Rechtsbegriffe im Mittelalter
Rechtsbegriffe im Mittelalter, hg. v. Cordes, Albrecht/Kannowski, Bernd (= Rechtshistorische Reihe 262). Lang, Frankfurt am Main 2002. VI, 153 S.
Die Aufmerksamkeit, die während der letzten Jahre namentlich durch die Forschungen Gerd Althoffs auf die Formen und Methoden mittelalterlicher Konfliktbeilegung gelenkt wurde, führte zu einer Erweiterung des Rechtsbegriffs, der unter Rechtshistorikern durchaus auf Kritik stieß (vgl. Jürgen Weitzel in ZRG Germ. Abt. 117 [2000], S. 689-702). Ein Symposium des Graduiertenkollegs für Europäische Rechtsgeschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main im Dezember 2000 nahm die Impulse dieser Diskussion auf und setzte sich mit der nicht nur für die rechtshistorische Mediävistik grundlegenden Frage auseinander, was „Recht“ in der ungelehrten Rechtskultur des Mittelalters eigentlich sei.
Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter (S. 1-27) skizziert den Forschungsstand zunächst mit einigen weitgehend unstrittigen Einsichten: daß mittelalterliches Recht im Kern Verfahrensrecht war, also eine inhaltliche Norm hinter der Art der Entscheidungsfindung zurücktrat; daß Recht nur sein konnte, was die Gemeinschaft durch ständigen Rechtsbrauch als Rechtsgewohnheit gegenwärtig hielt; daß es Raum für rechtlich erlaubte, private Gewaltanwendung und die Anerkennung hierdurch geschaffener Ergebnisse gab; daß Rechtsritualen deshalb besondere Bedeutung zukam, weil die Geltungskraft von Recht angesichts der fehlenden obrigkeitlichen Gewalt allein auf Konsens beruhte, der in den Ritualen sichtbar gemacht wurde. Ein zweiter Abschnitt gilt kontroversen Positionen, zunächst der Frage, ob es ein objektives Recht gab, also „ob vor Aufkommen des gelehrten Rechts überhaupt die Vorstellung existierte, es bestünden allgemeine Regeln, auf die man sich gegebenenfalls bei einer rechtlichen Auseinandersetzung berufen konnte“ (S. 13). Diese Frage nach einer die Rechtsgemeinschaft unabhängig vom strittigen Einzelfall überwölbenden, abstrakten normativen Ordnung („objektive Rechtsordnung“) wurde in der Forschung von Karl Kroeschell verneint, während Jürgen Weitzel betonte, daß ein Zusammenleben kaum funktioniert haben könne ohne ein Mindestmaß an Erwartungen bezüglich des Tuns oder Unterlassens der Mitmenschen; solche ungeschriebenen Normen seien auch für rechtliche Entscheidungen bedeutsam gewesen. Die zweite Kontroverse gilt der Autonomie des Rechts, inwieweit also das dinggenossenschaftlich gefundene Recht dem Einfluß der Mächtigen entzogen, Recht ein von Macht und Politik abgrenzbarer Bereich war. Diese Frage wird namentlich von Gerd Althoff und Jürgen Weitzel unterschiedlich beantwortet, wobei die Ursache dafür in den letztlich unterschiedlichen Erkenntnisinteressen des Historikers und des Rechtshistorikers zu liegen scheint: den einen interessiert vor allem Herrschaft und ihre Funktionsweise, den anderen das Recht als eigentlicher Gegenstand seines Fachs.
Albrecht Cordes, Rechtsgewohnheiten in lübischen Gesellschaftsverträgen (S. 29-41), geht von der grundsätzlichen Frage aus, ob es außerhalb vertraglicher Vereinbarungen so etwas wie Recht gegeben habe. Die diesbezügliche Kontroverse zwischen Kroeschell und Weitzel ist deshalb unlösbar, weil sie letztlich im Schweigen der Quellen begründet ist, mit dem nur methodisch verschieden umgegangen werden kann: entweder nimmt man es zum Anlaß größter Zurückhaltung und lehnt alle nicht in den Quellen selbst vorkommende Begriffe als anachronistisch ab (Kroeschell) oder aber man schließt über soziologische oder ethnologische Gesetzmäßigkeiten doch auf rechtliche Vorstellungen, die der mittelalterliche Mensch allerdings nicht ausdrücklich formuliert habe (Weitzel). Am Beispiel der Bestimmungen lübischer Gesellschaftsverträge um 1300 zeigt Cordes, daß die Vorstellung klarer Normativität und Erzwingbarkeit des Inhalts einer Rechtsnorm dem lübischen Rechtsdenken fremd war: denn obwohl ältere Grundsätze der Gewinnteilung um 1300 zur schriftlich fixierten, statutarischen Norm wurden, wuchs die Anzahl von Verträgen mit abweichenden Bestimmungen, so daß die Regelung des Statuts nurmehr als „Rechtsvorschlag“ (S. 36), als nicht normatives Recht oder als „Recht als Vorschlag“ (S. 37) beschreibbar ist.
Jürgen Weitzel, „Relatives Recht“ und „unvollkommene Rechtsgeltung“ im westlichen Mittelalter (S. 43-62), betont die im Vergleich zum heutigen Verständnis unterschiedliche Rechtsgeltung als charakteristisches Kennzeichen des schriftlosen, ungelehrten, weltlichen Rechts im Mittelalter. Gegenüber dem allgemeinen, einheitlichen und absoluten Geltungsanspruch des Rechts im modernen Staat mit seinem Herrschafts- und Gewaltmonopol müsse ein für das mittelalterliche Recht eigener Geltungsbegriff entwickelt werden. Als solcher erscheint die „unvollkommene oder reduzierte Rechtsgeltung“; sie habe ihre Ursache im „Normenkampf“ (S. 49), also in der Vielzahl konkurrierender Herrschaftsträger und Gerichte, die die Entwicklung einer Normenhierarchie verhinderte. Als typisch mittelalterlicher Sachverhalt ist daher „fehlende Regelungsexklusivität in Folge einander widerstreitender Rechtsnormen“ zu beobachten (S. 51). Für das Phänomen der relativen Rechtsgeltung ist vor allem ursächlich, daß es im Mittelalter unterschiedliche Zentren der Rechtsbildung gab, insbesondere Vertragspraxis und Prozeß. In der Vertragspraxis erwuchs Rechtsgeltung aus konsensualen Verpflichtungen, die aber auf den konkreten Fall beschränkt blieben und deren Geltung daher nur relativ war. Im Prozeß spielte das Herkommen eine besondere Rolle, die beachtete Regelhaftigkeit des Verfahrens. Weitzel betont, daß sich das Recht jedoch nicht alleine im Verfahren erschöpfte, sondern jedes Urteil auch inhaltlichen Kriterien entsprochen haben müsse, also Recht nicht nur aus Verfahrensregeln und vertraglichen Absprachen bestanden haben könne. Unter den Existenzbedingungen schriftlosen Rechts konnte aber sowohl die Regelhaftigkeit wie auch die Rechtsgewohnheit nur unvollkommene, relative Geltung entwickeln. Das Phänomen des schichtspezifischen, nach Ansehen der Person unterschiedlichen Strafens hält Weitzel für keine Konsequenz der unvollkommenen Rechtsgeltung, hier seien vielmehr noch offene Fragen. Die Formen außergerichtlicher Konfliktbeilegung möchte Weitzel im Gegensatz zu Althoff jedoch nicht dem Recht zuweisen; er wendet sich dezidiert gegen einen nur funktionalen Rechtsbegriff (S. 45, 47), der zwischen rechtlicher und sozialer Gewohnheit nicht deutlich unterscheide und daher zu unscharf sei; dem Recht sei im Gerichtsverfahren und im Urteil vielmehr ein Eigenbereich zuzuweisen, der sich von anderen Sozialnormen unterscheidet.
Karl Kroeschell, Theophanu und Adelheid (S. 63-77), untersucht das Problem der Vormundschaft über Otto III. In der Tatsache, daß sich die Kaiserinnen Theophanu und Adelheid, Ottos Mutter und Großmutter, bis zum Ende seines 14. Lebensjahres die „Regentschaft“ teilten, sieht Kroeschell eine auffallende und kaum zufällige Parallele zu Justinians Novelle 118 cap. 5. Damit ist nicht gesagt, daß das justinianische Recht im ottonischen Reich „gegolten“ habe, sondern nur, daß das Kaiserrecht als „überzeugenderes Rechtsargument“ (S. 72) die sächsische Rechtsvorstellung, die sich im Anspruch Heinrichs des Zänkers manifestierte, überwunden haben könnte; als möglicher Träger des Rechtswissens über die griechisch-römische Vorstellung der Vormundschaft von Mutter und Großmutter komme Johannes Philagathos in Betracht.
Gerd Althoff, Recht nach Ansehen der Person (S. 79-92), wendet sich gegen einen engen, lediglich am Gericht orientierten Rechtsbegriff und illustriert die Schwierigkeit, zwischen sozialen und rechtlichen Gewohnheiten trennscharf zu unterscheiden, an der Tätigkeit des Vermittlers, die insbesondere im Fall der Verwicklungen von Angehörigen der adeligen Führungsschicht in Konflikte mit dem König zu beobachten ist. Eine Beschränkung des Rechtsbegriffs auf Gericht und Urteil würde die vielfältigen, insbesondere von hochrangigen Personen wahrgenommenen Möglichkeiten außergerichtlicher Konfliktbeilegung in einen Bereich außerhalb des Rechts abdrängen. Jedoch wurden Vermittlung, Genugtuungsleistung und Hulderweis von den Zeitgenossen keineswegs als Verstoß gegen rechtliche Gepflogenheiten betrachtet, auch sucht man Anhaltspunkte für ein Unrechtsbewußtsein der Handelnden vergeblich. Althoffs Befund begründet überzeugend, daß die stets problematische Unterscheidung von rechtlichen und sozialen Normen die Verwendung eines weiter gefassten, funktionalen Rechtsbegriffs, der etwa auch die Vorstellung der Ehre umfasst, jedenfalls für den Historiker sinnvoll macht.
Yoichi Nishikawa, Die Entwicklung der königlichen Gesetzgebung in Deutschland in der Spätstauferzeit (S. 93-110), untersucht die Gesetzgebung als Form der Rechtsbildung und beobachtet zunächst am Beispiel des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 und dem Landfrieden Heinrichs (VII.) von 1234 ein Bemühen um Harmonisierung zwischen ausschließlich königlicher Gesetzgebungsbefugnis und dem Prinzip kollektiver Rechtsbildung durch Rat und Konsens der Fürsten. In einem zweiten Schritt versammelt Nishikawa Beispiele für das als Rechtsbildungsprozeß bemerkenswerte Zusammenwachsen zwischen dem auf Lösung eines Einzelfalls zielenden Privileg und der damit in manchen Fällen offenkundig auch verbundenen Vorstellung einer allgemeinen Norm. Daraus resultiert eine interessante Einsicht in die Wirkungsart königlicher Gesetzgebung: sie sei ebenso wie die Einzelprivilegien nur punktuell realisiert worden.
Gerhard Dilcher, Die Zwangsgewalt und der Rechtsbegriff vorstaatlicher Ordnungen im Mittelalter (S. 111-153), setzt seine auf einen weiter gefassten Rechtsbegriff gründenden Überlegungen zu Ordnung und Konflikt fort und nähert sich der Frage nach dem Recht über Max Webers Gedanken zum Rechtszwang, wonach die Geltung von Normen als Recht durch die Möglichkeit zwangsweiser Durchsetzung gesichert sei, so daß Recht als eine Ordnung „mit gewissen Garantien für die Chance ihrer empirischen Geltung“ erscheint (S. 119). Eine Aussage über das Recht ist also als Aussage über die Ausübung von Zwang möglich, wobei das gerichtliche Urteil zwar der „rechtlichste“ (S. 120), aber keineswegs einzige Weg zur Durchsetzung von Normvorstellungen erscheint. Vier Formen von Durchsetzungsgewalt lassen sich feststellen: das Aufgebot von Verwandten und Helfern in der Fehde, das Aufgebot der Nachbarschaft im Handhaftverfahren zur Feststellung der Rechtmäßigkeit von Gewaltanwendung, der Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft durch Acht und Bann sowie der Gerichtszwang, der allerdings solange prekär blieb, solange er von keinem selbstverständlichen staatlichen Zwangsapparat begleitete wurde, weshalb er insbesondere im Verhältnis zwischen Königsgericht und Großen häufig zur Machtfrage wurde. Als Grundlage dieser verschiedenen Erzwingungsformen sind gemeinsame normative Vorstellungen sozialer Ordnung erkennbar, wobei der intersubjektive Inhalt dieser Ordnung in einer oralen Kultur stets unsicher blieb und von Fall zu Fall durch Konsens festgestellt werden muß. Die von Gerd Althoff untersuchten Formen der Vermittlung und der deditio erweisen sich unter dem Blickwinkel der Zwangsgewalt betrachtet als ein Weg der Konfliktbeilegung, in der der König seine in der Durchsetzungskraft stets fragliche Zwangsgewalt nicht auf die Probe stellen mußte; aus Dilchers Sicht bezogen sich Althoffs vielzitierte „Spielregeln der Politik“ unverkennbar auf die Wiederherstellung der Ordnung, wenngleich nicht mit den Mitteln des engeren Rechtsverfahrens. Für die Frage nach dem Recht scheint die Frage nach der Zwangsgewalt überaus fruchtbar, denn die Erzwingung war der Punkt, an dem die Rechtsgemeinschaft zu einer konsensgetragenen Überzeugung von der Geltung bestimmter Normen gelangen mußte, die ihr der zwangsweisen Durchsetzung wert waren. Insoweit bei der Herstellung des notwendigen Konsenses das politische Gewicht von König und Großen nicht einfach ausgeblendet werden konnte, ergibt sich auch unter diesem Blickwinkel keine Bestätigung für die Annahme, daß Recht ein Bereich der Autonomie gegenüber der Politik gewesen sein könnte.
Das eindringliche Plädoyer für eine reflektierte Verwendung des Begriffes „Recht“ ist umso willkommener und notwendiger, als gerade in historischen Darstellungen viel zu häufig ein Rechtsbegriff verwendet wird, dem stillschweigend unser modernes Vorverständnis zu Grunde liegt. Der schmale, aber sehr ertragreiche Band sei daher auch und gerade Historikern empfohlen.
München Knut Görich