Humanisten am Oberrhein
Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienste alter Herren, hg. v. Lembke, Sven/Müller, Markus (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 37). DRW-Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2004. VII, 320 S., 4 Abb.
Der gediegen ausgestattete Sammelband ist hervorgegangen aus einem Symposion anlässlich des 60. Geburtstags von Prof. Dr. Dieter Mertens am 11. Februar 2000, zu dem das Historische Seminar der Albert-Ludwig-Universität Freiburg und das Alemannische Institut Freiburg eingeladen hatten. Das Symposion widmete sich der Frage nach der politischen Funktion der neuen humanistischen Bildungselite in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Die Tätigkeit der Humanisten in Erziehung, Wissenschaft, Publizistik und Politikberatung sollte exemplarisch daraufhin untersucht werden, wie sich die intellektuelle Innovation des Humanismus unter strukturellen Zwängen zur Anpassung an herrschaftliche Bedürfnisse entwickeln konnte.
Auf die Einleitung der Herausgeber, welche die Thematik des Buches vertieft, folgt eine weit ausholende Untersuchung Markus Müllers über „Fürstenspiegel und Bischofsspiegel: der Beitrag Jakob Wimpfelings“. Der elsässische Humanist Wimpfeling gab 1512 den rund zweihundert Jahre früher verfassten Bischofsspiegel des Heinrich Fuller aus Hagenau - allerdings in einer späteren Bearbeitung durch den Heidelberger Theologen Heinrich von Hagenau - im Druck heraus und widmete diesen dem regierenden Straßburger Bischof Wilhelm von Honstein. Die Erneuerung des Weltklerus war das kirchenpolitische Hauptanliegen Wimpfelings, wobei er die Klerusreform als Teil einer umfassenden Bildungsreform sah, die auf eine sittliche Erneuerung der Gesamtgesellschaft hinwirken sollte. Müller zeigt auf, dass es sich bei der Veröffentlichung von Fullers Opus de moribus prelatorum nicht etwa um einen Anachronismus handelte, sondern dass Wimpfeling sich damit durchaus auf der Höhe seiner Zeit bewegte und nicht zuletzt auch seine eigene biographische Situation reflektierte. In einem Anhang zur historischen Einordnung von Fullers Opus in die Tradition der Bischofs- und Fürstenspiegel ediert Müller dasselbe, und zwar nach dessen erst 1950 wiederentdeckter autographer Fassung, zusammen mit einer bisher unbemerkten volkssprachlichen Redaktion des Werks. - Eine reizvolle Skizze des wenig bekannten Rastatter Humanisten Johannes Müller (ca. 1445-1491) zeichnet Felix Heinzer an Hand einer bislang unbeachteten handschriftlichen Quelle. Müller war lange Zeit Lehrer des Markgrafensohns Jakob II. von Baden, reiste mit ihm nach Paris und Italien und wurde im fortgeschrittenen Alter von ca. 40 Jahren in Ferrara zum Doktor beider Rechte promoviert. Eine von ihm verfertigte Sammelhandschrift vereinigte vorab rhetorische Texte, denen eine wichtige pädagogische Funktion zukam. - Klaus Graf nimmt sich des Straßburger Gelehrten und Seelsorgers Johannes Hug an und resümiert dessen einst weit verbreiteten, in lateinischer wie in deutscher Fassung 1504 im Druck erschienenen Traktat Quadruvium ecclesiae . Er widerlegt mancherlei Fehlurteile der bisherigen Literatur über den Autor und sein Werk und ordnet das vorab auf kanonistischen Quellen beruhende Kompendium der damaligen Reichspublizistik zu. Die Widmung des Opus an König Maximilian führte zu keiner näheren Beziehung zu diesem Herrscher; Hugs eigentliches Forum war denn auch nicht der Hof, sondern die neue Öffentlichkeit der Leser gelehrter und volkssprachlicher Werke. - Eine sehr bekannte Persönlichkeit des oberrheinischen Humanismus war Sebastian Brant. Antje Niederberger wirft die Frage auf, weshalb Brant zum Ende des Jahres 1500 die Stadt Basel, in der er viele Jahre gelebt und gearbeitet hatte, verließ und in seine alte Heimatstadt Straßburg zurückkehrte. Sie gelangt zum Schluss, dass sowohl berufliche und persönliche als auch politische Gründe ihn dazu bewogen haben: Straßburg bot ihm das gutdotierte, einflussreiche Amt eines Stadtschreibers an, während seine Karriereaussichten an der Universität Basel unsichere waren. Basels bevorstehender Anschluss an die schweizerische Eidgenossenschaft missfiel dem königs- und reichstreuen Brant. Andererseits hatte er in Straßburg ein geeignetes Umfeld, das ihm ermöglichte, sein humanistisches Wissen und literarisches Können wirksam in den Dienst Maximilians und des Reichs zu stellen und auch eine aktive Rolle als Jurist und gelehrter Berater des Herrschers zu spielen. - Mit dem genialischen poeta laureatus Jakob Locher befasst sich Frank Wittchow. Der Akt der Dichterkrönung, auf dem Locher seine Existenz aufbaute, war im Idealfall ein wechselseitiges Geben und Nehmen: Der Herrscher erhielt Panegyrik, der Dichter Prestige und Förderung. Locher produzierte zwar in reichem Maß die von Maximilian gewünschte Panegyrik, behielt sich dabei aber - wie der Verfasser am Beispiel des Lazarus-Dramas zeigt - einen gewissen Spielraum für „Uneindeutigkeiten“ vor. - Ein gekrönter Dichter war auch der bedeutende Humanist und Universitätslehrer Heinrich Glarean. Im Anschluss an Pierre Bourdieus Theorie der Felder untersucht Albert Schirrmeister, wie sich der Gelehrte im Literarischen Feld seiner Zeit zu profilieren suchte. Er legt dar, dass für Glarean die Widmungsschreiben und Kommentare zu seinen Editionen den Weg abgaben, auf dem sich die für seine Existenz als gelehrter Literat erforderliche Legitimation und Unterstützung aus dem Feld der Macht erlangen ließ. Andererseits dienten die Editionen selbst dem Ausweis philologischer Kompetenz, ohne die eine Widmung wertlos gewesen wäre; denn die angesprochenen Förderer wollten sich kulturelles Kapital erwerben. - Für den Einfluss humanistischen Gedankenguts auf das öffentliche Leben sind Philipp Melanchthons Schulordnungen und Schulbücher ein herausragendes Beispiel. So wurden seine Lehrbücher für den Unterricht in der Lateinschule auch von der württembergischen Schulordnung (1559) vorgeschrieben. Sabine Holtz schildert die Schulreformdiskussion, die im Herzogtum Württemberg im Laufe des 17. Jahrhunderts geführt wurde und 1686 die Gründung des Stuttgarter Gymnasiums zur Folge hatte. Das Lehrprogramm für diese neue Ausbildungsstätte weist zwar vorsichtige Ansätze zu einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht auf; doch die sprachlich-humanistischen Fächer bildeten nach wie vor die Kernstücke des Lehrplans. Melanchthons Bildungsideale blieben weiterhin gültig, wurden aber an die Bedürfnisse des frühmodernen Staates angepasst. - Im letzten Beitrag unterzieht Theodor Verweyen zwei frühneuzeitliche Romane, nämlich Jörg Wickrams Goldtfaden und Martin Opitz' Argenis , einer eindringlichen literaturwissenschaftlichen und soziokulturellen Analyse; er bedient sich dabei allerdings einer (wohl unumgänglichen) spezifischen Fachsprache, die ein einfacher Rechtshistoriker wie der Rezensent über weite Strecken nicht zu entschlüsseln vermag.
In ihrem Schlusswort resümieren die beiden Herausgeber die einzelnen Beiträge des Bandes unter dem Stichwort: „An Humanisten den Humanismus verstehen“. Das Buch, auch wenn es nicht der Rechtsgeschichte im engeren Sinne angehört, kann auch dem Rechtshistoriker mancherlei Anregungen vermitteln.
Basel Hans-Rudolf Hagemann