Töngi, Claudia, Um Leib und Leben

. Gewalt, Konflikt und Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts. Chronos, Zürich 2004. 434 S. Besprochen von Eva Lacour.

Töngi, Claudia, Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt und Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts. Chronos, Zürich 2004. 434 S.

 

In ihrer geschichtswissenschaftlichen Dissertation untersucht Claudia Töngi gewalttätige Konflikte im Schweizer Kanton Uri im 19. Jahrhundert. Sie unterscheidet dabei nach dem sozialen Zusammenhang der Taten drei große Typen: Gewalt in der Dorfgemeinschaft, Gewalt in der Familie und sexuelle Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Der erste Typ umfasst dabei Streit um Besitz und in der Nacht im Zusammenhang mit Freizeit, Geselligkeit und meist Alkohol. Die familiären Konflikte wiederum lassen sich in die beiden großen Gruppen der Gewalt zwischen Ehepartnern und derjenigen gegenüber Kindern gliedern.

 

Insgesamt bestätigen die Befunde Bekanntes, wie die große Bedeutung der Ehre im dörflichen Alltag, hinzu kommen jedoch bemerkenswerte Details. So unterschied sich die Gewalt von Männern gegenüber Männern deutlich von der gegenüber Frauen. Während sich Gewalt im Rahmen von Ehrenhändeln unter Männern oft „in ein paar Faustschlägen und dem Zu-Boden-Werfen“ des Kontrahenten erschöpften, reagierten Männer gegenüber Frauen, die ihre materiellen Interessen „wort- und tatkräftig“ durchzusetzen suchten, wesentlich brutaler: Zeugen berichten von „ganzen Kaskaden aufeinander folgender Gewalthandlungen“ (S. 143). Unbeteiligte Anwesende sahen außerdem länger zu, bevor sie eingriffen. Gegenüber Frauen griffen Männer zu Handlungen, mit denen sie den Charakter ihrer Tat als „Strafe“ zum Ausdruck bringen konnten, Schlägen mit der flachen Hand oder einem Stock etwa, nicht aber zu Fausthieben, die für Schlaghändel unter Gleichgestellten typisch waren. Gewalttätigkeiten zwischen Frauen finden sich selten in den Akten, was Töngi teilweise auf eine Verharmlosung dieser Taten durch die Gerichte als „Bagatellsache“ zurückführt (S. 153).

 

Interessant ist auch das kurze Kapitel über Gewalt als Mittel der Kindererziehung: „Während Bildung und Ausbildung eher nebensächlichen Stellenwert hatten, waren Gottesfurcht, Arbeitsfleiß, Achtung vor dem Eigentum, Sparsamkeit und vor allem Respekt und Gehorsam den Eltern und Erwachsenen gegenüber die wichtigsten Koordinaten, an welchen Erziehung [...] sich orientierte“ (S. 289). Ungehorsam und Vernachlässigung der Kindern aufgetragenen Pflichten zog als häufigste und wichtigste Sanktion Schläge nach sich. Diese Selbstverständlichkeit von „Erziehung als Verhaltenskontrolle durch Strafe“ bildet sicher eine der wesentlichsten Grundlagen für die große Häufigkeit von Gewalt in der Erwachsenenwelt, einen Schluss, den Töngi allerdings nicht zieht.

 

Sexuelle Gewalt führt Töngi u. a. darauf zurück, dass „ein gewisses Maß an Gewaltanwendung [...] durchaus vereinbar mit den gesellschaftlichen Bildern konformer männlicher Sexualpraktiken“ war (S. 397). Der Mann erreichte seinen „Willen“ mit Überredung, Drängen oder eben mit Gewalt. Eine Vergewaltigung war auch nicht unbedingt ein Hindernis für eine spätere Eheschließung.

 

Die gefundenen Konfliktarten spiegeln überwiegend die Lebensumstände in einer im 19. Jahrhundert noch traditionellen, bäuerlichen und nach außen weitgehend abgeschotteten Gesellschaft, wie sie in anderen europäischen Regionen in der frühen Neuzeit verbreitet waren. Lediglich die Zunahme von Messerstechereien unter Beteiligung italienischer Arbeiter lässt sich auf moderne Einflüsse zurückführen, nämlich auf den Bau der Gotthard-Eisenbahn am Ende des Jahrhunderts. Auch das an den Inquisitionsprozess angelehnte Strafverfahren wirkt für die Zeit überholt: weitgehend schriftlich und mit einer dominierenden Position des Verhörrichters als untersuchender Instanz. 1851 wurden die Gerichtssitzungen dann öffentlich.

 

Zwischen 1803 und 1885 wurden in Uri sechs Todesurteile wegen Gewaltdelikten vollstreckt, drei davon aufgrund von Raubmorden, aber auch eines wegen eines Wirtshausstreits. Ein letzter Raubmörder wurde 1924 hingerichtet. Die am häufigsten verhängte Strafe war aber – wie an anderen Orten auch – die Geldbuße. Freiheitsstrafen dagegen spielten erst mit einiger zeitlicher Verzögerung nach 1839 eine Rolle, nachdem ein kantonales Zuchthaus seinen Betrieb aufgenommen hatte. Auch Kirchenbußen waren im Uri des 19. Jahrhunderts noch sehr verbreitet. Bis Ende der 1870er Jahre waren Ermahnungen durch einen Repräsentanten der Obrigkeit oder einen Pfarrer ein sehr häufiges Strafelement. Ehrenstrafen wie das Prangerstehen wurden bis in die Jahrhundertmitte praktiziert.

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour