Das Lüth-Urteil

aus (rechts-)historischer Sicht – die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, hg. v. Henne, Thomas/Riedlinger, Arne. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005. XIII, 592 S. Besprochen von Wolfgang Pöggeler.

Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht – die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, hg. v. Henne, Thomas/Riedlinger, Arne. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005. XIII, 592 S.

 

Ein Glücksfall ist das Lüth-Urteil und seine prozessuale und außerprozessuale Vorgeschichte für den rechtshistorischen Unterricht. Denn einer der Darsteller verkörpert das Teuflische, einer das Zwielichtige und einer das Aufrichtige. Es handelt sich in der Reihenfolge ihres Auftretens um den Nazipropagandaminister Joseph Goebbels, den Regisseur Veit Harlan und den liberalen Publizisten Erich Lüth. Eine solche Konstellation zieht die Teilnehmer einer Vorlesung gewissermaßen automatisch in ihren Bann.

 

Am Anfang steht der Kinofilm „Jud Süß“, der 1940 unter der Regie von Veit Harlan entstand. Er war einer von drei Filmen, die in einem nahen zeitlichen Zusammenhang anliefen und von Goebbels ausdrücklich als antisemitisch in Auftrag gegeben wurden. Von „Jud Süß“ erhofften sich die nationalsozialistischen Machthaber einen großen Erfolg beim Kinopublikum; und ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Mehr als 20 Millionen Menschen sahen das Melodram. Die Handlung war weitestgehend völlig frei erfunden. Sie folgte weder konsequent dem historischen Schicksal des Joseph Süß Oppenheimer, noch den  verschiedenen literarischen Vorlagen. Im Kontext seiner Zeit gesehen ist der Film eines der übelsten Beispiele für antisemitische Hetze, und zwar auch deshalb, weil er zunächst nicht platt und primitiv daherkommt.

 

Veit Harlan wurde nach dem Krieg vor dem Hamburger Schwurgericht wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt, jedoch freigesprochen. Das Gericht vermochte eine Kausalität zwischen der Mitwirkung Harlans am Film und der Verfolgung und Ermordung von Juden nicht zu erkennen. Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone sah diesen Punkt etwas anders, hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück. Am 29. April 1950 kam das Schwurgericht im neuen Verfahren jedoch zu einem erneuten Freispruch. Diesmal billigte es Harlan im Hinblick auf die Intervention Goebbels Nötigungsnotstand zu.

 

In verschiedenen bundesdeutschen Städten kam es zu Protesten gegen den Freispruch. Im September 1950 forderte Erich Lüth zum Boykott der Filme Veit Harlans auf, insbesondere des damals aktuellen Streifens „Unsterbliche Geliebte“. Lüth war Vorsitzender des Hamburger Presseklubs und beruflich Senatsdirektor und Leiter der Staatlichen Pressestelle. Er war eine Person, die man in der Hansestadt kannte.

 

Die Filmproduktionsgesellschaft und der Verleih erwirkten beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Lüth, in der ihm ein weiterer Aufruf zum Boykott der „Unsterblichen Geliebten“ verboten wurde. Im Hauptsacheverfahren bestätigte das Landgericht die einstweilige Verfügung. Ende 1951 legte Lüth gegen dieses Urteil Verfassungsbeschwerde ein. Am 15. Januar 1958 gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde statt. Mit dieser Entscheidung (BVerfGE 7, 198), die jeder deutsche Jurist kennt, räumte das Gericht der Meinungsfreiheit Erich Lüths im konkreten Fall den Vorrang vor den Interessen der Filmgesellschaft ein und  begründete und erläuterte die Wirkung der Grundrechte im bürgerlichen Recht.

 

Der vorliegende Tagungsband und das damit vorläufig abgeschlossene Forschungsprojekt ist ein seltener Glücksfall. Denn hier werden Teilnehmer unterschiedlicher Wissenschaften zusammengeführt, um den Gegenstand zu beleuchten. Rechtshistoriker, Politologen, Germanisten, Historiker, Medienwissenschaftler etc. leisten ihren Beitrag aus der Perspektive ihres Faches. Es handelt sich methodisch gewissermaßen um einen „ganzheitlichen“ Ansatz der Rechtsgeschichte. Davon wünscht man sich mehr, insbesondere in der neueren Rechtsgeschichte.

 

Sämtliche Beiträge sind lesenswert, ob sie nun von etablierten Teilnehmern wie Michael Stolleis, Wolfgang Graf Vitzthum, Ilse Staff, Rainer Wahl und Wilhelm Hennis stammen, oder aus dem akademischen Mittelbau oder der cineastischen Welt. Sehr hilfreich ist ein umfangreicher Anhang mit Materialien zum Film „Jud Süß“, Dokumenten zu den verschiedenen Prozessen gegen Veit Harlan, zum Zivilverfahren zwischen Erich Lüth und der Filmindustrie und zum Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Zu diesem Buch kann man den Herausgebern nur gratulieren.

 

Berlin                                                                                                             Wolfgang Pöggeler