Das Wissen des Staates
Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, hg. v. Collin, Peter/Horstmann, Thomas (= Schriften zur Rechtspolitologie 17). Nomos, Baden-Baden 2004. 498 S. Ill., graph. Darst.
„Nam et ipsa scientia potestas est.“ Oder: „Scientia et potentia humana in idem coincidunt.“ [Francis Bacon, Vorwort, in: Neues Organon, Hamburg 1990] – Wissen ist Macht. Um Machterwerb, Machterhalt und Machtverlust der politischen Steuerungsebenen geht es – unter anderem – auch in dem anzuzeigenden Sammelband. Einige der wesentlichen Fragegestellungen der Herausgeber Peter Collin und Thomas Horstmann, die diese in ihrer den Leser durch den Band stets instruktiv leitenden Einleitung formulieren, lauten deshalb: Wo liegt der Standort des Staates in einer Gesellschaft, die sich selbst auch als eine Wissensgesellschaft beschreibt? Und wie muss sich der Staat in ihr platzieren, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden; oder überhaupt mit ihr Schritt halten zu können? Da die juristische Staats(rechts)lehre kein Monopol auf den Staat in der Wissensgesellschaft hat und eine „Neue Staatswissenschaft“, die disziplinenübergreifend Wissen über den Staat akkumulieren könnte, fehlt, macht es sich der Band zur Aufgabe, das „Wissen des Staates“ aus vielen Blickwinkeln heraus multidisziplinär zu betrachten. Neben der Rechtswissenschaft, Geschichte und Soziologie kommen die Ökonomie, Philosophie, Informatik und Psychologie zu Wort. Sie führen die Leserinnen und Leser zeitlich ins Hochmittelalter nach England (Jörg Peltzer), ins 18. Jahrhundert nach Deutschland (Karin Gottschalk) und räumlich über Spanien (Friso Ross) und die Schweiz (Alessandro Pelizzari) dorthin zurück. Max Webers Betrachtung des bürokratischen Staates als besondere Form des Umgangs mit Wissen, als Herrschaft kraft Wissens, bildet dabei einen zumindest unterschwelligen Anknüpfungspunkt, stets aber abgestimmt auf das heutige „Wissen“ um die Eigenrationalität von Bürokratien, die immer dann am besten funktionieren, wenn es gelingt, ihre informellen sozialen Netzwerke zu aktivieren und deren Wissenskanäle anzuzapfen, um die Effizienz von Verwaltung zu erhöhen (Crozier). Die Arten und Formen des Wissens, mit denen der Staat umzugehen hat, sind so vielfältig wie die Disziplinen, die der Band vereint. Da gibt es Dienstwissen, Alltagswissen, Fachwissen, explizites Wissen, implizites Wissen, lokales Wissen, praktisches Wissen, institutionelles Wissen (Collin/Horstmann, S. 13); internes Wissen, externes Wissen, individuelles Wissen, kollektives Wissen, intuitives Wissen und Kontextwissen (Mehlich, S. 390): „Knowledge is messy“ (Beyer, S. 384) und Wissensmanagement in Administrative und Gubernative scheint dringend angezeigt. Nicht zu unterschlagen die zahlreichen Situationen des „explodierten“ Nichtwissens, das sich wiederum unterteilt in gewusstes Nichtwissen, geahntes Nichtwissen und unerkanntes Nichtwissen (Wehling, S. 319ff.), in denen der Staat der Risikogesellschaft gleichwohl allgemein bindende Entscheidungen zu fällen und zu rechtfertigen hat. Max Webers statisch-hierarchisches Bürokratiemodell mit seiner Aktenförmigkeit, Förmlichkeit und face-to-face Kommunikation innerhalb starrer Öffnungszeiten muss neuen Dokumentations- wie Kommunikationstechniken weichen, die wiederum für mehr Effizienz, Transparenz und Legitimität des Staates und seiner Entscheidungen bürgen sollen. Gleich zu Beginn des Bandes gibt Kai-Olaf Hesses Bildessay zu den Akten des Bundesarchivs einen Blick auf die zum Teil bizarren „Badlands“ archivierten papierenen „Wissens“ des Staates frei. Nachdem Cornelia Vismann treffend dazu bemerkt, es habe sich inzwischen herumgesprochen, „dass der Staat sich seines Wissens nicht an einem Ort wie dem des Archivs versichern kann“ (S. 45), beschäftigen sich vor allem die Beiträge des IV., V. und VI. Teils des Sammelbandes mit der Umstrukturierung von Gubernative, Administrative und den Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Wissens-Verwaltung vor allem der kommunalen Ebene.
Die Psychologin Gesine Hofinger bringt in ihrem Beitrag zunächst den „Faktor Mensch“ auf Verwaltungs- und Adressatenebene ins Spiel. Der Mensch habe ein Grundbedürfnis nach Kompetenz, also dem Gefühl zumindest, handlungsmächtig zu sein. Um dieses Gefühl zu vermitteln, müsse die Verwaltung vermehrt auf „Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit“ sowie -beteiligung nach außen setzen und hierfür intern den Umgang mit Komplexität in Entscheidungssituationen lernen. Als Erfahrungstraining für das erforderliche Komplexitätsmanagement bietet sie dem Zeitalter der Virtualität angepasste computersimulierte Szenarien und Planspiele an, deren Evaluation großen Erfolg verspricht (S. 283). Aus einer mehr technischen Perspektive zeigt Lothar Beyer die Herausforderungen des Gesamtkonzepts Wissensmanagement „zur Schaffung einer ‚intelligenten’ Organisation“ der Verwaltung auf, die – um auch von sich selbst lernen zu können – verstärkt auf weitverzweigte Intranetnetzwerke, Motivation der Mitarbeiter zum Informationsaustausch und Öffnung nach außen durch Internetportale wie das Electronic Government umsatteln müsse. Um das eGovernment und die virtualisierte Verwaltung dreht sich auch der Beitrag Harald Mehlichs, der neben einer Reihe (noch) nicht zu beantwortender technischer und Kompatibilitätsfragen die doch eher fragwürdige Chance aufzeigt, durch direkte Kommunikationswege die Verwaltung zu verschlanken und Hierarchien abzubauen. Der Artikel Uwe Zepfs beschäftigt sich mit Informationsflut und Reduzierung von Komplexität in der Planungsverwaltung. Die planende Verwaltung lässt sich generell weniger durch konditionales Recht steuern, als durch rahmenrechtliche Vorgaben, die breiten Raum für Abwägungsprozesse bieten. Um den Machtkonstellationen, der Wissensverteilung aber auch den Rechten der Betroffenen Rechnung tragen zu können, plädiert Zepf ebenfalls für flache Hierarchien, informelles Handeln, umfassende Beteiligungsverfahren und kommt zu dem (überraschenden?) Ergebnis, dass das derzeitige Planungsrecht die ihm zufallenden Steuerungsaufgaben durchaus erfülle. Veit Mehde geht in seinem demokratietheoretischen Beitrag von einer Informationsdivergenz zwischen Gubernative und Administrative aus. Diese Wissenspyramide verhalte sich umgekehrt proportional zur ministeriellen Verantwortlichkeit und stelle damit die „ununterbrochene“ Legitimationskette in der Verwaltung in Frage. Auch Mehde optiert daher für eine Enthierarchisierung der Verwaltung als eine auch vor dem Demokratieprinzip (Alexy) akzeptable Lösung (S. 355). Peter Wehling wirft die Frage „nach dem ‚rationalen’ und ‚legitimen’ Entscheiden unter Nichtwissen“ auf (S. 329). Er diskutiert mehrere Lösungsansätze als reflektierte Strategien im Umgang mit Nichtwissen; nämlich dessen ständige Thematisierung, den Zugriff auf Expertenwissen sowie das überlegene Wissen der sozialen Akteure und die Entwicklung von Gefährdungskonzepten wie dem Nachzulassungs-Monitoring, um Frühwarnsysteme bei Risikotechnologien zu installieren. Gleichzeitig betont er, dass den „normativen Aspekten“ bei den „Dilemmata“ politischen Entscheidens ein neues Gewicht verliehen werden müsse (S. 329). Um Frühwarnsysteme, Anstöße, Rationalisierung, Kontrolle, Kritik, Konsensfindung und Legitimität von getroffenen, auf- oder abgeschobenen politischen Entscheidungen (S. 243) geht es auch in dem Beitrag Wilfried Rudloffs über die wissenschaftliche Politikberatung. Der Staat, von dem Otto Mayer noch sagen konnte, dass er nicht paktiere, setzt also mit zunehmender Komplexität von Wissen und Nichtwissen vermehrt auf informales Handeln und Kooperationen mit Experten, den Adressaten und den Betroffenen seiner Entscheidungen. Zum Einen um deren Wissen als Experten auch in eigener Sache nutzen zu können, zum Anderen um die schwindende Akzeptanz seiner riskanten Entscheidungen zu kompensieren. Ob die Ausweitung partizipativer Verfahren der so genannten „Risikokommunikation“ die Leistungsfähigkeit des politischen Systems aber tatsächlich erhöht oder dessen Akzeptanz durch enttäuschte Erwartungen im Gegenteil verringert, ist eine bislang ungeklärte Frage, zu der ein Beitrag aus risikosoziologischer Perspektive wünschenswert gewesen wäre.
Um Verschlankung der kommunalen Verwaltung, ihre Privatisierung und Ökonomisierung geht es auch in den Beiträgen des VI. Teils. Zunächst in dem fast schon euphorischen Aufsatz Alfred Reichweins zum New Public Management, dem „Neuen Steuerungsmodell“ der Kommunalverwaltung, die durch Produktdefinitionen, Kennzahlen und IT-gestütztes Controlling zur Dienstleistungsunternehmerin der zivilgesellschaftlichen „Bürgerkommune“ (S. 416) werden solle (wobei ein wesentliches Ziel des NPM neben der Bürgerfreundlichkeit, nämlich die Reduzierung von Staatsausgaben, insbesondere Sozialausgaben, durch Reduktion des staatlichen Aufgabenumfangs nur am Rande erwähnt wird). Im Anschluss weist Lothar Becker auf die Transformation von Informationsdefiziten zwischen Kern- und privatisierter Verwaltung in Steuerungs- und Einflussverluste hin, die häufig nicht einmal über Kostensenkungen kompensiert werden könnten. Diese Informationsdefizite macht er nur teilweise an der Eigenrationalität privater Unternehmensbeteiligungen der Kommunen fest und schiebt sie größtenteils auf fehlende Führungskompetenzen oder mangelndes betriebswirtschaftliches Wissen in der Verwaltung (S. 466f.). Als Konsequenz aus der Übertragung betriebswirtschaftlicher Steuerungsmethoden in die Verwaltung beschreibt Katharina Peters in ihrem Beitrag deshalb das (notwendige) Einsickern betriebswirtschaftlichen Wissens in die Exekutive. Skeptischere Beobachterinnen und Beobachter von „Managerialismus“, Ökonomisierung und Privatisierung des Staates, die durchaus gesellschaftliche Normen wie Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, welche den Staatskonzeptionen bis in die 1980er Jahre zugrunde lagen, bedrohen, werden versöhnt durch den Beitrag Alessandro Pelizzaris. Dieser zeichnet das Kontrastbild einer „Rebürokratisierung des Staates durch unzählige interne und externe Controlling- und Evaluationsinstanzen“ (S. 445) und belegt am Beispiel des Züricher Spitalwesens die (verallgemeinerungsfähige) Annahme, dass wirtschaftlicher Wettbewerb tendenziell zahlungskräftige, gebildete und dadurch artikulations- und konfliktfähige Gruppen bevorzugt (S. 455).
Der I. Teil des Bandes enthält theoretische Abhandlungen zu den „Staatsbildern und Staatsverständnissen“ des Staates der Wissensgesellschaft. An einige „undogmatische“ Überlegungen (S. 65) zur Dekonstruktion des Staates (S. 69) von Achim Landwehr schließt der Beitrag Birger P. Priddats über die 2nd-oder-democracy, der „eigentlichen“ partizipativen Demokratie im Politikrealisierungsprozess jenseits der Wahl. Unorganisiertes Bürgerwissen soll über das eGovernment zum Einen dem Staat als Ressource nutzbar gemacht werden, zum Anderen die Bürgerinnen und Bürger in staatliche Planungs- und Entscheidungsprozesse inkludieren – ein Verfahren, das hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt. Trotz der Verweise auf einschlägige Erfahrungen in den USA und den Niederlanden lernen die Leserinnen und Leser nicht, ob hier ein bildungsbürgerliches Ideal von Partizipation transportiert wird, das andere „Gesellschaftsschichten“ und ihr „Wissen“ eher exkludiert als inkludiert. Den theoretischen Teil beschließt ein Aufsatz zur „Konzeption des Staats in den Theorien der Wissensgesellschaft“, in dem auch Jochen Steinbicker zu dem Ergebnis zu kommen scheint, dass es bei aller Dezentralisierung und Vernetzung mit dem Staat zumindest eine Instanz, mag man sie wie Willke „Supervisionsinstanz“ nennen, geben muss, die den Überblick behält, koordiniert und als Ausfallbürgin der gesellschaftlichen Teilsysteme bereit steht. Gerade in diesem theoretischen Teil wäre es wünschenswert gewesen, mehr über veränderte „Staatsbilder“ zu erfahren. Denn die „Wissensaufnahme“ des Staates ist nicht nur tatsächlich, sondern mit den Rechten auf informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz, die beide nur ganz untergeordnet erwähnt werden, mittlerweile auch grundrechtlich begrenzt. Zudem beginnt der Staat zunehmend, sein Wissen (und damit auch seine Macht) systematisch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu teilen. Welche „reflektierten Strategien“ des Staates der Wissensgesellschaft hier hinter stecken mögen, erfahren die LeserInnen leider nicht.
Was kann, darf und muss der Staat wissen? Wie und bei wem holt er sich sein Wissen? Die vielfältigen Antworten, die der Sammelband gibt, sind genauso interessant wie anregend und laden die Leserinnen und Leser ein, verstärkt über das „Wissen des Staates“ nachzudenken.
Bielefeld Kathrin Groh