Etappen auf dem Weg
Etappen auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, hg. v. Busek, Erhard/Hummer, Waldemar (= Europapolitische Reihe des Herbert-Batliner-Europainstitutes 1). Böhlau, Wien 2004. 507 S.
Der Weg zu einer europäischen Verfassung ist lang und steinig. Nach wie vor ist der Diskussionsbedarf groß, weil ein europaweiter Konsens nicht durchgängig gefunden ist. Das vorliegende Sammelwerk ist eine Fundgrube an Argumenten und Positionen. Es gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich mit der Struktur eines künftigen Europa, während im zweiten Teil die parlamentarische Komponente im zukünftigen Europa beleuchtet wird. In den 11 Beiträgen des ersten Teils kommen überwiegend Stimmen aus der Wissenschaft zu Wort. Dagegen stammen die 15 Beiträge des zweiten Teils stärker von Praktikern aus nationalen und internationalen Parlamenten. Nicht zuletzt diese Mischung aus Wissenschaft und Praxis macht den Reiz des Bandes aus, der zudem in der Form der Beiträge liegt, die teilweise ihre Herkunft aus dem gesprochenen Wort des Vortrages nicht verleugnen. Darin liegt der Vorteil, dass manche These ungeschminkter daher kommt, als in einem ausgewogenen Aufsatz.
Ein gewisser Nachteil ist, dass die Aktualität nicht angemessen berücksichtigt werden konnte. Die Beiträge befinden sich überwiegend auf dem Stand des Jahres 2002 und nur einige wenige wurden auf den Stand des Jahres 2004 gebracht. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa in der Fassung vom 8. August 2004, der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde, basiert zwar zu wesentlichen Teilen auf dem Entwurf des Konvents, allerdings haben die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten noch eine Reihe von Änderungen vorgenommen und auch die Zählung der Vorschriften geändert. Der Ansatz der Herausgeber, sich Grundfragen einer europäischen Verfassung zu widmen, zahlt sich insoweit aus, weil die Aussagen der Beiträge weit gehend ihre Bedeutung behalten, auch wenn die Rechtsentwicklung inzwischen weiter voran geschritten ist.
Dies trifft bereits für den Eröffnungsbeitrag Daniel Thürers zu, der Umrisse eines europäischen Verfassungssystems skizziert, indem er rechtshistorisch und rechtsvergleichend auf Verfassungsgebung eingeht und dann die Besonderheiten der Entstehung einer Verfassung der Europäischen Union benennt. Es gehe um die Lösung der vorrangig wirtschaftlichen Grundlagen und um die Einbeziehung föderativer Grundstrukturen unter Einschluss bürgerbezogener Elemente. Aus schweizerischer Sicht seien föderalistischer Verfassungsstaat und europäischer Verfassungsverbund gar nicht so weit voneinander entfernt. Roland Bieber plädiert für eine Verfassungsgebung durch Vereinfachung, weil eine Reduktion von Komplexität auch inhaltliche Folgen habe. Seiner Mahnung hätte der EU-Verfassungsvertrag noch stärker Rechnung tragen sollen, immerhin sind aber die Eingangsvorschriften des Teiles I überschaubar. Die Grundrechte-Charta behandelt Albrecht Weber, der die Probleme des Geltungsbereiches und der Tragweite präzise klar legt. Hintergrund sei die Verschränkung der Grundrechtsordnungen, die zu einem dualen Legitimationsmodell für die Gesamtverfassung führe. Die EU-Verfassung beruht nicht nur auf der Legitimation durch die Mitgliedstaaten, sondern auch auf der Legitimation durch die Unionsbürger, gerade darin liegt einer ihrer wesentlichsten Fortschritte. Die Reform der EU-Strukturen skizziert Peter-Christian Müller-Graff durchaus meinungsfreudig. Er betont die Notwendigkeit eines föderationsarteigenen Aufbaus und spricht eine Vielzahl von Aspekten kurz an, ohne grundlegenden Reformbedarf zu konstatieren. Allerdings geht er nicht vom Verfassungsentwurf, sondern von den Änderungen des Vertrags von Nizza aus, wie auch Manfred Scheich in seinem Parallelbeitrag. Die Wirkungen der EU-Verfassung auf die nationalen Verfassung führen nach Theo Öhlinger zu einem europäischen Verfassungsverbund unter Beibehaltung der Autonomie der Teilverfassungen. Für die österreichische Verfassung, die einige Defizite enthalte, die man der europäischen Verfassung nachsage, könne die Verfassungsdiskussion zu einer Neubesinnung führen.
Über den institutionellen Bereich hinaus weist die Behandlung der Bereiche des freien Personenverkehrs und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese beiden Sachbereiche sind für die EU-Verfassung von herausragender Wichtigkeit, weil sich gerade hier entscheidende Fortentwicklungen der europäischen Integration abspielen werden. Astrid Epiney zeichnet die Entwicklung des freien Personenverkehrs seit den Schengen-Übereinkommen nach, deren Bedeutung in einem anderen Beitrag von Wenceslas de Lobkowicz vertieft wird, und sie diskutiert als Herausforderungen unter anderem die spezifischen Regeln über die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs, die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts angesichts der Sonderstellungen Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreiches sowie die Einbindung von Drittstaaten. Epiney stellt zu Recht heraus, dass sich hier eine neue Architektur in Europa abzeichnet, weil Mitgliedstaaten der EU sich nicht an Rechtsakten beteiligen, Drittstaaten aber diese Gelegenheit wahrnehmen. Zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) enthält die EU-Verfassung eine Reihe von Neuerungen, die Waldemar Hummer unter dem Gesichtspunkt der österreichischen Neutralität beleuchtet. Deren staats- und völkerrechtliche Einordnung wird klar dargestellt, um dann die Neutralitätspflicht an den künftigen Formen der Zusammenarbeit innerhalb der EU zu messen. Aus völkerrechtlicher Sicht ergeben sich Zuordnungsprobleme, die Hummer zur Bezeichnung der ESVP als „hybrider Hermaphrodit“ verleiten. Aufgrund der enormen Dynamik des Sachbereiches und seines hochpolitischen Charakters sollten allerdings rechtpolitische Aspekte zum Verständnis herangezogen werden, wie dies der Beitrag Erich Reiters erleichtert. Hummer ist dennoch darin zuzustimmen, dass die ESVP ein Übergangssystem darstellt, dessen Endzustand offen ist. Die durch die Verfassung geschaffene „strukturierte Zusammenarbeit“ eröffnet Mitgliedstaaten, die an ihr Teil nehmen wollen, die Möglichkeit weiter gehende militärische Verpflichtungen einzugehen. Die im Verfassungsentwurf noch enthaltene „engere Zusammenarbeit“, die auf eine Beistandsverpflichtung innerhalb eines kollektiven Verteidigungsbündnisses abzielte, ist begrifflich nicht in den Verfassungsvertrag übernommen worden, weshalb auch die Ausführungsvorschriften in Teil III der Verfassung fehlen. Diese Entwicklung konnte Hummer noch berücksichtigen, hält aber dennoch an seiner Auffassung fest, dass die Regelung des Art. I-41 Abs. 7 der Verfassung, wonach sich im Fall eines bewaffneten Angriffs die Mitgliedstaaten nach Art. 51 der UN-Charta Hilfe leisten, mit der österreichischen Neutralität unvereinbar ist. Angesichts der Verweise der Verfassung auf das Völkerrecht und das Entfallen der Ausführungsbestimmungen, kann man auch zu einer milderen Beurteilung gelangen. Der erste Teil des Buches wird von einer Gedankenskizze Heinrich Schneiders über die Zukunft der europäischen Integration abgeschlossen.
Der zweite Teil des Sammelbandes, der hier nur gekürzt angesprochen wird, enthält eine Vielzahl interessanter Einblicke und Argumente hinsichtlich der Parlamentarisierung der Europäischen Union. Der einführende Beitrag Andreas Maurers zum Mehrebenenparlamentarismus gibt einen politikwissenschaftlich orientierten Überblick über die historische Entwicklung seit den Römischen Verträgen und den theoretischen Rahmen. Aus der politischen Praxis steuert Heinz Fischer weiter führende Einsichten bei und erwartet sowohl eine Stärkung des Europäischen Parlaments wie eine Aufrechterhaltung der Rolle der nationalen Parlamente. Weitere Beiträge behandeln die Grundlagen (Heinrich Schneider) und konkreten Ausprägungen von Versammlungen in internationalen Organisationen und werfen damit Schlaglichter auf sonst wenig behandelte Themen, insbesondere die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Horst Schade, Friedrich König, Johannes de Jonge). Akteure des Parlamentarismus sind insbesondere die politischen Parteien, deren Rolle zwar im Wachsen ist, die letztlich aber erst seit dem inzwischen verabschiedeten Rechtsakt zur Finanzierung europäischer Parteien eine reale politische Chance haben (Klaus Welle, Heike Merten). Im Kontext der EU sind die Besonderheiten des Wahlaktes zu berücksichtigen, dessen Ablauf sich nach langer Stagnation in Richtung auf eine einheitliches Wahlverfahren bewegt (Klaus Poier). Gravitationszentren sind noch die Fraktionen im Europäischen Parlament (Klaus Pöhle). Dadurch unterscheidet sich die konkrete politische Arbeit im Straßburger Parlament von derjenigen in den nationalen Parlamenten. Deren Mitwirkung an der Europäischen Union gewinnt an Bedeutung. Dies führt zu der Notwendigkeit, das Verhältnis des Europäischen Parlamentes zu den innerstaatlichen Parlamenten neu auszutarieren (Thomas Grunert, Dietmar Nickel, Ingrid Moser). Im Hintergrund steht dabei das Ziel, das vorrangig von den Regeierungen dominierte Projekt der EU verstärkt zu parlamentarisieren. Den Schlussstein der Betrachtungen setzt Waldemar Hummer, der aus theoretischer Perspektive Legitimation und Demokratie in der EU fundiert analysiert. Er kommt zu dem Schluss, dass eine Angleichung der EU an Vorstellungen von Staatlichkeit notwendig die Frage nach einer bundesstaatlichen Struktur aufwerfen würde. Der besondere Charakter der EU würde durch eine Durchsetzung von „Gewaltenteilung“ beseitigt, sie würde etatisiert. Hummer schließt zu Recht intersystemare Möglichkeiten der Fortentwicklung nicht aus.
Der Sammelband stellt die glückliche Verbindung aus praktischen Erkenntnissen und theoretischer Verarbeitung dar. Deshalb sind die Beiträge überwiegend trotz des verabschiedeten EU-Verfassungsvertrages nach wie vor von Bedeutung. Ohnehin wird die Verfassung nicht vor 2007 in Kraft treten können. Aber auch darüber hinaus müssen die Diskussionen über institutionelle Struktur und Parlamentarisierung weiter geführt werden. Dazu leistet der Sammelband einen anregenden Beitrag.
Mainz Dieter Kugelmann