Schulz, Günther, Die deutschen Angestellten seit dem 19. Jahrhundert
HromadkaSchulz20000908 Nr. 10102 ZRG 118 (2001)
Schulz, Günther, Die deutschen Angestellten seit dem 19. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 54). Oldenbourg, München 2000. IX, 152 S.
Seit 1994 ist das Thema Arbeiter/Angestellte für die Rechtswissenschaft im Grunde kein Thema mehr. Mit dem Entgeltfortzahlungsgesetz hat der Gesetzgeber den letzten gesetzlichen Unterschied zwischen den beiden Großgruppen beseitigt, nachdem er vorher schon Kündigungsfristen sowie Beiträge und Leistungen in der Sozialversicherung vereinheitlicht hatte. Geblieben sind lediglich einige wenige nunmehr funktionslose Verfahrensregelungen: Gruppenrechte in den Mitbestimmungsgesetzen und die Gliederung der Rentenversicherungsträger in Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Landesversicherungsanstalten. Mit dem geplanten Aufgehen der DAG in ver.di wird die Sonderbehandlung der Angestellten ihren stärksten Fürsprecher verlieren. Dagegen ist die organisatorische Scheidung in Rentenversicherungsträger für Arbeiter und für Angestellte zu einem Bund‑/Länderproblem geworden, für das eine Lösung noch nicht aufscheint. Das zwingt die Praxis auch in Zukunft, jeden Arbeitnehmer der einen oder anderen Gruppe zuzuordnen.
Die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten gerade jetzt kommt nicht von ungefähr. Tätigkeit und Entgelt haben sich längst angeglichen. Wichtiger noch: Seit 1987 gibt es mehr Angestellte als Arbeiter, und der Anteil der Angestellten wächst mit dem Ubergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft unaufhaltsam weiter. Eine Minderheit kann zu Lasten einer Mehrheit Sondervorteile genießen, die Mehrheit zu Lasten der Minderheit nicht. Die Praxis hat sich dementsprechend längst neuen Themen zugewandt: Das war ‑ vor allem in den 70er Jahren ‑ die Abgrenzung der leitenden Angestellten, und das ist heute die Abgrenzung ganz generell der Arbeitnehmer von den Selbständigen. Mit immer fließender werdenden Außengrenzen wird die Binnenstruktur zu einer eher zweitrangigen Frage.
Wenn Schulz nunmehr eine Bestandsaufnahme der Angestelltenforschung vorlegt, so ist der Zeitpunkt gut gewählt. Der politische Anreiz, sich mit dem Recht der Angestellten zu beschäftigen, der etwa noch die Untersuchung von Nikisch bestimmt hatte („Zur Neuabgrenzung der Begriffe Angestellter und Arbeiter“, Schriften der Gesellschaft für sozialen Fortschritt e.V., 1959), ist der Neugier des Forschers gewichen, der einfach nur wissen will, wie es war. Allerdings läßt mit dem politischen Interesse offenbar auch die Neugier nach; die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema „Angestellte“ ist in den 90er Jahren erheblich zurückgegangen.
Das Buch von Schulz gliedert sich in zwei Teile. Im ‑ kürzeren ersten gibt Schulz einen „enzyklopädischen Überblick“ über die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, im umfänglicheren zweiten schildert er die „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“. Gibt der erste Teil sozusagen eine Momentaufnahme der Angestelltenforschung, wie sie sich dem Blick des Verfassers heute darstellt, so zeigt der zweite die Mosaiksteinchen, aus denen sich das Bild der Angestellten zusammensetzte und zusammensetzt und mit der Zeit und mit jedem Forschungsergebnis veränderte. Daß es dabei zu Überschneidungen kommt, liegt in der Natur der Sache, wird aber dadurch mehr als ausgeglichen, daß dem Leser ein Blick in die Werkstatt des Historikers gestattet wird.
Für den Juristen ist natürlich besonders interessant, wie Schulz die rechtsgeschichtliche Entwicklung und die Wechselwirkung von Recht und sonstigen sozialen Tatsachen sieht. Knapp und treffend zeichnet er die Entwicklungslinien nach: vom Berufsgruppenrecht im 19. Jahrhundert zum einheitlichen Angestelltenrecht um die Jahrhundertwende mit dem Scheitelpunkt am Ende der Weimarer Zeit (1926 längere Kündigungsfristen für ältere Angestellte, 1930/31 unabdingbare Gehaltsfortzahlung bei Krankheit) und ‑ beginnend im Dritten Reich ‑ zur Angleichung von Angestelltenrechtund Arbeiterrecht mit dem vorläufigen Schlußpunkt im Jahre 1994. Daß sich „Angestellte“ als Oberbegriff für die Angestelltengruppen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzt ‑ noch das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 spricht tastend vom „Dienstverhältnis der mit festen Bezügen zur Leistung von Diensten höherer Art Angestellten“ (§ 622) ‑, verwundert angesichts der Vorgeschichte nicht. Eigentlicher Motor der Gruppenbildung war aber die Sozialversicherung. Die 2000‑Mark‑Grenze für die Versicherungspflicht, die nur für die Angestelltengruppe galt, zwang zu trennscharfer Abgrenzung, der Kampf um eine bessere Altersversorgung nach österreichischen Vorbild seit der Wirtschaftskrise von 1900/1902, der mit dem Angestelltenversicherungsgesetz von 1911 endete, schuf ein gemeinsames Bewußtsein. Die Einbeziehung in die Rentenversicherung wiederum entschied darüber, wer künftig zu den Angestellten gehörte. Bezeichnenderweise nahmen ‑ und nehmen arbeitsrechtliche Gesetze auf das Sozialversicherungsrecht Bezug; eine eigene arbeitsrechtliche Definition gelang nicht und konnte bei der Heterogenität der Betroffenen nicht gelingen. Das „überwiegend geistig tätig“ kaschiert nur notdürftig, daß man sozusagen den Begriff „Baum“ so bestimmen müßte, „daß Rosen und Veilchen darunterfallen, alle anderen Blumen aber nicht“ (Potthoff, Arbeitsrecht, Band 1 1914, S. 101). Vielleicht hätte Schulz deutlicher machen können, daß der Unterschied im Recht der Arbeiter und Angestellten immer nur ein Unterschied der Stetigkeit des Arbeitsverhältnisses war. Daß die Praxis weitere Unterschiede kannte, vor allem eine stärkere Kontrolle der Arbeiter, steht auf einem anderen Blatt.
Schon im Vorwort zeichnet Schulz, in knappe Worte zusammengefaßt, den Wandel vom Bild der Angestellten nach: „Lange galt es als ausgemacht, daß die Angestellten mehrheitlich eine rückwärtsgewandte, traditionsbestimmte gesellschaftliche Kraft gewesen seien, die ‑ wenn ihre Ansprüche auf gesellschaftliche Geltung nicht erfüllt wurden ‑ zu ständischem, rechtsgerichtetem Protest neigten, insbesondere in der Weltwirtschaftskrise und beim Aufstieg des Nationalsozialismus. Die neuere Forschung hingegen hat ... gezeigt, daß ein Konglomerat aus traditionellen und modernen Faktoren die Angestellten kennzeichnet ... Heute kristallisiert sich heraus, daß die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle bei der sozialen Sicherung hatten und gesellschaftspolitische Modernisierer waren. Gegenwärtig scheinen sie zum Muster für die Arbeitnehmergesellschaft insgesamt zu werden; dabei verfließen die Grenzlinien zu den anderen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten, und die inneren Differenzierungslinien werden stärker.“ Die von Schmoller „interessegeleitet“ geprägte Einordnung als „neuer Mittelstand“ sei der Erkenntnis gewichen, daß die Angestellten eine Schicht seien, deren Mitglieder ursprünglich in der Tat aus dem alten Mittelstand kamen und deren Gemeinsamkeit nicht zuletzt im Streben nach Aufstieg und in der Sorge vor Proletarisierung bestand. Dem ist wenig hinzuzufügen.
Besonders interessant für den, der sich mit Entwicklung und Stand der Forschung vertraut machen will, ist der zweite Teil der Arbeit. Schulz spannt den Bogen weit: von den Definitions‑ und Abgrenzungsproblemen, der gesellschaftlichen Stellung („Klasse ‑ Stand – Schicht“), den weiblichen Angestellten, der Frage, ob die Angestellten Vorreiter der Modernisierung waren, über Berufsverbände, Gewerkschaften und politische Organisationen, den Alltag der Angestellten (einschließlich ihrer Rolle in Literatur und Film) bis hin zu ihrer Stellung im internationalen Vergleich. Gut erforscht sieht Schulz die Abgrenzung der Angestellten von den Arbeitern, ihre arbeitsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Stellung und ihre Tätigkeit in den Großbetrieben. Als Desiderata nennt er die Geschichte der Angestelltengruppen vor 1870, ihre Arbeitsverhältnisse in Kleinbetrieben und in Mittelbetrieben und generell beim Staat und im Dienstleistungsbereich sowie ihr Verhältnis zu den Beamten. Lücken bestünden auch bei der Erforschung der Angestelltenschichtung im Unternehmen. Hier gäbe die juristische Literatur, die insbesondere in den 70er Jahren entstanden ist, einiges her. Daß sich die leitenden Angestellten auf einer halben Seite wiederfinden und die außertariflich bezahlten Angestellten überhaupt nicht erwähnt werden, wird der Bedeutung dieser Gruppen in der Tat nicht gerecht.
Schulzs Buch istgerade für den Juristen eine wertvolle Bereicherung. Die Nachbarwissenschaften geben seinem eher intuitiv erfühlten Bild vom Angestellten die notwendige Tiefenschärfe, und sie lassen ihn erkennen, welche Kräfte die Rechtsentwicklung zumindest mit geprägt haben. Zugleich bieten sie ihm Fingerzeige für rechtspolitische Erwägungen. Wenn man angesichts der verdienstvollen Bestandsaufnahme von Schulz überhaupt einen Wunsch aussprechen darf, dann den, daß sie dazu anregen möge, die Ergebnisse der Schwesterwissenschaften noch stärker zur Kenntnis zu nehmen ‑ das gilt in beide Richtungen.
Passau/Prag Wolfgang Hromadka