Schlüter, Bernd, Reichswissenschaft
Schlüter, Bernd, Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 168). Klostermann, Frankfurt am Main 2004. X, 522 S., 12 Taf.
Bereits der Untertitel deutet es an: In der umfangreichen Studie Bernd Schlüters, einer Berliner juristischen Dissertation aus dem Jahr 2001 (betreut von Bernhard Schlink und Michael Stolleis), sind nicht nur ein Buch, sondern eigentlich mindestens drei Bücher enthalten: Im Zentrum seiner Abhandlung (Teil 5) stehen die rechts- und staatstheoretischen Vorlesungen des wohl bekanntesten Juristen der Straßburger Reichsuniversität, Paul Laband (1838-1918), basierend auf einen sehr interessanten Quellenfund, den Schlüter in einer eigenen Edition (Berlin 2003) veröffentlicht hat. Fast gleichgewichtig jedoch werden zwei weitere Themen betrachtet: die Geschichte der Reichsuniversität Straßburg (Teil 1 bis 3), „die“ Reformuniversität des neu gegründeten deutschen Kaiserreichs (feierliche Eröffnung am 1. Mai 1872), und die Verfassungsgeschichte des „Reichslandes“ Elsaß-Lothringen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, betrachtet aus der Sicht der Straßburger Staatsrechtswissenschaft (Teil 4). Der Vorzug einer derart umfassenden Betrachtung und thematischen Einbettung des Hauptthemas wird leider durch die dadurch entstehende Inhomogentität der Studie beeinträchtigt, zumal Schlüter die Tendenz hat, zu breit aus den ausgewerteten unveröffentlichten und veröffentlichten Quellen zu zitieren.
Gestützt auf das Buch Pierangelo Schieras, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert (1992), versucht Schlüter die Herrschaftsnähe der damaligen, im Selbstverständnis „empirischen“ und nicht-normativen, deutschen Wissenschaft am Beispiel der Straßburger Staatsrechtslehre herauszuarbeiten. Eine Wissenschaft, die aber zugleich durch ihre Praxisnähe und neu entwickelte trennscharfe Begrifflichkeit die damalige deutsche Wissenschaftslandschaft entscheidend modernisierte: „Die Kaiser-Wilhelms-Universität, ihr Gründungsprogramm und ihre Wirksamkeit waren Ausdruck der Nähe von monarchischem Staat und Wissenschaft unter der Herrschaft der bürgerlich-konservativen Weltanschauung, ihrer Wissenschafts- und Staatsidee. Gleichzeitig repräsentierte sie ein neues Zeitalter wissenschaftlicher Selbstvergewisserung, staatlicher Wissenschaftsförderung und praxisorientierter Produktivität“ (S. 472). Die Reichsuniversität Straßburg sollte ähnlich wie die Berliner Universität zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Neubeginn symbolisieren und durch effiziente Elitenbildung langfristig absichern. Galt die Humboldt-Universität als Symbol des neuen Preußens der Staatsreformen, letztendlich erfolgreich im antinapoleonischen Befreiungskampf, so sollte die Straßburger Universitätsgründung auf „altem deutschem Boden“ dem neuen Nationalstaat nach siegreichem Waffengang jetzt ein starkes geistiges Fundament schaffen und zugleich das Elsaß kulturell wieder für Deutschland gewinnen, im zeitgenössischen Wortgebrauch: zu „regermanisieren“. Der preußischen Wissenschaftspolitik - Friedrich Althoff und sein „System“ stehen in enger Beziehung zur Gründungsgeschichte der Reichsuniversität Straßburg – gelang es, mittels eines starken politischen Willens und großzügiger Ausstattung Straßburg binnen kurzem zur Nummer 2 der deutschen Universitätslandschaft aufsteigen zu lassen. Ein ganzes, noch heute in Betrieb befindliches, Universitätsviertel entstand im Osten Straßburgs, dessen kaiserliche Architektur der Gründerzeit unübersehbar den deutschen Führungsanspruch auch auf wissenschaftlichem Gebiet markierte. Die Inschrift des Hauptgebäudes der Universität: „Litteris et patriae“, besitzt anscheinend eine transnational-zeitlose Geltung, da sie den dreimaligen nationalen Besitzwechsel der Universität unversehrt überstand. Ein durchweg junge Professorenschaft, begeistert von der politischen Mission und den beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, fand sich hier unter zum Teil neuartigen Studier- und Forschungsmöglichkeiten zusammen; die von der preußischen Armee im Krieg in Brand geschossene alte Universitätsbibliothek wurde in wenigen Jahren wieder mit einer vorbildlichen Ausstattung aufgebaut. Bekannte Namen unter den Professoren in allen Fakultäten prägten das Bild der Straßburger „Arbeitsuniversität“; genannt seien stellvertretend Adolf Kußmaul (Medizin), Albert Schweitzer (Theologie), Georg Dehio (Kunstgeschichte), Lujo Brentano (Staatswissenschaften), Harry Breslau (Geschichte) und Wilhelm Windelband (Philosophie). Mit der Zeit und der wachsenden Erkenntnis, dass das Elsass nicht so ohne weiteres zu Deutschland zurückfinden würde, erlahmte das Berliner Interesse an der Straßburger Universität, und diese sank allmählich in den Rang einer normalen „Provinzuniversität“ zurück.
Im Bereich der Rechtswissenschaft waren es – neben Paul Laband – vor allem Otto Mayer, Hermann Rehm und Edgar Loening, die das Straßburger Staats- und Verwaltungsrecht prägten. Laband gelang es, mit seinem stilbildenden „Staatsrecht des Deutschen Reiches“ bis in die höchsten politischen Ämter hinauf Aufmerksamkeit zu erregen. Das Staatsrecht erfasste begrifflich den empirisch vorhandenen Staat des deutschen Kaiserreiches und trug damit gleichzeitig zu seiner Legitimierung bei. Schlüter kann die zeitgenössisch enge Verbindung von Wissenschaft und Politik, die nicht nur personell durch das politisch-parlamentarische Engagement einer großen Zahl von Professoren gegeben war, auch an einem interessanten Beispiel konkret aufzeigen: Hatte Laband im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre, noch weitgehend unbemerkt von der Forschung, den harten Kurs des Ministerpräsidenten Bismarck in der Budgetfrage durch eine wissenschaftliche Veröffentlichung in der „Kreuzzeitung“ unterstützt, so gelang es ihm vierzig Jahre später, in die Verfassung für das Reichsland Elsaß-Lothringen von 1911 einen Passus einzubringen, der das Recht der Regierung, auch in etatloser Zeit Ausgaben und Einnahmen zu tätigen, verfassungsrechtlich absicherte.
Schlüter ist ein interessantes Buch gelungen, das viele Facetten aufweist und sowohl wissenschafts- und regionalhistorisch-Interessierte als auch rechtswissenschaftliche Leser finden sollte. Aus historischer Sichtweise ist kritisch anzumerken, dass zum deutschen Kaiserreich und seiner Elsaßpolitik inzwischen aktuellere Werke als die Studie Hans-Ulrich Wehlers aus dem Jahr 1961 vorliegen und eine einseitige Charakterisierung des Kaiserreichs als rückständiges, politisch-stagnierendes, halbkonstitutionelles Staatsgebilde bereits seit zwei Jahrzehnten der Vergangenheit angehört; innovativ wirkten hierbei insbesondere die Studien Thomas Nipperdeys seit den 1980er Jahren. Dass Schlüter dann gerade Ernst Rudolf Huber (1903-1990), der in der „Neuauflage“ der Reichsuniversität in der Zeit des Nationalsozialismus in der Nachfolge Labands ebenfalls in Straßburg Staatsrecht lehrte und den NS-Staat legitimierte, zur „neueren Historiographie“ (212f.) zählt, verwundert ebenso.
Saarbrücken Rainer Möhler