Fruscione, Daniela, Das Asyl

bei den germanischen Stämmen im frühen Mittelalter (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas Fallstudien 6). Böhlau, Köln 2003. XXXIV, 222 S. Besprochen von Eva Schumann.

Fruscione, Daniela, Das Asyl bei den germanischen Stämmen im frühen Mittelalter (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas Fallstudien 6). Böhlau, Köln 2003. XXXIV, 222 S.

 

Die Arbeit widmet sich in erster Linie dem kirchlichen Asyl bei den germanischen Stämmen in der Zeitspanne zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert. In der Einleitung gibt Fruscione einen kurzen Überblick über das Asyl bei den Israeliten, Griechen und Römern (S. 2-20); allerdings fehlt in dem Abschnitt über das „Asyl im alten Griechenland“ (S. 4-8) ein Hinweis darauf, dass das Asyl in der frühen Zeit der griechischen Polis Parallelen zum Asyl bei den germanischen Stämmen aufweist.[1] Ebenso fehlen eine übergreifende Definition von „Asyl“ sowie die Einordnung des kirchlichen Asyls als eine Form des sakralen Asyls und dessen Abgrenzung von anderen Formen des Asyls.[2]

 

Am Ende der Einleitung folgert Fruscione aus den Berichten über den Goten Alarich, der nach der Einnahme Roms die zu den heiligen Stätten der Christen Geflohenen verschonte, sowie unter Heranziehung ethnologischer Forschungen (v. a. Albert Hellwig, Das Asylrecht der Naturvölker, 1903), dass „Gesellschaften offenbar ab einem gewissen Organisationsgrad dazu neigen, Mechanismen der friedlichen Streitbeilegung auszubilden, bei denen geschützte, magische, sakrale Orte eine zentrale Rolle spielen“ (S. 25). Auf diesen Aspekt stützt Fruscione im Folgenden ihre These, dass „spezifisch heidnisch-germanische Vorstellungen die Etablierung des kirchlichen Asyls ermöglicht oder jedenfalls begünstigt haben“ (S. 25; ähnlich S. 33). Ihre Untersuchung konzentriert sich daher im Wesentlichen darauf, in den frühmittelalterlichen Quellen heidnisch-germanische Elemente des Asylrechts von römisch-christlichen Einflüssen zu trennen.

 

Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, das Thema von vornherein auf diesen Gesichtspunkt zu beschränken; kaum nachvollziehbar ist jedoch, dass Fruscione diese Beschränkung auf den überlieferten Befehl Alarichs, vor allem aber auf ethnologische Forschungen um 1900 über das Asyl verschiedener Völker Ozeaniens, Afrikas und Amerikas stützt. Letztere werden im Übrigen auf lediglich gut zwei Seiten dargestellt und von Fruscione mit der – in sich widersprüchlichen – Bemerkung versehen, dass – obwohl bislang offen sei, „inwieweit ethnologische Forschungen zur Erklärung rechtshistorischer Phänomene herangezogen werden dürfen“ – die „Einbeziehung rechtsethnologischer Ergebnisse vor allem für das Verständnis altgermanischer Rechtsvorstellungen sehr hilfreich sein“ könne (S. 25, Fn. 117).

 

Die berechtigte Kritik, die Fruscione auf den folgenden Seiten (S. 27ff.) gegenüber der historischen Rückschlussmethode äußert, muss allerdings auch dem Versuch, Forschungsergebnisse der Ethnologie für das germanische Recht fruchtbar zu machen, entgegengehalten werden. Da bei beiden Methoden auf der Grundlage eines Vergleichs Rückschlüsse auf das nur unvollständig bekannte germanische Recht vor 500 gezogen werden, überrascht es, wenn die historische Rückschlussmethode als unzulässig, die komparative Methode hingegen als zulässig eingestuft wird. Denn trotz der Unterschiede kommen beide Methoden um die Problematik des Rückschlusses nicht herum: So gingen die Anhänger der historischen Rückschlussmethode davon aus, dass sämtlichen zwischen 500 und 1500 vom westgotischen Spanien bis nach Island aufgezeichneten Rechten ein germanisches Urrecht zugrunde liege, das sich aus den mittelalterlichen Quellen rekonstruieren ließe.[3] Bei der komparativen Methode wird die Rekonstruktion des germanischen Rechts hingegen auf die Annahme gestützt, dass Gesellschaften mit einem vergleichbaren Entwicklungsstand ähnliche Denk- und Verhaltensweisen und demzufolge auch ein ähnlich strukturiertes Recht aufweisen müssten.

 

Abgesehen davon, dass diese Methode in der Ethnologie umstritten ist,[4] bleibt die Vergleichsebene – wie auch hier – meist so allgemein, dass der Erkenntnisgewinn dieser Methode gegen Null tendiert. Da sich Fruscione zudem ausschließlich auf ethnologische Schriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stützt, treten zu den generellen Bedenken gegenüber dieser Methode hier im Besonderen noch Bedenken gegenüber den herangezogenen Schriften hinzu, die sich keineswegs auf dem neuesten Stand der ethnologischen Forschung befinden. Aus der neueren (deutschen) Literatur sei etwa Johannes W. Raum, Asyl im Rahmen des traditionellen Rechts der Tswana, Zulu und Rotse im südlichen Afrika, in: Venanz Schubert (Hrsg.), Fremde: Migration und Asyl, 1999, S. 251-279 nachgetragen.[5] Der Rechtsethnologe Raum tritt in diesem Beitrag im Übrigen „dem nur allzuweit verbreiteten Missverständnis“ entgegen, „daß man gleich hinter der Grenze der europäischen Ausbreitung über die Erde auf ‚Urgesellschaften’ stößt“.[6]

 

Ohnehin besteht die Gefahr, dass dem Fachfremden mit einem Rückgriff auf nur wenige – hier zudem teilweise veraltete – ethnologische Darstellungen eine verständige Auswertung der als Vergleich dienenden Forschungen kaum gelingen mag. So liest man beispielsweise in der Arbeit Frusciones, dass „Vorbedingung für die Entstehung des Asyls ... bei allen Völkern die Existenz eines Häuptlingstums oder Priestertums gewesen zu sein“ scheint; demzufolge seien „die betroffenen Völker ... also durchweg keine ‚akephalen Gesellschaften’ mehr“ gewesen (S. 23). Als Beispiel werden u. a. die Nuer und deren Zufluchtsmöglichkeit beim „Leopardenfellhäuptling“ genannt (S. 24).[7] Allerdings rechnen die Ethnologen gerade die Nuer – trotz Priestertums – zu den akephalen Gesellschaften, so etwa auch der von der Verfasserin angeführte britische Ethnosoziologe Edward E. Evans-Pritchard („The Nuer constitution is highly individualistic and libertarian. It is an acephalous state, lacking legislative, judicial, and executive organs.“).[8] Unter Berufung auf Evans-Pritchard heißt es auch bei Johannes W. Raum, dass „bei den akephalen Nuer am oberen Nil ein Mann, der jemanden erschlagen hatte, Zuflucht beim ‚Leopardenfellhäuptling’“ suchen konnte, „um der Rache der Verwandten des Erschlagenen zu entgehen“.[9]

 

Insgesamt bleibt der Rückgriff Frusciones auf das „Asyl der ‚Naturvölker’“ (S. 22-25) ohne Gewinn für die Arbeit; er belegt aber deutlich die nach wie vor nicht überwundene Suche der deutschen Rechtsgeschichte nach dem vom römischen (und kanonischen) Recht unbeeinflussten germanischen Recht. Zu dessen Rekonstruktion ist allerdings bislang nicht nur keine überzeugende Methode gefunden worden, vielmehr verschließt die Beschränkung der Untersuchung auf die Herausarbeitung der spezifisch germanischen Elemente der frühmittelalterlichen Rechtsquellen von vornherein den Blick auf andere Fragestellungen, wie etwa nach den Funktionen des Asyls in einem System eines weithin privaten Unrechtsausgleichs oder der Stellung der Kirche im Rahmen dieses Systems.

 

Hinzu kommt, dass Fruscione ihr Quellenmaterial nicht umfassend auswertet. So werden die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Asylbestimmungen bei den einzelnen Stämmen nicht hinreichend herausgearbeitet. Selbst ein Ausblick auf die Fortgeltung der Asylbestimmungen fehlt, obwohl der Schwabenspiegel um 1275 nahezu wörtlich die Regelungen zum Bruch des Kirchenasyls aus der Lex Alamannorum übernimmt.[10] Auch auf die spannende Frage, ob und inwieweit das frühmittelalterliche kirchliche Asyl seit dem 10. Jahrhundert in der Gottes- und Landfriedensbewegung aufgegangen ist, geht Fruscione nicht ein. Stattdessen schließt sie ihre Ausführungen mit dem Runenstein von Oklunda (9./10. Jahrhundert) und dem schwedischen Kirchenasyl im 13. Jahrhundert (S. 202-210), um daraus – ganz im Sinne der historischen Rückschlussmethode – zu folgern, „daß das Kirchenasyl im frühen Mittelalter sich mitnichten allein aus römisch-christlichen Quellen erklärt“ (S. 209).

 

Allerdings enthält die Arbeit auch durchaus verdienstvolle Abschnitte. Dies gilt insbesondere für die in der deutschen Rechtsgeschichte nach wie vor keineswegs übliche Einbeziehung der angelsächsischen Quellen. Mit dem umfangreichen Kapitel über das „Asyl im angelsächsischen England“ (S. 130-185), vor allem mit den darin enthaltenen philologischen Ausführungen, gelingt es Fruscione, dem Leser neue Kenntnisse über das frühmittelalterliche Asyl in Westeuropa zu vermitteln.

 

Leider fallen die Kapitel über das kirchliche Asyl der Merowingerzeit (S. 38-93) und der Karolingerzeit (S. 94-129) etwas schwächer aus. Im Kapitel über das Asyl in der Merowingerzeit führt Fruscione zunächst in kurzen Abschnitten von häufig nur ein bis zwei Seiten sämtliche Bestimmungen über das Asyl in Konzilien und Leges, vom Edictum Theoderici (2. Hälfte des 5. Jh.) über das Asylrecht bei den Westgoten, Burgundern, Langobarden, Franken bis hin zur Lex Alamannorum und Lex Baiuvariorum (1. Hälfte des 8. Jh.), auf. Besonders knapp (mit im Schnitt etwa einer Seite) werden die Asylbestimmungen aus dem langobardischen, alemannischen und bayerischen Recht behandelt, obwohl die Novellen des Langobardenkönigs Liutprand, die Lex Alamannorum und die Lex Baiuvariorum nicht nur nahezu zeitgleich und erkennbar unter dem Einfluss der Kirche entstanden sind, sondern auch deutliche Parallelen aufweisen. Auf diese Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Rechten geht Fruscione indessen nicht ein. Vor allem aber fehlen die im langobardischen Recht des 7. Jahrhunderts enthaltenen Asylbestimmungen, die sich zwar nicht auf das Kirchenasyl beziehen, aber Rückschlüsse für dessen Etablierung liefern können. Auf beide Aspekte wird noch einzugehen sein.

 

Gegen Ende dieses Kapitels folgen „einige Schlußbemerkungen“ (S. 78ff.) zur Merowingerzeit im Stil einer Zusammenfassung der bis dahin dargestellten Quellen. Die Verfasserin kommt hier zu dem Ergebnis, dass das Asyl im Verhältnis zum römischen Recht (Codex Theodosianus und Codex Justinianus) auf nahezu alle Straftaten erweitert und darüber hinaus detailliert geregelt worden war, was mit dem ins Asyl geflüchteten Täter zu geschehen habe. Dabei wurde ein Kompromiss zwischen den Interessen des Verfolgers und denjenigen des Flüchtigen gesucht, indem eine Pflicht zur Auslieferung des Flüchtigen von Seiten der Kirche nur für den Fall festgesetzt wurde, dass der Verfolger sich durch Eid verpflichtete, den Flüchtigen nicht zu töten. Auf diese Weise mag es in einer Vielzahl von Fällen gelungen sein, den Racheakt im Anschluss an die Tat abzuwenden und gegebenenfalls durch Vermittlung der Kirche die drohende Fehde durch einen Ausgleich des Unrechts in Geld abzuwenden. In diesem Zusammenhang führt Fruscione mit überzeugenden Gründen die Selbstverpflichtung durch Eid darauf zurück, dass das Recht der germanischen Stämme im Gegensatz zu der dem römischen Recht zugrunde liegenden staatlichen Strafverfolgung auf einem privaten Unrechtsausgleichssystem beruhte, das notwendigerweise eine Einbeziehung des Verletzten erforderte.

 

Im anschließenden Kapitel über das kirchliche Asyl in der Karolingerzeit werden die karolingischen Kapitularien, insbesondere die Capitulatio de partibus Saxoniae, von den Volksrechten die Lex Saxonum und die Lex Frisionum sowie diverse historische Quellen behandelt. Anhand dieser Quellen gelangt Fruscione zu dem Ergebnis, dass das Asylrecht einer zunehmenden Abschwächung unterlag, die sie auf die starke Stellung Karls des Großen und die sich unter seiner Regierung ausbildende Staatsgewalt (einschließlich eines staatlichen Strafanspruchs) zurückführt (S. 122ff.). In diesem System spielte nach Ansicht Frusciones die Kirche als Vermittlerin des Unrechtsausgleichs zwischen der Täter- und Opferseite nur noch eine untergeordnete Rolle.

 

Diese These scheint angesichts des zunehmenden Einflusses der Kirche – gerade auch im Bereich des Asylrechts – auf die weltliche Gesetzgebung seit Beginn des 8. Jahrhunderts zumindest fraglich, zumal dieser Einfluss auch zu Zeiten Karls des Großen keineswegs abgenommen hat. Dies belegt beispielsweise die Überarbeitung der Bestimmungen zum Kirchenasyl in der Lex Alamannorum (LAlam. III, IV) und deren weiterer Ausbau gegen Ende des 8. Jahrhunderts (etwa die Erhöhung des Friedensgeldes bei einem Bruch des Kirchenasyls von 40 auf 60 Schillinge), aber auch die von Karl dem Großen um 782 für die eroberten Gebiete Sachsens erlassene Capitulatio de partibus Saxoniae (c. 2, 14).

 

Darüber hinaus gelingt es Fruscione aufgrund der inhaltlichen Beschränkung auf das Kirchenasyl und der fehlenden Abgrenzung zu Regelungen über andere Zufluchtsstätten nicht, die Bestimmungen über das Kirchenasyl im jeweiligen Kontext zu würdigen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des langobardischen Rechts, das Fruscione lediglich auf etwa einer Seite (S. 54f.) darstellt und zu dessen Asylrecht sie schreibt: „Von den 388 Kapiteln des Edictus König Rotharis von 643 handeln nur zwei von Angelegenheiten, die die Kirche betreffen. Sie enthalten Bestimmungen über Bestrafung eines ‚scandalum in ecclesia’, also von Lärm und Streit mit Handgreiflichkeiten, und über das kirchliche Asylrecht.“ Beide Bestimmungen des Edikts (Ed.Roth. 35 und 272) werden kurz erläutert, es wird jedoch nicht erwähnt, dass beide Regelungen jeweils zu einem in sich geschlossenen Regelungskomplex gehören. Ed.Roth. 35-40 tragen die Überschrift De scandalum und sanktionieren dieses Verhalten nicht nur in der Kirche (Buße in Höhe von 40 Schillingen), sondern auch in der Königspfalz in Anwesenheit des Königs (Todesstrafe), einer Stadt, in der sich der König gerade aufhält (Buße in Höhe von 12-24 Schillingen) sowie in jeder anderen Stadt (Buße in Höhe von 3-6 Schillingen).

 

Von größerem Interesse für das Kirchenasyl sind jedoch Ed.Roth. 264-276, die von der Flucht außer Landes (Ed.Roth. 264-268) und in eine Zufluchtsstätte innerhalb der Provinz (Ed.Roth. 269-276) handeln. Ed.Roth. 269-272 regeln das Asyl eines Unfreien, der auf der Flucht vor seinem Herrn eine Zufluchtsstätte erreicht hat. Als solche werden der Hof eines Freien (Ed.Roth. 269, 270), der Königshof (Ed.Roth. 271) und erst zum Schluss eine Kirche bzw. das Haus eines Geistlichen (Ed.Roth. 272) genannt. Sämtliche Regelungen legen fest, dass derjenige, der den flüchtigen Unfreien auf das Herausgabeverlangen seines Herrn nicht ausliefert, diesem nicht nur den geflohenen, sondern zusätzlich noch einen weiteren Unfreien von gleichem Wert geben muss. Hat allerdings der das Asyl Gewährende den Unfreien auf das Versprechen seines Herrn, Gnade walten zu lassen, ausgeliefert, so ist bei einem Bruch dieses Versprechens (d. h. bei Vollstreckung der Rache an dem Unfreien) eine Buße in Höhe von 20 Schillingen (bei Zuflucht auf einem fremden Hof, Ed.Roth. 269) bzw. von 40 Schillingen (bei Zuflucht im Königshof oder in der Kirche, Ed.Roth. 271, 272) an denjenigen zu zahlen, der dem Unfreien Zuflucht gewährte und dem der Herr das Versprechen gab.[11]

 

Im Gegensatz zu vielen anderen von Fruscione besprochenen Asylregelungen fällt hier auf, dass die Kirche erst an letzter Stelle als Zufluchtsstätte genannt wird und dass das Regelungsanliegen nicht nur auf den Schutz des flüchtigen Unfreien gerichtet ist. Vielmehr geht es auch um einen Ausgleich der Interessen des Verfolgers an der Wiedererlangung seines Unfreien und denen des Hausherrn, am Erhalt des eigenen Hausfriedens.[12] Die Kirche ist zwar – ebenso wie der Königshof – dadurch hervorgehoben, dass der Bruch des Versprechens gegenüber dem Hausherrn mit einer doppelt so hohen Buße sanktioniert wird, darüber hinaus gibt es aber keine Unterschiede zwischen den Regelungen.

 

Erst nachdem die Langobarden zum katholischen Glauben übergetreten waren, wurde das Kirchenasyl in den Novellen Liutprands nochmals eigenständig geregelt (Liut. 143 aus dem Jahre 735). Für den gewaltsamen Bruch des Kirchenasyls hat der Verfolger nun sein eigenes Wergeld, d. h. nach Liut. 62 die nicht unerhebliche Summe von 150 bis 300 Schillingen an die Kirche zu bezahlen. Um den Einfluss der Kirche zu begreifen, muss man nicht nur Tatbestand und Rechtsfolge in Relation setzen, sondern auch den Vergleich zur Rechtslage rund ein Jahrhundert zuvor im Edikt ziehen: Ein Freier holt seinen entflohenen Unfreien (mit einem Wert zwischen 16 und 50 Schillingen, Ed.Roth. 130-136) gewaltsam aus der Kirche und soll für diese Tat das drei- bis 20-fache des Wertes des entflohenen Unfreien an die Kirche bezahlen, während dieser Tatbestand im Edikt Rotharis (643) noch ganz fehlt. Nach dem Edikt konnte die Tat allenfalls als Hausfriedensbruch (Ed.Roth. 277), der mit 20 Schillingen auszugleichen war, eingeordnet werden.

 

Zeitlich, aber auch inhaltlich zwischen dem langobardischen Recht Rotharis (643) und den Novellen Liutprands (735) steht die Lex Alamannorum (um 725), die in ähnlicher Art und Weise wie das langobardische Recht das Kirchenasyl regelt.[13] Schließlich wird in der Lex Baiuvariorum (um 744) die Position der Kirche noch weiter gestärkt, indem LBai. I 7 anordnet, dass eine Bestrafung des Flüchtigen cum consilio sacerdotis erfolgen solle; die Regelung über den gewaltsamen Asylbruch orientiert sich hingegen am alemannischen Recht. Bei einem Vergleich der Novellen Liutprands mit den beiden oberdeutschen Leges wird deutlich, dass die Kirche im zweiten Viertel des 8. Jahrhunderts in einem Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrzehnten ihren Einfluss auf die weltliche Gesetzgebung in erheblichem Maße ausbauen konnte.[14]

 

Darüber hinaus geht in der Arbeit Frusciones unter, dass sich die Regeln zum Asyl in allen drei Rechten im Wesentlichen auf Unfreie beziehen. Das langobardische Recht enthält nur Regelungen zu geflohenen Unfreien bzw. halbfreien Aldien, die von ihrem Herrn bzw. Patronus verfolgt werden. LAlam. III 1 beginnt zwar damit, dass ein Freier oder Unfreier verfolgt wird und in eine Kirche flieht; im nachfolgenden Text ist jedoch nur noch von Unfreien die Rede. Auch in LBai. I 7 wird der Flüchtige als Unfreier oder sonstige Person bezeichnet, allerdings deutet der Terminus disciplina zur Umschreibung der „Strafe“, die cum concilio sacerdotis festgesetzt werden soll, darauf hin, dass es ebenfalls in erster Linie um geflohene Unfreie und deren Bestrafung durch ihren Herrn geht. Auch insoweit nehmen die drei Rechte eine Sonderstellung ein, denn die älteren Rechte der Westgoten und Burgunder, die Konzilien der Merowingerzeit und später auch die karolingischen Kapitularien beschränken das Asyl nicht auf Unfreie.

 

Es ist zu bedauern, dass die insgesamt lesenswerte Arbeit zu den – hier an einem Beispiel nachgetragenen – Abhängigkeiten der Leges untereinander, aber auch zu den Unterschieden sowie zum Einfluss der Kirche auf die weltliche Gesetzgebung nur gelegentlich Stellung nimmt und daher die Entwicklungen und Veränderungen zwischen dem Ende des 5. und dem Beginn des 9. Jahrhunderts nur ansatzweise nachzeichnen kann.

 

Göttingen                                                                                                        Eva Schumann

[1] So Gerhard Thür, Gerichtliche Kontrolle des Asylanspruchs, in: Martin Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl, Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte, Bd. 15, 2003, S. 23, 24f.: „Asyl war eine Rechtseinrichtung, die in der Frühstufe der griechischen Polis das Prinzip der eigenmächtigen Rechtsdurchsetzung, die rechtmäßige Fehde, in eine Gesamtrechtsordnung einband und auf diese Weise sozial erträglich machte. Die Heiligtümer schützten die Bittflehenden nicht vor dem Zugriff des Staates, sondern vor ihren persönlichen Gegnern, die ein privates Racherecht auszuüben behaupteten und dem Flüchtling offen nach dem Leben trachteten. Private Fehde und der Versuch, sie durch Asyl und ein primitives staatliches Gerichtsverfahren zu bändigen, spielten eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der klassischen Polis. ... Im Alltag der archaischen Zeit war es [das Asyl, Anm. der Verf.] ein normaler Bestandteil der Rechtspflege: Hatte ein Bürger einen Mitbürger im Streit erschlagen oder durch ein Missgeschick getötet, hatte er von den Verwandten des Getöteten unmittelbar die Blutrache zu befürchten. Er konnte sich ihr nur durch schleunige Flucht ins Ausland oder in ein Heiligtum entziehen. War der Täter in Sicherheit, konnten seine Verwandten mit der Sippe des Getöteten einen Sühnepakt aushandeln; mit Bezahlung des Wergeldes war die Sache beigelegt.“

[2] Zu verschiedenen Formen des Asyls vgl. Martin Dreher, Einleitung: Die Konferenz über das antike Asyl und der Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Das antike Asyl, Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte, Bd. 15, 2003, S. 1-13.

[3] Etwa Karl v. Amira, Grundriß des Germanischen Rechts, 3. Aufl., 1913, S. 1: „Aus allen diesen Tatsachen ergeben sich zwei methodologische Sätze: 1. die Erkenntnis des germanischen Rechts in der historischen Zeit ist nur aus der Geschichte aller germanischen Sonderrechte zu gewinnen; 2. die vor aller Geschichte liegenden Ausgangspunkte der Sonderentwicklung, das germanische ‚Urrecht’, von dessen Verständnis das der Sonderentwicklung selbst großenteils abhängt, können wir nur auf dem Weg vergleichender Durchforschung aller Sonderrechte rekonstruieren.“

[4] So beurteilt Johannes W. Raum, „Evolutionismus“ in: Hans Fischer (Hrsg.), Ethnologie, Einführung und Überblick, 2. Aufl. 1988, S. 243, 246, 266f. diese Methode, die davon ausgeht, dass Kulturen der rezenten Jäger und Sammler, der Stammesgesellschaften sowie der Häuptlingstümer Repräsentanten früherer Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte sind, als „spekulative Geschichtsschreibung“ auf der Grundlage „diffusionistische(r) Rekonstruktionsversuche“, die „hypothetischen Charakter“ tragen. Raum (S. 262ff.) weist darauf hin, dass selbst Elman R. Service, der eine der einflussreichsten evolutionistischen Typologien entwickelt hat, davor warnte, „unkritisch die Sozialorganisation von heutigen Jagdscharen, segmentären Stämmen und zentralisierten Häuptlingstümern als repräsentativ für Entwicklungsstufen in der Menschheitsgeschichte anzusehen, weil die ungeheueren und vor allen Dingen kriegerischen Erschütterungen der kolonialen Ausbreitung Europas einmal zur Zerstörung der ursprünglichen Jagdscharorganisationen ..., zum anderen zur Bildung untypischer Bündnisse und Königreiche ... geführt haben. ... Bei der Heranziehung solcher rezenter Kulturen zum Zwecke des Vergleichs muß man sich daher stets der Tatsache bewußt sein, daß es sich keineswegs um geschichtslose Gesellschaften handelt.“ Vgl. weiter Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturellen Fremden, Eine Einführung, 1993, S. 159: „Das grundsätzliche Problem des ethnologischen Neoevolutionismus bleibt indes, daß er seine Daten aus rezenten Kulturen bezieht, um mit ihrer Hilfe Rückschlüsse auf frühere Kulturentwicklungen zu ziehen. Doch wer garantiert, daß zum Beispiel die Sozialstrukturen gegenwärtiger Jäger- und Sammlergesellschaften, die zum allergrößten Teil in ökologisch prekäre Rückzugsgebiete gedrängt worden sind und sich deren Umweltbedingungen notwendig anpassen mußten, tatsächlich den sozialen Organisationsformen prähistorischer Jäger- und Sammlergesellschaften entsprechen?“

[5] Ganz aktuell ist noch die Arbeit von Bertram Turner, Asyl und Konflikt von der Antike bis heute: rechtsethnologische Untersuchungen, 2005 zu nennen.

[6] Johannes W. Raum, Asyl im Rahmen des traditionellen Rechts der Tswana, Zulu und Rotse im südlichen Afrika, in: Venanz Schubert (Hrsg.), Fremde: Migration und Asyl, 1999, S. 251, 253, 255.

[7] Nur am Rande sei erwähnt, dass Fruscione die angegebene ethnologische Literatur mehrfach – so auch an dieser Stelle –  ohne Seitenangaben zitiert.

[8] Edward E. Evans-Pritchard, The Nuer of the Southern Sudan, in: M. Fortes/E. E. Evans-Pritchard (Hrsg.), African Political Systems, 1940, unveränderter Nachdruck 1987, S. 272, 296.

[9] Johannes W. Raum, Asyl im Rahmen des traditionellen Rechts der Tswana, Zulu und Rotse im südlichen Afrika, in: Venanz Schubert (Hrsg.), Fremde: Migration und Asyl, 1999, S. 251.

[10] Die entsprechende Bestimmung LAlam. IV fehlt in der Arbeit Frusciones. Sie erwähnt (S. 76f.) lediglich LAlam. III 1-3, die die Zuflucht in der Kirche regeln und dem Verfolger das gewaltsame Herausholen des Flüchtlings untersagen. In LAlam. IV wird hingegen der Bruch des Kirchenasyls sanktioniert: Si quis liber liberum infra ianuas ecclesiae occiderit, cognoscat se contra Deum iniuste fecisse et ecclesiam Dei polluisse; ipse ecclesiae, quam polluit, 60 solidos conponat, et fiscus fredum adquirat, parentibus autem legitimum weregildum solvat (Leges Alamannorum, hrsg. von Karl Lehmann, MGH, LL nat. Germ V 1, Hannover 1988, S. 70, Textklasse B). Art. 330-331 Schwabenspiegel übernehmen – in Teilen – nicht nur LAlam. IV, sondern auch die beiden folgenden Bestimmungen (LAlam. V-VI); Art. 330 Schwabenspiegel hat folgenden Wortlaut: Swer ein mensche in der kilchen ze tode sleht . oder an der kilch tvr . vnd die kilchvn also grozzelichen enteret . der sol an die kilchen geben sehzeg schillinge . ob man buzze nemen wil (Der Schwabenspiegel nach einer Handschrift aus dem Jahr 1287, hrsg. v. Friedrich Leonhard Anton Frhr. v. Lassberg, 1840, S. 145). Dazu Eva Schumann, Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter, in: Festschrift für Adolf Laufs, 2005 (im Erscheinen).

[11] Ed.Roth. 269: Si mancipius cuiuscumque post alium hominem fugierit, et dominus secutus invitaverit in pace, ut reddatur in gratia, et si in gratia redditus fuerit et in ipsa culpa dominus in eum vindictam dederit, conponat solidos 20 illi, de cuius curte eum tolit ... . Ed. Roth. 270: Si quis ille, post quem mancipius alienus fugierit, et noluerit eum post secundam aut tertiam contestationem reddere, tunc constrictus restituat ipsum mancipium, et alium similem sub extimationem pretii conponat. Ed.Roth. 271: De curtem regis. Si mancipius cuiuscumque in curtem regis confugium fecerit, et gastaldius aut actor regis ipsum mancipium post secundam aut tertiam contestationem reddere dilataverit, ita iubemus ut reddat ipsum mancipium, et alium similem de suis propriis rebus, domino quem dilataverit reddere cogatur. Et si ille, qui de curte regis ipsum in gratia receperit, postea pro ipsa culpa in eum vindictam dederit, conponat in curtem regis, unde eum tolit, solidos quadraginta. Ed.Roth. 272: De ecclesia. Si in ecclesiam aut in domum sacerdotis mancipius cuiuscumque confugium fecerit, et episcopus aut sacerdos qui in loco praeest, eum reddere in gratia post tertiam contestationem dilataverit, ita decernimus, ut reddat ipsum mancipium, et alium similem de suis propriis rebus, ut supra. Et si in gratia redditus fuerit, et postea dominus in ipsum vindictam pro ipsa culpa dederit, aut se edoniet ut supra, aut sit culpabilis ecclesiae ipsius solidos 40, ita ut per actorem regis exegantur, et in sagrum altarium, ubi iniuria facta est, ponantur. (Leges Langobardorum, hrsg. von Friedrich Bluhme und Alfred Boretius, MGH, LL IV, Hannover 1868, S. 65 f.) 

[12] Dieses Interesse des Hausherrn (Schutz des Hausfriedens) wird in Ed.Roth. 273 (Si servus intra provincia in fuga vagatur, et dominus eum invenerit, et servus ipse fugiens in curtem alienam, et dominus eius insequens eum adprehensus fuerit, non reputetur culpa domini pro eo, quod in curte alterius furorem in servum suum habens rem suam prehindere visus est. Et si ille, cuius curtis fuerit, aut aliquis ex hominibus illius mancipium ipsum de manum tulerit aut antesteterit, nullum pentius, qui servum sequitur, in curte ipsa scandalum faciat; si fecerit, qualiter in hoc edictum legitur, conponat.), der auf Ed.Roth. 277 (Si quis in curtem alienam haistan, id est irato animo, ingressus fuerit, vigenti sol. illi conponat cuius curtis fuerit.) verweist, deutlich hervorgehoben. (Leges Langobardorum, hrsg. von Friedrich Bluhme und Alfred Boretius, MGH, LL IV, Hannover 1868, S. 66 f.).

[13] LAlam. III 1 untersagt das gewaltsame Herausholen des Flüchtlings aus der Kirche und verlangt von dem Herrn, dass er im Gegenzug für die Herausgabe seines Unfreien ein Pfand als Gewähr dafür gibt, dass er seinem Unfreien die Tat verzeiht. LAlam. III 2 berücksichtigt die Interessen des Herrn am Erhalt seines Vermögens und legt daher dem Geistlichen für den Fall, dass er die Herausgabe des Unfreien verweigert und dieser entkommt, auf, Ersatz zu leisten. Der gewaltsame Bruch des Kirchenasyls wird schließlich in LAlam. III 3 mit der Zahlung von 18 bzw. 36 Schillingen an die Kirche und 40 bzw. 60 Schillingen an den Fiskus geahndet. (Leges Alamannorum, hrsg. von Karl Lehmann, MGH, LL nat. Germ V 1, Hannover 1888, S. 68ff.)

[14] Dazu Eva Schumann, Unrechtsausgleich im Frühmittelalter, Die Folgen von Verletzungen der Person im langobardischen, alemannischen und bayerischen Recht, Kap. 2 (bislang unveröffentlichte Habilitationsschrift, Leipzig 2003).