser verstehen dürfen, die conditio sine qua non für die Vielfalt der kulturellen Entwicklung innerhalb des Reiches und den Reichtum der kulturellen Formen gewesen ist. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß sich diese Art der Behandlung der Kulturgeschichte von den bisherigen Darstellungen, etwa dem vielgelesenen Werk von Egon Friedell, das große Räume und Epochen zu überschauen bemüht ist, deutlich unterscheidet. Ein ähnlicher Standpunkt wie der, von dem aus der Verfasser die kulturgeschichtliche Entwicklung in der Mitte Europas betrachtet, ist bisher nur in der Kunstgeschichte vertreten worden und zwar von Wolfgang Braunfels in dessen großangelegtem Werk „Die Kunst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“, wenn auch mit einer anderen Gliederung und vor allem nicht nur für die Zeit von 1648 bis 1806, sondern für den Zeitraum von den Anfängen des Heiligen Römischen Reiches bis zu dessen Ende im Jahre 1806.
Damit ist die Darstellung der Kulturgeschichte für den vom Verfasser behandelten Zeitraum aus der bisher üblichen Vorstellungswelt herausgelöst worden, die seit Wilhelm Heinrich Riehl wesentlich von der Idee einer nationalbezogenen Kulturgeschichte beherrscht wurde und in der bekannten Darstellung von Georg Steinhausen „Kulturgeschichte des deutschen Volkes“ ihren besonderen Ausdruck gefunden hat. In ihr wurde die Entwicklung der Kultur in Mitteleuropa von der germanischen Zeit bis zur Gegenwart unterschiedslos als Kulturgeschichte des deutschen Volkes in Anspruch genommen, ohne daß die Tatsache Berücksichtigung fand, daß sich in dieser Region Europas auch andere Völker und Kulturen befanden. Eine ähnliche Beobachtung läßt sich übrigens auch in den kunstgeschichtlichen Darstellungen dieser Epoche machen, die dezidiert von einer Geschichte der „deutschen Kunst“ sprachen und „deutsch“ als spezifisches Merkmal und Unterscheidungskriterium für die Kunstformen innerhalb des Heiligen Römischen Reiches behaupteten. Namen wie Wilhelm Pinder oder Wilhelm Müseler mögen an dieser Stelle stellvertretend für viele andere genannt werden.
Von dieser nationalen Bezogenheit der kulturgeschichtlichen Tradition hat der Verfasser des vorliegenden Buches, renommierter Inhaber eines Lehrstuhls für Allgemeine und Neuere Geschichte an der Universität Mainz, bewußt Abstand genommen und sich stattdessen für die Orientierung an den verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen entschieden. Das Heilige Römische Reich war nicht nur die beherrschende politische Erscheinung, es bildete in der Tat zugleich den Rahmen für die einzigartige kulturelle Vielfalt in dieser geographischen Region, deren Spuren bis in die Gegenwart erkennbar sind. Seine ohnehin nicht exakt fixierten Grenzen umschlossen nicht nur den deutschen Siedlungsraum, sondern auch Gebiete, die von anderen Völkern besiedelt waren, gleichwohl aber zum Verband des Heiligen Römischen Reiches gehörten. Zu Recht wird daher vom Verfasser betont, daß ein nicht geringer Teil der Gebiete, die bis zum Jahre 1806 zum Heiligen Römischen Reich zählten, heute Bestandteile von Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, aber auch Italien, Frankreich, Belgien, Luxemburg oder den Niederlanden sind. Schon aus diesem Grunde muß es als verfehlt angesehen werden, die kulturelle Entwicklung in diesen Ländern ausschließlich als Teil der Entwicklung der Kultur des deutschen Volkes zu betrachten. Wer eine Geschichte der Kultur des mitteleuropäischen Raumes schreiben will, muß von den geschichtlichen Voraussetzungen ausgehen, die für diese Entwicklung maßgebend waren. Retrospektiver Ethnozentrismus oder Nationalismus ist hier, wie übrigens auch sonst in der Geschichtsschreibung, fehl am Platz.
Entsprechend seiner Grundüberzeugung beginnt der Verfasser zunächst mit der Beschreibung der Reichsverfassung nach deren endgültiger Fixierung im Westfälischen Frieden. Als für die Kulturgeschichte wesentliches Element erkennt der Verfasser hier die reichsrechtliche Garantie der konfessionellen Gleichberechtigung, mit der in der Tat, so wird man hinzufügen dürfen, das fundamentale verfassungsrechtliche Problem des Heiligen Römischen Reiches in der Neuzeit, nämlich die Glaubensspaltung, de iure vorläufig, de facto endgültig gelöst wurde. Sie bildet für ihn die Grundlage neben der religiösen auch für die kulturelle Entwicklung innerhalb des Reiches. Zu Recht weist der Verfasser darauf hin, daß beide nicht zu trennen sind von den unterschiedlichen konfessionellen Verhältnissen, die entscheidend auf die verschiedenen Bereiche der Kultur namentlich in den Territorien des Reiches eingewirkt haben.
In der Folge werden daher vom Verfasser die konfessionellen Verhältnisse im Reich und in den Territorien erörtert, die, wie jeder Fachmann weiß, weitaus komplizierter waren als dies landläufig bekannt ist. Als wichtigstes Ergebnis dieser Schilderung wird man festhalten müssen, daß die konfessionellen Verhältnisse entscheidende Auswirkungen nicht nur auf die religiöse Situation, sondern auch auf das kulturelle Geschehen namentlich in den einzelnen Territorien gezeitigt und einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Vielfalt innerhalb des Reiches geleistet haben. So haben etwa, wie der Verfasser überzeugend darlegt, die theologischen Auseinandersetzungen über die Verwendung von Bildern in den Kirchen maßgeblich zu den territorialen Unterschieden in der Architektur und in der Ausstattung der Kirchen, überhaupt in der Entwicklung der religiösen Kunst beigetragen, und zwar nicht nur im Verhältnis der katholischen zu den protestantischen Territorien, sondern auch innerhalb der protestantischen Territorien zwischen den Territorien des reformierten und denen des lutherischen Bekenntnisses. Wichtigste Folge dieser Unterschiede ist für den Verfasser auf der einen Seite die Dominanz der bildenden Künste im katholisch oder katholisch beherrschten Süden des Reiches und der Lese- und Wortkultur sowie der Pflege der kirchlichen Musik einschließlich des Kirchenliedes in den überwiegend protestantischen Territorien im Norden – übrigens Unterschiede, die in den Auswirkungen bis heute spürbar sind, soweit überhaupt noch Spuren konfessioneller Kultur in unserer säkularisierten Welt verzeichnet werden können. Für die katholisch geprägte Kultur hebt der Verfasser zutreffend die Rolle der Klöster als geistlicher und weltlicher Zentren, aber auch als Zentren mit bildungspolitischer Funktion hervor, der in den protestantischen Ländern das protestantische Pfarrhaus und dessen vielfältige Funktionen entsprachen. Zu Recht wird vom Verfasser die friedensstiftende Wirkung der Regelungen des Westfälischen Friedens vor allem in den gemischtkonfessionellen Territorien und Städten hervorgehoben, durch die nach den konfessionellen Kämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts die Voraussetzungen für das friedliche Nebeneinander der Konfessionen geschaffen wurden, selbst in jenen Territorien, in denen der Landesherr die Konfession wechselte und nach dem Grundsatz „Cuius regio, eius religio“ die Untertanen die Konfession hätten wechseln müssen, was aber häufig genug nicht geschah und auch nicht verlangt wurde.
Für die kulturelle Entwicklung der weltlichen Kultur wird vom Verfasser vor allem die Rolle des Hofes, insbesondere der fürstlichen Höfe und Residenzen betont, die nächst der Kirche und deren Institutionen einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Vielfalt innerhalb des Heiligen Römischen Reiches leisteten. Höfe und Residenzen waren bekanntlich nicht nur Herrschaftszentren, sondern zugleich Stätten von Wissenschaft und Kunst, auch und nicht zuletzt in den kleinen Territorien, wie das Beispiel des Herzogtums Sachsen-Weimar zur Zeit Goethes, eines territorial wie politisch wenig bedeutenden Fürstentums, zeigt. Kulturgeschichtlich betrachtet waren die einzelnen Höfe und Residenzen durchaus unterschiedlich beschaffen. Die Bandbreite reichte vom Hof als Repräsentationszentrale über den Hof als Zentrum der „Musen“ bis zum eher bescheidenen hausväterlichen „Gutshof“ landadeliger Natur und markierte damit zugleich auch die Unterschiede in den kulturellen Formen und Entwicklungsstadien in den einzelnen Ländern des Reiches. Auch dies wird vom Verfasser in eindrucksvoller Weise vor Augen geführt.
Die konfessionellen Verhältnisse und höfischen Kulturunterschiede lassen nicht nur die Verschiedenheiten im einzelnen erkennen, sie bezeichnen zugleich spezifische kulturelle Räume, die unabhängig von den territorialen Grenzen existierten und sich in mancher Hinsicht an den Grenzen von verfassungsmäßigen Einrichtungen des Reiches, namentlich der Reichskreise, orientierten. Die Reichskreise entpuppen sich für den Verfasser auf diese Weise neben ihrer Funktion als Einrichtungen der Reichsverfassung und geographisch wie rechtlich bestimmter Regionen des Reiches als Bildungslandschaften, wie der Verfasser sie nennt, die sich durch eine besondere kulturelle Gestalt wie auch durch eine eigene Entwicklung der Kultur auszeichneten. Vielleicht sollte man besser von Kulturlandschaften sprechen, weil sich diese unterschiedliche Gestalt nicht nur auf die Bildung, sondern auf die kulturelle Entwicklung in ihrer Gesamtheit bezieht. Im Anschluß an einen Vorschlag Anton Schindlings unterscheidet der Verfasser insgesamt fünf Bildungslandschaften, die sich für ihn nicht exakt, aber doch im wesentlichen mit bestimmten Reichskreisen bzw. Gruppen von diesen decken, zwischen denen eine Konkurrenz der Bildungssysteme, aber auch der geistigen Mentalitäten je nach Konfession bestand. In der Chronologie der kulturellen Dominanz sieht der Verfasser die katholischen Regionen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts als führend an, während ab diesem Zeitpunkt, vor allem aber ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, die Führung an die protestantischen überging, nicht zuletzt durch die Aufklärungsbewegung und deren Einfluß auf Philosophie und Wissenschaft, aber auch auf die kulturellen Institutionen.
Am Schluß des notwendig skizzenhaften Berichts über den Inhalt des ebenso informativen wie zugleich anregenden Werkes sei noch einmal das besondere Verdienst hervorgehoben, das sich der Verfasser mit dieser Darstellung einer Geschichte der kulturellen Entwicklung innerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches erworben hat. Er hat nicht nur einen Weg gewiesen, wie die Kulturgeschichte aus ihren traditionellen Bezogenheiten herausgeführt werden kann, sondern zugleich gezeigt, welche Wege in Zukunft bei kulturgeschichtlichen Darstellungen überhaupt beschritten werden müssen. Daß solche Darstellungen angesichts der Vielschichtigkeit des Materials, wie es in der Kulturgeschichte anfällt, für jeden Autor ein Risiko sind, leuchtet unmittelbar ein. Gleichwohl werden sie wohl doch nur von einem einzelnen Autor verfaßt werden können, denn nur ein einzelner Autor dürfte in der Lage sein, die vielfältigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen zu beleuchten und daraus ein einigermaßen geschlossenes Bild des ganzen Geschehens zu formen. Die beliebten Sammelwerke verschiedener Autoren werden kaum in der Lage sein können, eine solche Aufgabe zu erfüllen.
Für den Rechtshistoriker besteht der besondere Vorzug des vorliegenden Werkes nicht nur darin, daß in ihm die kulturelle Entwicklung einer verfassungsgeschichtlich außerordentlich bedeutsamen Epoche vor Augen gestellt wird, sondern vor allem in der Tatsache, daß hier, soweit ersichtlich, zum ersten Mal der Versuch unternommen worden ist, Kulturgeschichte und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches miteinander zu verbinden und die Verfassungsgeschichte als Rahmen für die kulturgeschichtliche Entwicklung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches heranzuziehen. Eine so behandelte Kulturgeschichte enthält für den Rechtshistoriker nicht nur eine Fülle von interessanten Details und Anregungen, sondern liefert ihm mit der Darstellung der geschichtlichen Lebenswirklichkeit und deren Hintergründe auch die Grundlage für die Schilderung der rechtlichen Verhältnisse vergangener Zeiten. Es ist zu wünschen, daß die vorliegende Darstellung, die sich überdies durch eine geschmackvolle typographische Ausstattung auszeichnet, auch insoweit bei den Rechtshistorikern die ihr gebührende Beachtung und Anerkennung findet.
Salzburg Arno Buschmann