Hexenverfolgung und Regionalgeschichte
Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, hg. v. Wilbertz, Gisela/Schwerhoff, Gerd/Scheffler, Jürgen (= Studien zur Regionalgeschichte 4 = Beiträge zur Geschichte der Stadt Lemgo 4). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 1994. 363 S.
Wenn ein Lehrer am Ende seiner Zeit sein Amt schließt, kann er auch unabgeschlossene Überreste hinterlassen. Sie verdienen gleichwohl die Einbindung in den allgemeinen Forschungszusammenhang. Deswegen sollen auch dem unvermuteten Rückläufer wenigstens einige verspätete Zeilen gewidmet werden.
Der Sammelband vereinigt insgesamt 17 Beiträge ausgewiesener Spezialisten zur bekannten, längst noch nicht erschöpften Thematik. Jürgen Scheffler, Gerd Schwerhoff und Gisela Wilbertz leiten gemeinsam in Umrisse und Themen der Hexenforschung in der Region ein. Danach geht es um Konzeptionen und Methoden, um Lemgo und Lippe und abschließend um einen Vergleich.
Ausgangspunkt des kurzen amtlichen Geleitwortes ist die Benennung Lemgos als Hexennest. Sie unterstellt, dass Lemgo mit Lippe zu den Zentren der Hexenverfolgung in Deutschland gehörten. Der Aufarbeitung dieses, mehr als 200 Frauen und Männer vernichtenden menschlichen Verhaltens dienen seit Jahrzehnten verstärkte Forschungen.
In ihrem Zusammenhang weist der erste einführende Gemeinschaftsbeitrag darauf hin, dass in Lemgo 1715 das sog. schwarze Buch, in dem alle Anschuldigungen von Hexen gesammelt worden waren, öffentlich auf dem Marktplatz verbrannt wurde, um die Abkehr von diesem Treiben jedermann vor Augen zu führen. Das war nur gut zweihundert Jahre nach dem ersten bekannten Zaubereiprozess, der in Lemgo 1509 gegen vierzehn Frauen und einen Scholastikus wegen des Todes einer Frau geführt worden war und mit der Hinrichtung siebener Gefangener geendet hatte. Aus dieser Zeitspanne finden sich insgesamt 209 noch erhaltene Prozessakten, eine der umfangreichsten lokalen Überlieferungen zur Geschichte des Hexenprozesses in Deutschland überhaupt.
Die erste große Hexenjagd begegnet dabei in Lemgo ab 1628. In ihr wurden mindestens 110 Menschen der Hexerei beschuldigt. Hingerichtet wurden wenigstens 84 Opfer, darunter anscheinend fünf Männer.
Für die Grafschaft Lippe, einem der vergleichsweise wenigen protestantischen Gebiete mit Hexenverfolgung, ist das erste Verfahren aus dem Jahr 1550 bekannt, das letzte aus dem Jahre 1676. In diesem erweiterten Jahrhundert lassen sich 221 einschlägige Verfahren nachweisen. Sie zeigen ein Übergewicht der Städte gegenüber dem Land.
Auf diesem Hintergrund beschreibt Andreas Blauert im Überblick die Epoche der europäischen Hexenverfolgungen. Sie beginnt zwischen 1430 und 1450 in Frankreich, Italien und der Schweiz und erfährt ihre Höhepunkte zwischen 1560 und 1660. Sie beruht auf diffusen Ängsten und gefährdet Randgruppen überdurchschnittlich.
Eva Labouvie behandelt Hexenforschung als Regionalgeschichte. Dabei stellt sie generelle methodische Problem- und Fragestellungen in den Mittelpunkt, die bei der konkreten Beschäftigung mit Hexenverfolgungen und regionalem Hexenglauben zwar immer nach realisierbaren Lösungen verlangen, über die aber innerhalb der Hexenforschung nach ihrer Ansicht bislang noch zu wenig reflektiert wurde. Mit diesem Instrumentarium zeigt sie, dass der Weg über die regionale Erschließung gewinnbringend und weiterführend ist.
Heide Wunder widmet sich dem Verhältnis von Hexenprozessen und Gemeinde, das herkömmlicherweise von der Fortschrittlichkeit der Stadt gegenüber dem Land ausgeht. Ursula Bender-Wittmann äußert sich zum Verhältnis von Ergebnis, Fragestellung und diskursivem Rahmen am Beispiel der Lemgoer Hexenjagden. Christine Meier erkundet die Anfänge der Hexenprozesse in Lemgo und stellt dabei fest, dass die Bezeichnung Hexe in den Prozessen des 16. Jahrhunderts nur in den Verfahren gegen Johan Büchsenschütz (1566) und Mette Nieman (1592) Verwendung findet. Ursula Bender-Wittemann fragt nach Hexenglaube als Lebensphilosophie und untersucht dabei den informellen Hexendiskurs und die nachbarschaftliche Hexereikontrolle in Lemgo zwischen 1628 und 1637. Gabriele Urhahn rollt den von Gisela Wilbertz eindrucksvoll biographisch vertieften Fall der am 15. April 1681 hingerichteten Maria Rampendahl auf, der das Ende der Lemgoer Hexenprozesse bildet.
Fünf weitere Beträge betreffen Lippe. Dabei behandelt Ingo Koppenborg die soziale Funktion städtischer Hexenprozesse an Hand der lippischen Residenzstadt zwischen 1599 und 1669. Ingrid Ahrend-Schulte exemplifiziert am Fall Ilse Winter in Donop 1589 die Frage der Hexenprozesse als Gegenstand historischer Frauenforschung. Rainer Walz wendet sich für die Grafschaft Lippe von 1654 bis 1663 der Bedeutung von Kindern in Hexenprozessen zu. Lippische Hexenprozesse vor dem Reichskammergericht untersucht Peter Oestmann und kommt dabei an Hand des Verfahrens gegen Maria Rampendahl zu dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass der Prozess, auch wenn ihn die Stadt Lemgo formal gewann, zur Beendigung der Hexenverfolgung beitrug. Jürgen Scheffler beschließt die regionalen Beiträge mit einem Aufsatz zum Hexenglauben in der ländlichen Gesellschaft (in Lippe) im 19. und 20. Jahrhundert, in dem die Schaumburger Zeitung noch am 16. Januar 1935 den Böxenwolf im Extertal spuken lässt.
In abschließenden Vergleichen greifen Rainer Decker auf teuflische Besessenheit und Hexenverfolgung in Paderborn, Rietberg und Reckenberg (1657-1660) aus, Gerhard Schormann auf die Fuldaer Hexenprozesse und die Würzburger Juristenfakultät und Gerd Schwerhoff auf Hexerei, Geschlecht und Regionalgeschichte - Überlegungen zur Erklärung des scheinbar Selbverständlichen. Angefügt sind außer einer Sammlung von Literatur in Auswahl kurze biographische Notizen über die Autorinnen und Autoren. Auch wenn der Band seine vielfältigen Ergebnisse nicht durch ein Register erschließt, wird man der Zwischenbilanz der Herausgeber darin zustimmen können, dass Hexenwesen und Hexenverfolgung auffällige sozialgeschichtliche Phänomene der frühen Neuzeit sind, deren Erforschung weiterhin Aufmerksamkeit und Erfolg verspricht.
Innsbruck Gerhard Köbler