Germann, Urs, Psychiatrie

und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850-1950. Chronos, Zürich 2004. 594 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

Germann, Urs, Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850-1950. Chronos, Zürich 2004. 594 S.

 

Erneut ist eine geschichtswissenschaftliche Dissertation anzuzeigen, die sich mit der Entstehung und der Etablierung der forensischen Psychiatrie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auseinandersetzt. Mittlerweile erscheint es fraglich, ob das Thema solch geballte wissenschaftliche Aufmerksamkeit wirklich verdient. Das Ziel, das Urs Germann in seiner Berner historischen Dissertation verfolgt, nämlich der „Nachweis einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigungspraxis durch Strafjustiz und Psychiatrie“ auf einem strukturtheoretischen Hintergrund ist jedenfalls kein juristisch oder psychiatrisch[1] hochgestecktes Ziel und schon nach der Einleitung drängt sich die Vermutung auf, dass dieses Ziel wohl sicher erreicht werden wird.

 

Der Autor widmet sich schwerpunktmäßig einer lokalen Spielart der forensischen Psychiatrie im Schweizer Kanton Bern. Insofern wird wissenschaftliches Neuland betreten. Diese Konzentration auf die lokalhistorischen Gegebenheiten wird eingangs auf 100 Seiten breit abgestützt durch eine Durchmarsch durch die (west-) europäische Psychiatrie- und Strafrechtsgeschichte, bevor die Schweizer Psychiatrie und Strafrechtsreform in den Blick genommen wird. Diese allgemeine Einleitung kann mit neuen Einsichten punktuell überraschen. Mit sicherer Hand versteht Germann es, der Versuchung zu widerstehen, die wissenschaftliche Debatte um die Ätiologie des Verbrechens, um die Begutachtung des Geisteszustandes der Täter und um die Beurteilung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat als eine Geschichte in den Abgrund der Perversionen des Dritten Reiches zu zeichnen, eine Versuchung, der einschlägige deutsche Arbeiten mitunter allzu leicht nachgeben.

 

Den Hauptteil der Arbeit bilden einerseits die „Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis – Das Beispiel des Kantons Bern“ und andererseits die „Demedikalisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen“, wiederum bezogen auf die Schweiz. Insgesamt entsteht so ein ausführlicher und breit gefächerter Überblick. Dabei konnte es freilich nicht ausbleiben, dass in den lokal eng geführten Abschnitten der Arbeit zahlreiche Überschneidungen mit und Wiederholungen aus der allgemeinen Einleitung auftauchen.

 

Kurz referiert beobachtet Germann beginnend im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zur Herausbildung der Psychiatrie als eigenes medizinisches Lehrfach bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Bestreben, Kriminalität zu pathologisieren und damit der psychiatrischen Beurteilungskompetenz zu unterwerfen. Diese sogenannte Medikalisierungstendenz wurde von der noch im Kaiserreich einsetzenden, nach dem ersten Weltkrieg Dynamik gewinnenden Strafrechtsreformbewegung aufgegriffen und zur Begründung des zweigleisigen Sanktionensystems verwendet, nachdem das eingleisige, konsequent „medizinalisierte“ Modell (Enrico Ferri, Emil Kraepelin) von den deutschen Strafrechtslehrern wegen seiner Radikalität wohl für undurchsetzbar gehalten wurde.

 

Germann findet genau diese Tendenzen auch für die Schweiz, in der die vor allem von Carl Stoos, Emil Zürcher und Alfred Gautier forcierte Strafrechtsreformdebatte noch dadurch dynamisiert wurde, dass es seit 1890 darum ging, ein überkantonales Strafrecht zu kodifizieren – was auf ein lebhaftes Interesse der Schweizer Psychiater (zu nennen wären hier Auguste Forel, Eugen Bleuler und Wilhelm von Speyr) stieß –, bestätigt. Sehr erfolgreich sei die Einflussnahme der schweizerischen Psychiater im Einheitsstrafrecht in institutioneller Hinsicht freilich nicht gewesen.

 

Anschließend weist Germann die kriminalpolitischen Tendenzen in der Justizpraxis des Kantons Bern empirisch nach. Das geschieht unter Zugrundelegung des soziologischen Strukturmodells Andreas Reckwitz’, mit dem die Zusammenarbeit von Juristen und Psychiatern als ein „Praxisfeld, das durch normative und kognitive Regeln sowie institutionelle und personelle Rahmenbedingungen konditioniert wurde“ gedeutet wird. Dafür hat Germann auch noch einen Oberbegriff: den des „forensisch-psychiatrischen Dispositivs“. Als Jurist – und damit Teil der betrachteten Struktur – kann der Rezensent zum Sinn solcher Überlegungen nichts beitragen. Das alles ist – auch statistisch – sehr gründlich gearbeitet und bietet zahlreiche Einzeleinblicke, die das Gesamtbild deutlicher als die bisherige Literatur konturieren. Sehr plastisch gelingt es Germann in vielen Rekonstruktionen, zu belegen, wie die psychiatrische Diagnose „Psychopathie“ Verletzungen der Tabus des „bürgerlichen Wertehimmels“ und widersprüchliches Verhalten erklär- und justiziell handhabbar machen konnte.

 

Germann resümiert schließlich, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine intensivierte arbeitsteilige Zusammenarbeit (solche sprachlichen Tautologien kommen in der Arbeit öfter vor) von Justiz-, Verwaltungsbehörden und Psychiatern herausgebildet habe, bei der kriminelles Verhalten in wachsendem Ausmaß in medizinisch-psychiatrische Sinnzusammenhänge gestellt wurde. Was Germann den Psychiatern damit vorwirft – und das versteht auch, wer sich mit Strukturmodellen nicht auskennt –, ist die Tatsache, dass sie sich von der am herkömmlichen Schuldstrafrecht orientierten Justizpraxis als „Kriminalitätsbewältiger“ haben benutzen lassen: Juristen und Ärzte der Jahrhundertwende hätten in den psychischen Abnormitäten namentlich von Angehörigen der Unterschichten in erster Linie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und den organischen Zusammenhalt der Gesellschaft gesehen. Die Entstehung der arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung (mitsamt ihrer „modernen“ Maßnahmepraxis) sei demnach nichts anderes als die Antwort der bürgerlichen Gesellschaft auf dieses neue Bedrohungsszenario gewesen (S. 315).

 

Nach dem beschriebenen, zweifelhaften „Triumph der Strafrechtsreformer“ habe sich aber bereits in der Zwischenkriegszeit eine gegenläufige „Demedikalisierungstendenz“ breitgemacht. Es überrascht niemanden, der mit der Thematik auch nur oberflächlich vertraut ist, dass der therapieresistente „Psychopath“[2], den die Reformer aus der Straf- in die Irrenanstalt gespült hatten, dort massiv störte und dass deswegen definitorische Auswege aus einer Überforderung der psychiatrischen Institutionen und zur Entlastung der psychiatrischen Infrastruktur gesucht wurden, da die eigenständigen Zentralanstalten für die „abnormen Delinquenten“ oder „verbrecherischen Geisteskranken“ nicht zustande kamen. Der Psychopath musste zurück in die Strafanstalt. Das funktionierte nur durch eine terminologische Umkehr. In Deutschland vollzog das nach Germann Karl Wilmanns,[3] in der Schweiz Karl Gehry und Charlot Strasser. Das Schweizer Bundesgericht habe diese Tendenzen sanktioniert – hinzuzufügen wäre noch: ebenso wie der deutsche Bundesgerichtshof die deutsche Demedikalisierungstendenz, die auch hier (Wilmanns, Kurt Schneider) bereits vor 1933 begonnen hatte. Und auch in der Schweiz regte sich gegen Ende der 1960er Jahre Widerstand gegen die nun so genannte „repressive Kriminalpsychiatrie“, die sich in den 1970er Jahren in Gestalt einer psychoanalytisch orientierten Sozialpsychiatrie durchsetzte: Wellenbewegungen – jede Generation nahm die Konzepte der Großelterngeneration auf und lehnte die der Elterngeneration ab. Die Banalität dieser Konsequenz mag Germann davon abgeschreckt haben, sie zu ziehen.

 

Doch zurück zum Erkenntnisziel der Arbeit: Ist es überraschend, dass zur „Bewältigung“ sozialer Devianz möglichst viele nicht deviante soziale Institutionen tätig wurden? Soziale Devianz kam und kommt in allen historischen Gesellschaften vor – Reaktionen darauf sind, solange die Gesellschaft eine Vorstellung von ihrer Zukunft hat, eine blanke anthropologische Konstante. Die Mittel der Reaktion variieren und sicher ist die Psychiatrie eine historisch junge Erscheinungsform. Aber alle bisherigen europäischen Reaktionssysteme versuchten, soziale Devianz zu bewältigen – ergebnislos, wie wir wissen. Damit zusammen hängt auch eine weitere Beobachtung:

 

Ungewohnt für Juristen ist Germanns fortgesetzte Rede von der „Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses“. Warum das Abstellen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – oft missdeutet als „Willensfreiheit“ – in den einschlägigen normativen Quellen als „Willenssemantik“ bezeichnet werden muss und warum das spezifisch „bürgerlich“ sein soll[4], ist mir dunkel geblieben: jedenfalls fehlt die deutlich ausgesprochene Gegenposition. Wer den „bürgerlichen Wertehimmel“ als einen wissenschaftlichen Popanz abtut, der sollte klar benennen, wie z. B. ein „klassenloser“ oder ein „pluralistischer Wertehimmel“ aussehen soll und welche Sicherungen dieser gegen die Verletzungen der dort angepinnten Tabus benötigt.[5] Hilfreich wäre es insofern, wenn einmal die Geschichte der forensischen Psychiatrie der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik geschrieben würde. Klar ist überdies, dass das medizinische Koordinatensystem „gesund/krank“ ein antagonistisches Gegenmodell für „willensfrei/willensunfrei“ weder war noch ist.

 

Und eine letzte Bemerkung: Etwas verstörend wirkt – engagierte Frauenrechtlerinnen und Frauenrechtler mögen es dem Rezensenten verzeihen – das penibel durchgehaltene sogenannte große Binnen-I selbst für historische Zeiträume, in denen niemand auf die Idee gekommen wäre, von „StraftäterInnen“ zu sprechen oder zu schreiben. Wie weit muss die political correctness in wissenschaftlichen Texten eigentlich getrieben werden? Wissenschaftliche Korrektheit hat immerhin ein Personenregister hervorgebracht, ein Sachregister fehlt.

 

Leipzig                                                                                    Adrian Schmidt-Recla

[1] Das sind die beiden Gegenstände, bezüglich derer sich der Rezensent aus eigener Anschauung ein Urteil erlauben kann.

[2] Immer und immer wieder ist es dieses Störungsbild, das historisch verschiedene terminologische Etiketten trug, auf dem abwechselnd integrierend oder abgrenzend herumgeritten wurde. Nun hat sich diese in der Psychiatrie seit Jahrzehnten völlig unbestrittene Erkenntnis also auch in die philosophisch-historischen Fakultäten herumgesprochen.

[3] Hier stimme ich Germann ausdrücklich zu.

[4] „Nicht bürgerliche“ Strafrechtssysteme des 20. Jh. kamen ohne die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ebenso wenig aus. Was sie an Gesellschaftsfeindlichkeit hinzusetzten, ist normativ-strukturell irrelevant.

[5] Der Historiker mag einwenden, dass das nicht seines Amtes sei. Den Strafjuristen und auch den forensisch tätigen Psychiater oder Psychologen kann und darf diese Aussage nicht befriedigen.