Garré, Roy, Consuetudo
Garré, Roy, Consuetudo. Das Gewohnheitsrecht in der Rechtsquellen- und Methodenlehre des späten ius commune in Italien (16.-18. Jahrhundert) (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 183). Klostermann, Frankfurt am Main 2005. XIV, 288 S.
Die rechtshistorische Forschung des Gewohnheitsrechts erfolgt auf zwei Ebenen, die Erforschung des Inhalts und des Gegenstands des Gewohnheitsrechts einerseits und die Wissenschaftsgeschichte bzw. die Erforschung der Theorien zum Gewohnheitsrecht anderseits. Das zu besprechende Werk gehört in die zweite Ebene.
Die zu besprechende Monographie hat die Rechtsquellen- und Methodenlehre der italienischen Rechtswissenschaft in der Zeit des 16.-18. Jahrhunderts zum Gegenstand. Sie schließt damit an den Aufsatz von Laurent Mayali, La coutume dans la doctrine romaniste du Moyen Age im Sammelband über die Coutume der Société Jean Bodin (Recueils L II 2/1989 S. 11-31) an, welcher die Periode vom 12.-15. Jahrhundert erfasst. Die Gewohnheitsrechtslehre wurde im Mittelalter besonders an der Universität Orléans gepflegt insbesondere durch Simon de Paris, Jean de Mandry, Jacques de Révigny, Raoul d’Harcourt, Raoul de Chennevières, Guillaume de Ferrières und Pierre de Belleperche (zu Jacques de Révigny, Laurent Waelkens, La théorie de la coutume chez Jacques de Révigny, Edition et analyse de sa répétition sur la loi De quibus [D 1, 3, 32] Leiden 1984). Dies lag nahe, weil der nördliche Teil Frankreichs als ausschließliches Gewohnheitsrechtsgebiet galt. Hingegen war Italien traditionellerweise ein Gebiet, wo das römische Recht und somit das sog. „droit écrit“ galt, das ursprünglich „nicht einmal in Ansätzen eine Theorie des Gewohnheitsrechts entwickelt hatte“ (Kaser zit. auf. S. 83). Dies hinderte offenbar die italienische Doktrin zum ius commune nicht, sich eingehend mit dem Gewohnheitsrecht zu befassen. Der Verfasser behandelt nun eine Zeitperiode (16. bis 18. Jahrhundert), die bisher von der Geschichte und der Rechtsgeschichte eher vernachlässigt worden ist. Die zu besprechende Arbeit füllt somit eine Forschungslücke.
Gleich zu Beginn (S. 25) setzt der Verfasser die Grenzen seiner Untersuchung fest: „Es geht nämlich primär um eine Arbeit über die Lehre und über die Wissenschaft des Rechts. Unsere Quellen sind ausschließlich gelehrte Texte bzw. Gutachten von gelehrten Juristen und nicht eine gerichtliche Praxis oder eine konkrete regionale Usanz. Und die gelehrten Texte muss man letztlich als parteiische und bornierte Zeugen einer gewissen Rechtsordnung betrachten“. Die genannten gelehrten Texte und Gutachten werden dann eingehend in den Originalsprachen lateinisch und italienisch zitiert.
Die Monographie besteht aus zwei Teilen, ein erster Teil mit der Überschrift „Die Ausgangslage, Die römische und die mittelalterliche consuetudo-Lehre“ und der zweite Teil mit der Überschrift „Das Gewohnheitsrecht in der frühen Neuzeit, Die Geschichte einer wichtigen subsidiären Rechtsquelle“. Dieser Teil bildet den eigentlichen Kern der Untersuchung. Im ersten Teil fehlt die Definition des Gewohnheitsrechts durch Baldus. Diese ist nämlich die Synthese der vor Baldus entwickelten Gewohnheitsrechtsdoktrin und es ist zu vermuten, allein auf Grund der Autorität, die Baldus genossen hat, dass die vom Verfasser behandelte italienische Doktrin daran angeknüpft hat. Dies schimmert zwar aus den jeweiligen Fußnoten und Hinweisen des zweiten Teiles durch, wäre aber klarer zum Ausdruck gekommen, wenn der Verfasser in einem Abschnitt des ersten Teiles die Doktrin der Glossatoren und der Postglossatoren zusammengefasst hätte. Im zweiten Teil behandelt der Verfasser je in einem Abschnitt die einzelnen Kapitel des Inhaltsverzeichnisses des Tractatus de consuetudine von Antonio Piaggio (Perugia 1595) unter Beibehaltung des lateinischen Wortlautes. Die biographischen Angaben über Piaggio (Fn. 27 S. 98) sind allzu summarisch, namentlich bleibt dessen Reputation unerörtert. Dasselbe trifft auch für die anderen genannten weniger bekannten italienischen Bearbeiter der consuetudo zu.
Bei den im zweiten Teil behandelten Problemkreisen handelt es sich um folgende:
1. Consuetudo quotuplex. Damit sind die verschiedenen Arten von consuetudo gemeint. Neben der traditionellen Unterscheidung in onsuetudo.generalis, specialis und specialissima (bzw. familiae) kommt nun neu die Unterscheidung in consuetudo contra, praeter und secundum legem, womit die Abgrenzung zur „lex“ angesprochen ist.
2. Consuetudo quid. Damit ist die eigentliche Definition der consuetudo gemeint, wobei die Kontroverse darüber, ob es sich bei der consuetudo ausschließlich um nicht schriftliches Recht handelt, im Vordergrund steht.
3. Actuum frequentia: Unter dieser Überschrift wird zur erforderlichen Anzahl der Akte, der negativen Akte sowie zur Einheitlichkeit der consuetudo Stellung bezogen.
4. Temporis diuturnitas. Dieser Problemkreis hängt mit dem vorangehenden zusammen nämlich die erforderliche Dauer des Gebrauches der consuetudo.
5. Populi tacitus consensus. Dieser «Konsens» ist nicht identisch mit der „opinio necessitatis“ nach heutigem Verständnis. Die Frage, die sich damals stellte, war ob Einstimmigkeit notwendig ist oder ob die Mehrheit der betroffenen Gruppe genügte..
6. Rationabilitas. Das Gewohnheitsrecht muss „vernünftig“ sein. Damit wird das Problem der „mauvaises coutumes“, die der Souverän aufheben darf, angesprochen.
7. Consuetudo per quas personas inducantur. Darunter wird die Frage nach den legitimen Träger des Gewohnheitsrechtes und nach der potestas legislativa abgehandelt.
8. Consuetudo vires ac virtutes. Unter dieser Überschrift verbirgt sich das Problem der Autorität des Gewohnheitsrechtes.
9. Cujus loci consuetudo attendatur. Damit wird die Frage der Anküpfung eines lokalen Gewohnheitsrechtes aufgeworfen.
10. Consuetudinis probatio. Dies ist wohl die Kernfrage eines jeden Gewohnheitsrechtes, die Beweisbarkeit und die Beweismittel.
11. Consuetudo in quibus attendatur. Die von der consuetudo erfassten Rechtsgebiete sind sowohl das Privatrecht als auch das öffentliche Recht, umso mehr als diese Unterscheidung damals nicht gemacht worden ist.
12. Consuetudo restrictio vel extensio betrifft den Einsatz der consuetudo, ius strictum zu sein, als Auslegungsmittel zu dienen, extensiv oder restriktiv anzuwenden zu sein.
13. Mit Differentiae wird jener Abschnitt überschrieben, in dem es gilt, das Gewohnheitsrecht von ähnlichen Rechtsquellen oder Institutionen abzugrenzen.
14. Schließlich ist die Frage zu behandeln, wie und wann ein Gewohnheitsrecht aufgehoben wird oder untergeht („Consuetudo quot modis tollitur“).
Mit diesen vierzehn lateinischen Stichwörter gemäß Piaggio werden all jene Problemkreise umschrieben, mit denen die damalige Doktrin glaubte das Probleme des Gewohnheitsrechtes zu fassen. Da dieses zunächst als Faktum begriffen wurde, wurde die Frage nach dessen Herkunft nicht gestellt. Auch der Verfasser glaubt an die Spontaneität der Gewohnheitsrechtsentstehung, wie sie von der historischen Rechtsschule propagiert wurde. Dennoch bleibt die Frage offen, ob das Gewohnheitsrecht wirklich eine Rechtsquelle und nicht bloß ein zeitliches Transmissionsmittel von anderen Rechtsquellentypen ist, indem man die Herkunft vergessen hat und nur noch die Überlieferung kennt. Diese Frage ist nicht nur von akademischem Interesse. Sie wird dann akut, wenn es darum geht, Bestand und Inhalt eines Gewohnheitsrechtes nachzuweisen. Hierfür wurde vor allem in früheren Zeiten auf die Ritualisierung eines Gewohnheitsrechtes abgestellt, was dann genügte, um dessen Existenz zu beweisen. Die Ritualisierung war dann oft auch das Mittel, um einen Brauch in ein Gewohnheitsrecht zu verwandeln, indem man ihn auf diese Weise formalisierte. Illustrativ hierfür war zweifellos die sog. „Enquête par turbe“ oder probatio per turbam (S. 231f), die in der besprochenen Arbeit nur summarisch geschildert wird.
Im Ergebnis zeigt sich, dass sich aus der Theorie des späten ius commune in Italien ein ganz anderer Gewohnheitsrechtsbegriff herausbildet als der heutige, was der Verfasser in seinem Abschnitt „Zusammenfassung und Ausblick“ hervorhebt.
In einem Punkt allerdings muss ich dem Verfasser widersprechen, wenn er schreibt (S. 279), dass in der Schweiz nach dem Schwabenkrieg und wegen der Exemtion vom Reichskammergericht sowohl die Juristenbildung als auch die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts von der „volkstümlichen Rechtskultur“ verdrängt worden sei. Diese immer noch herrschende Auffassung, welche namentlich Ferdinand Elsener (Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, 1975, S. 31f.) vertreten hat, glaube ich nämlich in mindestens zwei Aufsätzen widerlegt zu haben (Der Stand der Kodifikationsentwicklung Ende des 16., Anfangs des 17.J ahrhunderts, in Das Reich und die Eidgenossenschaft 1580-1650, Fribourg 1986, S. 179-202, und Die Methoden der Rezeption des römisch-gemeinen Rechts in den Erbrechten der Schweiz, in ZRG, Germ.Abt. 120 [2003] S. 1–60). Zunächst kenne ich keinerlei Quellen, die darauf hinweisen würden, dass mit der Exemtion vom Reichskammergericht sich in bezug auf die schweizerische Rechtsentwicklung irgend etwas geändert hätte. Wohl waren die damaligen Richter der unteren Instanzen in der deutschen Schweiz nicht besonders juristisch ausgebildet (H. R. Hagemann, Zur Krise spätmittelalterlicher Schöffengerichtsbarkeit, in Festschrift Karl Kroeschell S. 89-99), aber dies war nicht anders im übrigen Reich (Isabelle Deflers, Lex und ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, 2005, S. 111, 129 und 144). Dagegen waren die damaligen kantonalen Rechte vom römischen Recht viel mehr durchdrungen, als bisher angenommen wurde, sodass es nicht mehr zulässig ist, undifferenziert von einer „volkstümlichen Rechtskultur“ zu sprechen. Dies ist umso weniger gerechtfertigt, als die französischsprachige Schweiz eine gehobenere Rechtskultur vorweisen kann (vgl. J. F. Poudret, Coutumes et coutumiers, 4 Bde 1998ff.). Diese Meinungsverschiedenheit auf einem Nebenkriegsschauplatz kann an der Tatsache aber nichts ändern, dass die besprochene Monographie nicht nur eine Forschungslücke schließt, sondern auch präzis und klar das Problem Gewohnheitsrecht in der Sicht der damaligen italienischen Juristen darstellt.
Winterthur Theodor Bühler