Ranieri, Filippo, Europäisches Obligationenrecht
Ranieri, Filippo, Europäisches Obligationenrecht, 2. Aufl. Springer, Wien 2003. XIX, 742 S.
Mit der Neuauflage des erstmals 1999 erschienenen Europäischen Obligationenrechts stellt Filippo Ranieri eindrucksvoll sein Engagement unter Beweis, im Hinblick auf die Internationalisierung der juristischen, vor allem der anwaltlichen Tätigkeit, eine Lehre zu entwickeln, die „europäisches Grundlagenwissen“ vermittelt (S. 1). Getreu dem Verständnis des kontinentalen Zivilrechts als eine „diskursive Gemeinschaft“ behandelt das Hand- und Casebook die „Kernstrukturen der kontinentaleuropäischen und der englischen Rechtstradition“ (S. 3). Der methodische Zugriff gelingt durch eine systematisch strukturierte Präsentation mit einer problem- und fallbezogenen Erörterung von Gerichtsentscheidungen (S. 4), d. h. durch eine „induktive Problemvermittlung“ (S. 5), da es für eine rein systematische Darstellung an der erforderlichen Einheit der Begrifflichkeit (noch) fehlt. Erklärtes Ziel ist die „Entwicklung eines echten europäischen juristischen Rechtsunterrichts“ (S. 8).
Das erste Kapitel („Das Vertragsrecht in Europa“) ist den Grundzügen des Vertragsrechts gewidmet, insbesondere der Entwicklung vom römisch-rechtlichen Formenzwang zur Verbindlichkeit des formlosen Vertrags (S. 11–15) bzw. in England der Entwicklung von der action of Assumpsit bzw. der action for debt zur Lehre von der consideration (Rann v. Hughes (1778) 101 E.R. 1014; Roscorla v. Thomas (1842) 3 Q.B. 234). Die Diskussion über die Harmonisierung des Zivilrechts und insbesondere des Vertragsrechts folgt im Anschluss daran (S. 29 – 33), bevor der Verfasser die Frage aufwirft, inwieweit EG-Richtlinien ein geeignetes Harmonisierungsinstrument darstellen (dazu später S. 131, 330).
Das zweite Kapitel („Willenserklärung und Vertrag“) streift zunächst kurz die pandektistische Lehre der Willenserklärung (S. 46–53), bevor die Lehre vom Rechtsgeschäft und das Erklärungsbewusstsein als Bestandteil der Willenserklärung (z. B. BGHZ 91, 324) im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dem folgen Ausführungen zum Schweigen als Erklärung (z. B. die Scheckfalle, BGHZ 111, 97) bzw. zur Vertragsfiktion, mit denen die französische Rechtsprechung sog. „Rettungsfälle“ löst (etwa Cass. civ. 1.12.1969, JCP 1970, II, no. 16445), die in Deutschland unter das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag fallen (S. 62, ausführlich dazu Kap. 14). Daran schließen sich einige Bemerkungen zu den Unterschieden im Urteils- und Argumentationsstil an (S. 62–66).
Das dritte Kapitel behandelt den „Vertragsschluss unter Abwesenden“ und vor allem die Problematik der Widerruflichkeit einer Willenserklärung. Im gemeinen Recht galt der Grundsatz, dass bis zum Vertragsschluss ein Angebot frei widerruflich war (vgl. heute § 862 ABGB); in den jüngeren Kodifikationen ist dies zumeist nicht mehr der Fall (S. 72–97). Die französische Rechtsprechung kennt wie das gemeine Recht den Grundsatz der freien Widerruflichkeit des Antrags bis zum Zeitpunkt des Zugangs der Annahmeerklärung (vgl. Cass. civ. 21.12.1960, D. 1961, Jur., 417 note Ph. Malaurie), schränkt diesen jedoch teilweise ein (S. 97). In Italien führte ein ähnlicher Rechtsgrundsatz dazu, dass ein vor Zugang der Annahme erklärter Widerruf selbst dann noch rechtzeitig war, wenn der Widerruf erst nach der Annahmeerklärung zuging. Diese Rechtsprechung hat die Corte di cassazione inzwischen jedoch aufgegeben (16. 5. 2000, Foro it. 2001, I, Sp. 227). Ähnliche Probleme stellen sich auch beim Tod des Erklärenden, der im gemeinen Recht als ein Sonderfall des Widerrufs die Erklärung unwirksam werden ließ. Im englischen Recht gilt der Grundsatz, dass der Vertrag bereits mit Absendung der Annahmeerklärung geschlossen ist (sog. mailbox rule, Adams v. Lindsell (1818) 1 B. & Ald. 681). Bei anderen Willenserklärungen wie etwa einem Widerruf ist jedoch Kenntnisnahme erforderlich (Byrne v. van Tienhoven (1880) 5 C.P.D. 344), ebenso beim Vertragsschluss per Telex (Entores LD v. Miles Far East Corporation [1955] 2 Q.B. 327). Für den Sonderfall unbestellter Waren gibt es seit einiger Zeit besondere gesetzliche Regelungen. Nach Ansicht des Autors hat hier die Fernabsatz-Richtlinie der EG (Art. 9 RL 97/7/EG) nicht zu einer nennenswerten Harmonisierung der Rechtslage geführt (S. 131).
Kapitel 4 ist dem „Vertragsschluss und Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ gewidmet. Die seit Ende des 19. Jahrhundert bestehende AGB-Problematik wurde zunächst in der Gesetzgebung ignoriert, so dass eine Kontrolle nur über die Frage der Einbeziehung und über Generalklauseln wie § 138 BGB erfolgte (z. B. RGZ 62, 264; 103, 84). Die Einbeziehung allgemeiner Geschäftsbedingungen wird erstmals in Art. 1341, 1342 des italienischen codice civile von 1942 geregelt. Inzwischen hat sich eine in Art. 2.104 Principles of European Contract Law ausgedrückte gesamteuropäische Rechtsüberzeugung herauskristallisiert, wonach die Möglichkeit der Kenntnisnahme eine entscheidende Voraussetzung der Einbeziehung ist (S. 152). Bei kollidierenden allgemeinen Geschäftsbedingungen wird ein Vertrag nach Möglichkeit aufrecht erhalten (S. 161ff., z. B. OGH v. 7. 6. 1990, JBl. 1991, 120; BGH, BGHZ 61, 282). Eine Inhaltskontrolle setzt sich in Europa erst nach und nach durch (S. 167ff.) und ist dabei z. B. in Frankreich, England und Österreich nicht auf allgemeine Geschäftsbedingungen beschränkt (S. 171, 177, 179); allgemein ist eine Tendenz auch zur Einbeziehung von Individualabreden erkennbar (S. 204). Die Schweiz nimmt insofern eine Sonderstellung ein, da es hier immer noch an einer spezialgesetzlichen Regelung fehlt und eine Kontrolle nur über die Ungewöhnlichkeitsregel und Generalklauseln wie Art. 100 Abs. 1 OR stattfindet (S. 206).
Im fünften Kapitel („Vertragsschluss durch einen Vertreter“) stellt der Verfasser die Grundzüge des Stellvertretungsrechts dar. Hier galt im gemeinen Recht der Grundsatz des alteri stipulari nemo potest, aber bereits der Usus modernus hatte die unmittelbare Stellvertretung anerkannt (S. 216). Die von Laband entwickelte Trennung zwischen Vollmacht und Auftragsverhältnis (S. 218) ist in allen modernen Kodifikationen rezipiert (S. 220). Anerkannt ist ferner das Offenkundigkeitsprinzip (S. 222f.) und die Abgrenzung zur mittelbaren Stellvertretung (S. 224f.), letztere fehlt allerdings im englischen Recht (S. 227). Verkehrsschutz ist das Ziel der Lehre von der Duldungs- und Anscheinsvollmacht (OGH v. 16. 5. 1956, SZ Bd. 29 Nr. 42, S. 132), der Lehre vom mandat tacite bzw. mandat apparent (Cass. req. 13. 2. 1883, D. 1884, Jur., 80), von der procura apparente (Cass. civ. 7. 5. 1992, Foro it. 1992, I, Sp. 2680) oder der apparent authority (Freeman & Lockyer v. Buckhurst Park Properties (Mangal) Ltd. [1964] All E. R. 630). Fehlt die Vertretungsmacht, ist der Geschäftsherr nicht vertraglich gebunden; er kann das Geschäft allenfalls genehmigen (§ 1016 ABGB, Art. 1259 Abs. 2 Codigo civil, Art. 38 Abs. 1 OR). Problematisch ist dann die Haftung des Vertreters: Die französische und die österreichische Rechtsprechung entwickeln diese auf der Grundlage der deliktischen Generalklauseln in § 1295 ABGB und Art. 1382 Code civil, in den jüngeren Kodifikationen finden sich teilweise ausdrückliche Regelungen (S. 265f.), und das common law nimmt eine implied warranty of authority an (S. 268).
Im sechsten Kapitel („Mangelhafte und falsche Warenlieferung im Kaufrecht“) befasst sich Ranieri mit der kaufrechtlichen Gewährleistung: Hier kommen bei Verzug das Recht auf Aufhebung des Vertrages in Betracht (S. 274f.), bei Sachmängeln, für die verschuldensunabhängig gehaftet wird (S. 277), ebenfalls die Vertragsaufhebung (S. 278f.) sowie Schadensersatzansprüche (S. 280), die eventuell Rügepflichten (S. 282f.) und einer kurzen Verjährung (S. 283 f.) unterliegen. Zentrales Problem ist zunächst die Abgrenzung zwischen Mangel und Falschlieferung: Diese war insbesondere im deutschen Recht vor der Schuldrechtsreform sehr umstritten (S. 285–294); ähnliche Probleme tauchten auch in Österreich (S. 294ff., mit der Ausnahme des Handelskaufs, S. 296f.), in der Schweiz (S. 299), in Frankreich (S. 304) und in Italien (S. 306) auf. Das englische Recht hingegen kennt nur die umfassende Rechtsfigur des breach of contract, so dass eine Unterscheidung zwischen aliud und peius entbehrlich ist (S. 311, vgl. Beale v. Taylor [1967] All E. R. 253, CA). Dies gilt auch für das CISG (S. 313ff.), das niederländische Zivilgesetzbuch (S. 316) und die Principles of European Contract Law (S. 317). Wie schon beim Recht des Vertragsschlusses hat auch hier die europäische Richtlinie (1999/44/EG) zu keiner Rechtsvereinheitlichung geführt und damit ihr Ziel einer echten Harmonisierung verfehlt (S. 330).
Einem ähnlich relevanten kaufrechtlichen Problem ist das Kapitel 7 („Eigenschaftsirrtum und Mängelgewährleistung beim Spezieskauf“) gewidmet. Hier geht es um das Verhältnis von Sachmängelrecht und Irrtumsrecht (S. 332f.), das sich aus unterschiedlichen Voraussetzungen, etwa den Folgen einer schuldhaften Unkenntnis des Mangels und unterschiedlicher Verjährungsfristen ergibt (S. 339–342). Im Anschluss an Lenel (Jher. Jahrb. 44 (1902), 7f.) geht man in Deutschland von der Vorrangigkeit des Kaufrechts aus (RGZ 61, 171ff.). Anders ist die Lösung in Österreich und der Schweiz, wo Kaufrecht und Anfechtung wegen eines Eigenschaftsirrtums konkurrierend geltend gemacht werden können (S. 348ff.). Unklar ist die Rechtslage in Frankreich (S. 356–363), wo umstritten ist, ob die action en nullité gem. Art. 1110 Code civil neben den kaufrechtlichen Rechtsbehelfen aus Art. 1641ff. Code civil geltend gemacht werden kann. Auch im internationalen Kaufrecht existieren unterschiedliche Lösungen: Art. 4.119 Principles of European Contract lässt eine Konkurrenz zu (S. 373), während Art. 3.7 UNIDROIT vom Vorrang des Kaufrechts ausgeht. Die Auslegung der CISG ist streitig (S. 375f.).
Deutliche dogmatische Unterschiede der Vergleichsordnungen zeigt das Kapitel 8 zur „Kausalität und Abstraktion“. Das gemeinrechtliche causa-Erfordernis wird insbesondere in Frankreich, Spanien und Italien rezipiert, insbes. in Art. 1108, 1131 Code civil (S. 382). Der deutsche Usus modernus und die Pandektistik dagegen gehen andere Wege. Aus dem Widerspruch zwischen Dig. 12, 1, 18 und Dig. 41, 1, 36 entwickelt sich in Deutschland das Abstraktionsprinzip (S. 383f.), das zunächst auch in der Schweiz anerkannt wird (S. 390ff.). Mit Art. 974 ZGB gibt das schweizerische Recht diese Lösung jedoch wieder auf (vgl. auch BG, 29. 11. 1929, BGE 55, II, 302 ff., das dies auch für Mobilien bestätigt). Relevant werden die unterschiedlichen Ansätze bei der Frage, ob eine causa erronea oder putativa für den Eigentumserwerb genügt. In Frankreich wird von Anfang an den Art. 1139, 938 Code civil das Prinzip der kausalen Übereignung entnommen (S. 396). Wegen dieser Unterschiede ist daher dort die typisch deutsche Unterscheidung zwischen Kondiktion und Vindikation unbekannt (S. 399–400). Bedeutung hat die Frage der abstrakten Übereignung auch für die Möglichkeit der abstrakten Sicherungsübereignung, die in Deutschland unbestritten möglich ist (S. 402–407), nicht aber in der Schweiz, Österreich und in Frankreich (S. 410 – 419). Anders als in Deutschland, ist in Österreich, der Schweiz und in Frankreich auch für den schuldrechtlichen Vertrag eine causa erforderlich (S. 421f.). Diese fehlt etwa beim Verkauf von Materialien zu okkulten Zwecken oder bei der Verpflichtung zur Übertragung von Rechten, die nicht existieren können, Fälle also, die in Deutschland über die Figur der anfänglichen Unmöglichkeit gelöst werden (S. 424–430).
Kapitel 9 („Abtretung von Forderungen“) beschreibt die unterschiedlichen Mechanismen der Forderungszession, die teilweise eine Abtretungsanzeige voraussetzt (S. 434–441). Die Darstellung umfaßt auch die Regelungen zur Haftung für Verität und Bonität (S. 442f.) und den Schutz des gutgläubigen Schuldners (S. 448–451) sowie den Schutz des Zessionars über § 816 Abs. 2 BGB oder über die bereicherungsrechtlichen Generalklauseln (S. 459–467).
Ein besonderes Sicherungsmittel behandelt Kapitel 10 („Der Bürgschaftsvertrag und der Schutz des Bürgen“). Hier stehen zunächst Formfragen im Mittelpunkt: Im gemeinen Recht konnte die Bürgschaft formfrei abgeschlossen werden, während zahlreiche jüngere Kodifikationen Formvorschriften aufstellen (§ 766 BGB, Art. 493 OR u. a.). In England regelt sec. 4 des Statute of frauds von 1677 die prozessuale Beweisführung für Ansprüche aus dem contract of guarantee (S. 476). In Frankreich galt wie im ancien droit zunächst Formfreiheit (Art. 2015 Code civil), im Hinblick auf Art. 1326 schwankt die Rechtsprechung jedoch jetzt zwischen der Anerkennung eines Formerfordernisses und der Formfreiheit (S. 478–483). Ein Sonderproblem stellt die Blankobürgschaft dar: Hier bestehen etwa in Deutschland und Österreich unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob sie das Schriftformerfordernis erfüllt (S. 485ff.). Die Verbraucherkreditrichtlinie ist auf Bürgschaften nicht anwendbar (EuGH, 23.3.2000, WM 2000, 713), vermag also einen Schutz des Bürgen nicht zu vermitteln; teilweise existieren jedoch spezialgesetzliche Regelungen (S. 496–498). Die deutsche Rechtsprechung erreicht dieses Schutzziel über die Sittenwidrigkeitskontrolle (S. 498 ff.), die auch in anderen Ländern Einfluss hat (S. 504f.), die italienische Rechtsprechung einen ähnlichen Schutz durch die Konstruktion von Informationspflichten des Bürgschaftsgläubigers (S. 508 – 510).
In Kapitel 11 („Schutzpflichten und Schadensersatz“) befasst sich der Autor mit den Folgen der Verletzung von Schutzpflichten. In Deutschland weicht die Rechtsprechung wegen der Schwächen des Deliktsrechts traditionell auf die quasivertragliche Haftung aus (S. 514ff.), die inzwischen in §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, Abs. 3 BGB kodifiziert wurde. Eine ähnliche Einordnung als vertragliche Haftung findet sich auch in Österreich (S. 523), während sich in Frankreich ein uneinheitliches Bild ergibt: Hier kommen sowohl die vertragliche Haftung („obligations de sécurité“) als auch die deliktische Sachwalterhaftung („garde du sol“, d. h. Haftung aus Art. 1384 Code civil) in Betracht (S. 530–534). Auch die italienische Rechtsprechung greift auf die Parallelvorschrift zu Art. 1384 Code civil in Art. 2051 codice civile zurück (S. 534–537). Mit höchst unterschiedlichen dogmatischen Konstruktionen kommen die nationalen Gerichte also zu praktisch ähnlichen Ergebnissen: Dogmatik hängt mithin stark vom gesetzlichen Rahmen ab und ist daher für Ranieri „kein Wert an sich“ (S. 538).
Das zwölfte Kapitel („Das Deliktsrecht und der Ersatz des reinen Vermögensschadens“) dokumentiert einen wesentlichen Unterschied zwischen der deliktischen Generalklausel in Art. 1382 Code civil und § 823 Abs. 1 BGB. Das BGB steht in der Tradition der actio Legis Aquiliae (S. 544ff.), ohne die im Naturrecht aus den Ausdehnungen der aquilischen Klage enstandene Generalklausel zu übernehmen (S. 540f.). Der Verlust von Unterhaltsansprüchen ist daher als reiner Vermögensschaden nur aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 844 BGB ersatzfähig, während in Frankreich dafür die deliktische Generalklausel genügt (S. 559–561). Auch vertragliche Beziehungen sind in Deutschland grundsätzlich deliktisch nicht geschützt (S. 563ff.), anders hingegen in Österreich (S. 566ff.). Französische Gerichte lassen in derartigen Fällen Schadensersatzansprüche jedoch zumeist an der erforderlichen Kausalität scheitern (S. 568ff.). Ähnliche Probleme existieren auch bei sog. Kabelfällen, also der Beschädigung von Stromleitungen, die bei Dritten zu Schäden führen, die nicht Eigentümer der Leitung sind (S. 577–593). Hier kann zumeist auch das von der deutschen Rechtsprechung entwickelte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht weiterhelfen (S. 582ff.). Aber auch in den Rechtsordnungen mit einer deliktischen Generalklausel schränkt die Rechtsprechung den Ersatz reiner Vermögensschäden teilweise ein (S. 587ff.).
Kapitel 13 („Der Ersatz von Schockschäden“) beschreibt die Ersatzfähigkeit von Schäden, die nahe Angehörige von Unfallopfern aus Anlass des Unfalls oder der Unfallnachricht erleiden. Die deutschen Gerichte nahmen zunächst an, dass es am erforderlichen Kausalzusammenhang fehlt (so noch RGZ 68, 47). Bei der Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB kam es in der Folgezeit maßgeblich darauf an, ob eine eigene Gesundheitsverletzung des Schockopfers zu bejahen war (S. 599ff.), d. h. ob der Schock eine Gesundheitsverletzung verursachte, die in ihrem Maß über den gewöhnlichen Schmerz bei dem Verlust naher Angehöriger hinausgeht (S. 603). Die österreichische Rechtsprechung stellte zunächst darauf ab, dass es sich um eine „nur mittelbare“ Schädigung handele, die nicht gem. § 1295 ABGB ersatzfähig sei (S. 605ff.). Erst mit einem Urteil vom 16. 6. 1994 erkannte der österreichische OGH die schockbedingte Beeinträchtigung als Körperverletzung an (ZVR 1995, Nr. 46, S. 116f.). Folglich sind im österreichischen Recht die Schockschäden naher Angehöriger grundsätzlich ersatzfähig (OGH, 21. 12. 1995, ZVR 1997, Nr. 75, S. 186), und zwar selbst dann, wenn der Schock nicht durch das Unfallerlebnis, sondern erst durch die Unfallnachricht verursacht wird (OGH, 22. 2. 2001, JBl. 2001, 659f.). In Frankreich ging die Rechtsprechung beim Ersatz derartiger Schockschäden (dommage par ricochet) zunächst sehr weit; inzwischen wird dies jedoch durch eine restriktive Kausalitätsprüfung wieder eingeschränkt (S. 621f.). Schockschäden, die von ganz außergewöhnlichen Faktoren bestimmt werden, sind daher nicht ersatzfähig (S. 622). Im common law ist die Ersatzfähigkeit nach dem tort of negligence an die Vorhersehbarkeit geknüpft (S. 626). Die Divergenz der dogmatischen Einordnung des Problems in den verschiedenen Rechtsordnungen relativiert nach Ansicht des Verfassers „den Glauben an den Eigenwert von dogmatischen Konstruktionen“; die Übereinstimmung in den Ergebnissen ermögliche sogar eine „kodifikatorische Fixierung“ etwa nach dem Vorschlag der Study Group on a European Civil Code (S. 636).
Das vierzehnte Kapitel behandelt die „Geschäftsführung ohne Auftrag und die ‚Rettungsfälle’“. Hier stellt sich die Frage nach der Ersatzfähigkeit der bei einer Hilfeleistung erlittenen Schäden, insbesondere im Rahmen der Geschäftsführung ohne Auftrag, einer Rechtsfigur, die auf die römische negotiorum gestio zurückgeht und in allen kontinentalen Kodifikationen aufgenommen wurde (S. 638). Im deutschen Recht liegt der Schwerpunkt der Diskussion bei dem Begriff der Aufwendung i. S. v. § 670 BGB, der grundsätzlich nur freiwillige Vermögensopfer umfasst; erst mit RGZ 167, 85 wurde anerkannt, dass Schäden aus typischen Risiken der übernommenen Tätigkeit analog § 670 BGB ersatzfähig sind (S. 642). Im schweizerischen Recht ist für Zufallsschäden des Helfers Art. 422 OR unmittelbar anwendbar, bei einem Auftrag zumindest analog (S. 647–649). In Österreich ist es umgekehrt: Hier gilt im Falle des Auftrags § 1014 ABGB, der den Ersatz des erlittenen Schadens vorsieht; außerhalb eines Auftragsverhältnisses wurde zunächst die Vorschrift des § 1043 ABGB (Ersatz bei Rettung aus Notfällen) als lex specialis angesehen, die anfangs eng ausgelegt, dann aber – im Hinblick auf die deutsche Lösung – auf alle Hilfeleistungen bei Unfällen angewendet wurde (S. 650ff.). In Frankreich besteht für die gestion d’affaires eine Spezialregelung für den Ersatz von Schäden (Art. 2000 Code civil), die wegen der restriktiven Handhabung der gestion d’affaires (S. 659) allerdings kaum zum Tragen kommt. Regelmäßig werden Rettungsfälle jedoch über die Konstruktion einer convention d’assistance gelöst (d. h. der Fiktion eines Hilfeleistungsvertrages, S. 655). Die dogmatischen Lösungen sind also z. T. sehr unterschiedlich und führen auch zu praktisch divergierenden Ergebnissen (S. 661); gleichwohl hält der Verfasser den Vorschlag der Study Group on a European Civil Code für „konsequent“, der eine Ersatzpflicht stets vorsieht, wenn jemand mit einem vernünftigen Grund in der primären Intention der Fremdnützigkeit handelt (S. 661).
Das letzte Kapitel behandelt schließlich „Die ‚bona fides’ und die richterliche Kontrolle der Rechtsausübung“. Der Sache nach geht es um die klassische römische exceptio doli, die insbesondere der deutschen gemeinrechtlichen Praxis bekannt war (S. 664). Nach Inkrafttreten des BGB ist sie in § 242 BGB verortet mit dem Rechtsinstitut der Verwirkung (S. 669ff.) oder dem Arglisteinwand gegenüber der Geltendmachung von Formmängeln (S. 675ff.). Dabei versetzt § 242 BGB in seiner Tragweite den Richter in die (gefährliche) Lage, „gleichsam als Gesetzgeber zu operieren“ (S. 677). Das deutsche Modell wird in der Schweiz und, nach anfänglichem Zögern, auch in Österreich und Italien nachgeahmt (S. 677ff., 687ff.). In Frankreich ist die allgemeine Arglisteinrede zwar unbekannt (S. 689), jedoch kommt die Rechtsprechung über andere Konstruktionen (insbesondere stillschweigender Rechtsverzicht) zu funktional gleichen Ergebnissen (S. 693). Die untersuchten kodifizierten Rechtsordnungen stimmen demnach darin überein, dass die Rechtsprechung stets die Möglichkeiten hat, im Einzelfall gesetzliche Ordnungsvorschriften zu korrigieren. In England hingegen ist ein Prinzip von Treu und Glauben unbekannt (S. 704), was der Verfasser insbesondere auf die Rezeptionsfestigkeit des common law zurückführt (S. 705). Funktional führt zwar auch im common law z. B. der Gedanke des estoppel zu Ergebnissen, die mit der deutschen Verwirkung vergleichbar sind; gegen eine Generalklausel nach deutschem Vorbild bestehen jedoch erhebliche Bedenken (S. 705). Damit erscheint die „richterliche Kontrolle einer treuwidrigen Rechtsausübung“ als Gedanke, der (nur) den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen „immanent“ ist (S. 706f.).
Die Erstauflage des Europäischen Obligationenrechts ist vollkommen zu Recht neben sieben weiteren Titeln als „Juristisches Buch des Jahres 2005“ ausgezeichnet worden. Nicht nur in der Auswahl der Themen des Vertrags- und Schuldrechts, sondern auch im funktional vergleichenden Zugriff vermag das jetzt in der zweiten Auflage vorgelegte Hand- und Casebook Filippo Ranieris zu überzeugen. Juristen müssen sich künftig auf eine „Vielgestalt der europäischen Situation“ einstellen (A. Flessner, JZ 2002, 14) und daher eine Methode entwickeln, die der „Pluralität der Rechtsquellen, der Relativität der Teilrechtssysteme und der Diversität der Rechtsinhalte“ Rechnung trägt (ibid., 16). Dies erfordert von der Ausbildungsliteratur eine europäische Auswahl des juristischen Materials und einen vergleichenden funktionalen Zugriff, der nicht monistisch am Gesetz des nationalen Gesetzgebers ausgerichtet sind. Das von Ranieri vorgelegte Buch ist ein großer Schritt in diese Richtung.
Passau Ulrike Müßig geb. Seif