Meder, Stephan, Rechtsgeschichte
Meder, Stephan, Rechtsgeschichte. Eine Einführung (= UTB 2299). Böhlau, Köln 2002. XIII, 370 S.
Eine neue Rechtsgeschichte in Taschenbuchformat liegt vor, verfasst vom Hannoveraner Rechtshistoriker und Privatrechtler Stephan Meder. Sie umfasst 20 Kapitel. Die ersten vier Kapitel sind dem römischen Recht mit Zwölftafelgesetz, Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der römischen Rechtskultur, dem Prinzipat sowie der Spätzeit bis zur justinianischen Kodifikation gewidmet. Dann folgen zwei Kapitel zu den Stammesrechten und den Rechtsbüchern, das erste von der Spätantike bis zur Teilung des karolingischen Reiches und eines zu den Rechtsaufzeichnungen des Hoch- und Spätmittelalters. Kapitel 7 thematisiert das kanonische Recht. Die folgenden vier Kapitel befassen sich mit der Rezeptionsgeschichte, den Universitätsgründungen, dem Humanismus sowie den Stadt- und Feudalrechten. Kapitel 12 und 13 haben die Naturrechtsschule und die Kodifikationsbewegung zum Gegenstand. Die folgenden vier Kapitel greifen einige Aspekte des 19. Jahrhunderts, so die historische Rechtsschule, die erste Generation der Savigny-Schüler, die deutsche Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf. Die Kapitel 18-20 befassen sich mit der Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz, dem Nationalsozialismus und den Rechtsbildungen nach 1945. Jedes Kapitel schließt mit einer Auswahlbibliographie.
Der Autor setzt sich zwei Ziele: 1. Romanistik und Germanistik mit Bezug auf die modernen Kodifikationen, namentlich das Bürgerliche Gesetzbuch integrativ zu behandeln, und 2. in didaktischer Hinsicht von „möglichst geringen Voraussetzungen auszugehen“ (Vorwort). An diesen beiden Zielsetzungen ist das Buch zu messen. Vorweg kann festgehalten werden: Der Autor erreicht seine Zielsetzungen.
Mit Blick auf eine spätere Überarbeitung lassen sich indes auch einige Wünsche vielleicht schon vormerken: Thematisch bildet Meders Buch eine Schnittmenge aus bisher bekannten und auch neueren Lehrbüchern mit Schwerpunkt auf der Entwicklung des Privatrechts, wie Ziff. II der Einleitung „vom römischen Recht zum europäischen ius commune“ auch klarstellt. Es handelt sich also nicht um eine Rechtsgeschichte im klassischen Sinn. Diese Schnittmenge ist auch nicht homogen gestaltet. Sie spitzt sich, je mehr wir uns dem 19. Jahrhundert nähern, auf das Bürgerliche Gesetzbuch zu. Dadurch wird die kulturelle Einbettung des Rechts vernachlässigt, welche bei der Darstellung des Mittelalters noch Beachtung fand, und wo es selbst für einen abwegig scheinenden Vergleich des Begriffs des Schattens in Eike von Repgows Sachenspiegel mit Hugo von Hofmannsthals Libretto für Richard Strauss’ Meisterwerk „Die Frau ohne Schatten“ noch Platz gab (106). Die Darstellung des Privatrechts des 19. Jahrhunderts wird somit unnötig dogmatisch verengt. Alles konzentriert sich auf die Kodifikationsfrage und die berühmten romanistischen Protagonisten. Andere Themen und Personen werden beiseite gestellt. Zwar erscheint der Name von Karl Marx, doch bloss als Kritiker von Savignys Volksgeistlehre (242), nicht jedoch als massgeblicher Theoretiker des Kommunismus. Die sozialen Aspekte der Industrialisierung entfallen ganz, sie sind bestenfalls unter dem Gegensatzpaar des formalen und materialen Rechts angedeutet (293ff); auch die Erwähnung der Kritik von Gierke und Menger am BGB-Entwurf unter dem Stichwort der sozialen Frage leistet dies nicht (285f.). Selbst Fragen der Nationalstaatsbildung Deutschlands und die Gründung des zweiten Kaiserreichs erhalten nur unter dem Blickwinkel der Kodifizierung des Privatrechts Bedeutung (277ff.). Bedauerlich aber ist, dass der Begriff des Privatrechts so eng mit dem Bürgerlichen Gesetzbuchs verknüpft wird, dass die zentralen Themen des Wirtschaftsrechts des 19. Jahrhunderts wie die Ausbildung des Gesellschafts-, Wertpapier- und Aktienrechts kein Thema sind. Kein Thema ist auch der Erste Weltkrieg. Geradezu stereotyp werden die Probleme der Begründung der Rassenlehre und des Imperialismus auf den Nationalsozialismus abgewälzt (307, 317ff). Betreffend die Darstellung des 19. und 20. Jahrhunderts kann meiner Meinung nach Stephan Meders Rechtsgeschichte nicht mit Ulrich Eisenhardts „Deutscher Rechtsgeschichte“ konkurrieren.
Wenn mit Bezug auf Fragen der kritischen Darstellung der Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts doch gewichtige Vorbehalte anzubringen sind, so kann die Selbstdeklaration des Buchs laut Rückseite „didaktisch gut aufbereitet“ bestätigt werden. Die Linienführung auf Fragen im Kontext des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist, gerade weil sie konsequent reduktiv gehandhabt wird, klar. Das Buch ist für Erstsemestrige verständlich geschrieben, wie Rückmeldungen aus meiner Vorlesung bestätigen. Allerdings sollte man sich keiner Illusion hingeben: Für Viele ist selbst dieses verständlich verfasste Buch sprachlich und inhaltlich noch allzu anspruchsvoll. Denn es fordert Gedächtnisleistung, um bescheidene Verknüpfungsleistungen fürs Verständnis der späteren Kapitel zu ermöglichen. Auch arbeitet dieses Buch – wie es sich für ein gutes Buch gehört – mit Fachausdrücken.
Wir Rechtshistoriker und Rechtshistorikerinnen sollten uns daher alle grundsätzlich fragen, ob wir uns beim Verfassen von Büchern und bei der Gestaltung des Unterrichts von jenem pädagogisch unterfordernden Parameter des Niveaus jener Studierenden leiten lassen, die vieles in den Mittelschulen nicht mehr mitbekommen haben oder aus Bequemlichkeit nicht genügend gefordert wurden, oder ob wir, ohne akademischen Dünkel, nicht zielbewusst einmal aussprechen und klarstellen sollten, was zu gelten hat: Wir fordern eine Denkleistung und Erinnerungsarbeit, die bisweilen auch an die Grenzen geht, denn wer einmal jene gesellschaftlich und rechtlich komplexen Herausforderungen juristisch meistern will, für die er oder sie heute Recht studiert, bedarf der Weite des Horizonts und des dauernden Trainings des juristischen Denkens. Wir sollten uns selbst in dieser Hinsicht soviel Mut wünschen, das Niveau der Rechtsgeschichte bewusst voraussetzungsreich zu gestalten. Es gibt übrigens zahlreiche Studierende, die dafür dankbar sind, und auch dies sollte uns Motivation sein, in die richtige Richtung zu gehen.
In dem Sinn ist auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches mit auf den Weg zu geben: Rechtsgeschichte soll grundsätzliche Informationen und Kontexte des Wissens in Erinnerung bringen und zum selbständigen und kritischen Denken in gesellschafts- und rechtspolitischer Hinsicht anregen und anleiten.
Zürich Marcel Senn