Lepsius, Susanne, Der Richter
Lepsius, Susanne, Der Richter und die Zeugen. Eine Untersuchung anhand des Tractatus testimoniorum des Bartolus von Sassoferrato. Mit Edition (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 158). Klostermann, Frankfurt am Main 2003. XVIII, 439 S.
Der Tractatus testimoniorum (tractatus de testibus)[1] des Bartolus zählt zu dessen Spätwerken und ist stark philosophisch geprägt. Die Forschung hat sich bisher nur auf die gedruckten Ausgaben des Textes gestützt (S. 105).
Die Verfasserin, eine Schülerin von Gerhard Dilcher, hat nun eine vorzügliche, textkritische Edition dieses Werkes vorgelegt und dazu eine eingehende Analyse verfasst. Mehrfach[2] wird auf eine weitere, schon im Druck befindliche Untersuchung verwiesen: „Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato“. In diesem Folgeband soll eine genaue dogmatische Einordnung des Textes „in den Fluß des gelehrten Beweisrechts erfolgen (p. X); es soll hier „der dogmatische und philosophische Hintergrund, vor dem Bartolus schrieb“, dargestellt werden (S. 193).
Im ersten Kapitel (S. 3-46) des Teiles A („Annäherungen an einen Text“) gibt die Verfasserin eine knappe Darstellung des gerichtlichen Beweisverfahrens von der Antike bis zur Gegenwart (S. 7ff.). Sie stellt hier die drei Begriffe Rationalität, Wahrheit und Freiheit in den Vordergrund und unternimmt eine systematische und theoretische Betrachtung dieser Eckbegriffe (S. 36ff.). Sie äußert Bedenken gegen die „Fortschrittsgeschichte“ des Beweisrechts; nach herrschender Lehre habe sich das Beweisrecht seit der Völkerwanderungszeit kontinuierlich aufwärts entwickelt. Die Einführung bzw. Wiederentdeckung der Zeugen als echter Wahrnehmungszeugen wird von der Literatur als bedeutende Rationalisierung durch das römisch-kanonische Prozessrecht gewürdigt (S. 14). Die irrationalen Beweismittel des germanischen Rechts (Leumundszeugen, Eid, Gottesurteile) seien mehr und mehr zurückgedrängt worden. Allerdings habe im römisch-kanonischen Recht und im gemeinen Prozessrecht keine freie Beweiswürdigung gegolten, wie dies im klassischen römischen Recht der Fall war (Dig. 22. 5. 3)[3], sondern eine „Hierarchie der Beweise“, eine gesetzliche Beweistheorie mit festen Beweisregeln (S. 15). Für das römisch-kanonische Prozessrecht, das in den ordines iudiciarii des 11. bis 13. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt, ist auf die grundlegende Arbeit von W. Litewski, Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii (2 Bände, Krakau 1999) hinzuweisen[4].
Die Verfasserin (S. 28ff.) stellt relativierende Betrachtungen zum Fortschrittsmodell an. So äußert sie (S. 32) Zweifel an der Fortschrittlichkeit des Prinzips der freien Beweiswürdigung, da darin stets ein Moment der richterlichen Willkür und somit auch ein Stück Irrationalität liege. In ihrer Arbeit konzentriert sich die Verfasserin auf den Zeugenbeweis und auf einen Text, den Tractatus testimoniorum des Bartolus, das Werk eines Legisten. Sie will am Einzelfall studieren, „ob und wie die entworfenen Begriffe der Rationalität, Wahrheit und Freiheit zur Charakterisierung dieses Textes und seines Beweisverständnisses verwendbar sind“ (S. 44). In der vorliegenden Arbeit soll „die Bedeutung des Textes vor allem anhand seiner Überlieferungsgeschichte bestimmt werden und die wesentlichen Gedanken des rekonstruierten Textes mit der Sicht der Forschungsliteratur zum mittelalterlichen Beweisrecht kontrastiert werden“ (S. 44).
Das zweite Kapitel (S. 47-103) befasst sich mit den Texten, den Lesern und der Überlieferung des Tractatus testimoniorum. Dieser Traktat ist einer der letzten Texte, an denen Bartolus parallel zu den Traktaten De armis et insigniis und De Fratribus bis zu seinem Tode arbeitete (S. 50). Die Verfasserin untersucht aufgrund der gesamten handschriftlichen Überlieferung die Verbreitung der Handschriften in geographischer Hinsicht, wobei sie auch den ursprünglichen Eigentümern der Manuskripte nachgeht (S. 73ff.). Sie führt insgesamt 43 Handschriften an (Appendix 1, S. 329ff.). Ein Autograph des Textes von Bartolus ist nicht bekannt. Sehr stark waren die Handschriften in Dombibliotheken vertreten (S. 76f.); Besitzer der Handschriften waren also vielfach Kleriker[5]. Die Auseinandersetzung der Leser mit dem Traktat fand ihren Niederschlag in weiteren juristischen Allegationen (vgl. Appendix 2, S. 365ff.).
Wie die Verfasserin wahrscheinlich macht, verfasste Bartolus zunächst eine Kurzform des Traktats, später eine Langform, wobei er für die cap. 46 b bis 125 nur den Haupttext und keine Allegationen mehr verfassen konnte (S. 100).
Das dritte Kapitel (S. 105-193) befasst sich ausführlich mit dem Text, der literarischen Gattung, der inhaltlichen Struktur und den Zielgruppen. Ab dem 13. Jahrhundert sind Traktate als neue und beliebte Gattung juristischer Literatur aufgekommen (vgl. S. 107). Bartolus selbst bezeichnet seine Abhandlung zum Zeugenbeweis als liber testimoniorum; die ersten zwanzig Kapitel seines Werkes benennt er als tractatus universalium pertinentium ad testium dicta (cap. 20), worauf die Einzelausführungen folgen. Ob Bartolus mit dem Ausdruck liber auf den prozessualen Zusammenhang (libellus als Klageschrift) hinweisen wollte, wie die Verfasserin meint (S. 110), erscheint sehr fraglich. Die Drucke des Werkes sprechen regelmäßig von tractatus de testibus, die Handschriften nach dem Anfangswort im Traktat häufig von tractatus testimoniorum (S. 108).
Eingehend analysiert die Verfasserin (S. 111ff.) die Struktur des Textes, wobei sie insbesondere die juristische Arbeitsweise des Bartolus untersucht. Dieser verwendet scholastische Kategorien, insbesondere die aristotelisch-thomistischen (S. 115, vgl. S. 187). In den cap. 1 - 20 des Traktats entwickelt Bartolus „allgemeine“ Grundsätze (Verf. S. 126ff.), insbesondere das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Bartolus geht dabei von der Digestenstelle 22. 5. 3. 1 aus. Er betont aber, dass damit dem Richter keine freie Entscheidung nach Willkür eingeräumt sei (cap. 1: ... principem non in sola iudicis potestate hoc posuisse), sondern dass dieser bei der Beweiswürdigung verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen habe (S. 127). Im Folgenden (cap. 2 - 19) geht Bartolus auf die Pflicht des Zeugen ein, seine Aussage zu begründen (abgeleitet aus Nov. 90 c. 2).
In den cap. 20 - 125 behandelt Bartolus „spezielle Fragen“, wobei er das traditionelle scholastische Einteilungschema nach der Substanz und den Akzidentien anwendet (dazu Verf. S. 132ff.). Hier behandelt er etwa Fragen wie Sorgfalt (prudentia, cap. 69 - 92), Arglist (dolus, cap. 100 - 106) und die Abstufungen von culpa (cap. 107 - 125): culpa latior, lata, levis, levior, levissima.
Der Traktat richtet sich nach Aussage des Bartolus (im Proömium) einerseits an akademisch gebildete Männer (viri scolastici), andererseits an Praktiker (causidici) (Verf. S. 190f.). Vielfach verweist die Verfasserin bei ihren Ausführungen auf den angekündigten Folgeband[6].
Teil B hat die Rekonstruktion des Textes zum Gegenstand. In ihrer Einleitung zur Edition (S. 197-231) stellt die Verfasserin methodische Vorüberlegungen an, untersucht die Gruppenzugehörigkeit der Handschriften (S. 201ff.) und bietet ein Stemma der Handschriften, die eine Langform des Textes enthalten sowie die abgekürzten „Mittelformen“ (S. 219, vgl. S. 200). Der Edition zugrunde gelegt wird die Handschrift Va (Città del Vaticano, Barb. lat. 1398), 14. Jahrhundert[7]. In der Edition (S. 233 - 328) finden sich in den Fußnoten ein Quellenapparat (Verweise auf Rechtsquellen) sowie Textvarianten. Herangezogen wurden hiefür fünf Handschriften. Mit der ersten gedruckten Ausgabe der Bartolustraktate, Consilien und Quästionen durch Wendelin von Speyer in Venedig 1472 wurde eine gravierende Umstellung der Kapitelreihenfolge vorgenommen, die sich in der beibehaltenen Numerierung der Kapitel in der Textedition ablesen lässt (S. 223).
Appendix 1 (S. 329-363) enthält eine Handschriftenliste zum Traktat, Appendix 2 (S. 365-396) eine Zusammenstellung der Randglossen in den Handschriften (vgl. S. 228). Es folgen ein Quellenverzeichnis (S. 397ff.), ein Literaturverzeichnis (S. 401ff.), ein Handschriften- und Quellenregister (S. 421ff.), ein Personenregister (S. 431ff.) und ein Sachregister (S. 435ff.).
Wir sind der Verfasserin für diese textkritische Edition, die höchsten Ansprüchen genügt, zu großem Dank verpflichtet. Dem Folgeband, der die dogmatische Einordnung des Textes in die Entwicklung des Beweisrechts bringen wird, sehen wir mit Interesse entgegen.
Graz Gunter Wesener
[1] Vgl. J. L. J. van de Kamp, Bartolus de Saxoferrato 1313 - 1357. Leven - werken - invloed - beteekenis (Amsterdam 1936) 69f.
[2] S. 45 Anm. 141; S. 53 (Anm. 19); S. 193 (Anm. 167); S. 206 Anm. 30.
[3] Vgl. S. 8 u. 24.
[4] Dazu M. Bellomo, ZRG Rom. Abt. 119 (2002), 541 ff.; Wesener, in diesem Band.
[5]Eine Handschrift befand sich im Benediktinerstift St. Lambrecht (Steiermark), wohin sie der Bologneser Baccalaureus utriusque juris Heinrich von Lobenstein gebracht hatte (S. 74 u. 80). Nunmehr Hs. Universitätsbibliothek Graz Nr. 59; dazu Verf. 337f. Zu Heinrich von Lobenstein vgl. G. Knod, Deutsche Studenten in Bologna (1289-1562), Berlin 1899, S. 308 f., Nr. 2130. Zum Einfluss von Bartolus in Österreich G. Wesener, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il VI centenario, I (Milano 1962) 89ff.
[6] Siehe oben bei Anm. 2.
[7] Vgl. dazu V. Colli, Ius Commune 25 (1998) 323 ff.