Wegerich, Christine, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit
Wegerich, Christine, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit. Justus Wilhelm Hedemann (1878-1963) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 44). Mohr (Siebeck), Tübingen 2004. XVI, 256 S.
„Gerade darin bestand die persönliche Tragik Hedemanns: Durch sein Schwimmen mit dem Zeitgeist, seine mangelnde Festlegung, seine Orientierung an großen Zielen und Ideen verlor er den Bezug zur Wirklichkeit, zum von ihm so viel beschworenen ‚Leben’“; mit diesem Resümee endet die von Rückert betreute, hier vorzustellende Dissertation (S. 206). Wird dieses Verdikt durch Leben und Wirken Hedemanns gerechtfertigt? Der Rezensent hat daran zumindest erhebliche Zweifel. Das Leben einer Person zu verfolgen, die als Jurist in vier Reichen[1] öffentlich tätig gewesen ist, stellt sich als eine faszinierende Aufgabe dar. Welche Wechselwirkung zwischen dem „großen Gang der welthistorischen Begebenheiten“ und der „Persönlichkeit“[2] lässt sich aufzeigen, wie ist das Verhalten im einzelnen zu würdigen, welche Alternativen hätte es gegeben, warum ist der Lebensweg so und nicht anders verlaufen. Und schließlich: welche Wirkungen entfalten Leben und Werk der dargestellten Person bis heute; verneinendenfalls, warum nicht.
In einem ersten Teil werden Leben und Werk Hedemanns dargestellt; eingebettet in die verschiedenen Lebensabschnitte werden Ausschnitte aus den jeweiligen wissenschaftlichen Arbeiten zitiert, wobei sich allerdings Doppelzitate mit dem zweiten Teil wohl nicht immer vermeiden ließen. Bereits in diesem Teil setzen Wertungen ein, die verhältnismäßig apodiktisch in den Raum gestellt und nur durch Fußnoten mit Hinweisen auf andere Autoren begründet werden. Besonders deutlich wird dies an der thesenhaften Erörterung von Hedemanns ‚Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert’. Methodisch wird ihm vorgeworfen, Geschichte als Legitimationswissenschaft zu (miß?-)brauchen (S. 34), was zumindest einen schiefen Eindruck macht, denn die „Sicherung eines glaubhaften historischen Bodens“ für das junge Recht des zwanzigsten Jahrhunderts[3] kann sowohl rückwärts als auch vorwärts vorgenommen werden; die Beschäftigung mit Rechtsgeschichte nach der Methode l’art pour l’art dürfte überholt sein. Auch der Vorwurf der Rückprojektion „antiliberaler Wünsche“ ins 19. Jahrhundert und damit dessen überwiegend negativer Einordnung bedürfte zumindest einer eingehenderen Begründung als einerseits wiederum Hinweise auf andere Autoren und andererseits aus dem Zusammenhang gerissene Zitate (S. 34 – 37). Selbst diese rechtfertigen den negativen Obersatz nicht. Denn die Beispiele für die Begrenzung einer „schrankenlosen Freiheit“ (Entmündigung der Trunkenbolde, Entmündigung wegen schlechter Vermögensverwaltung, Kampf gegen den liederlichen Ehemann, schließlich Bodenzersplitterung mit Verschuldung und wucherischen Treiben) weisen nicht unbedingt darauf hin, dass Hedemann die mangelnde Brauchbarkeit dieses Personenkreises für die Gemeinschaft im Auge hatte (so die Verfasserin), sondern an anderer Stelle wird von Hedemann selbst auf die Gefährdung der Familie verwiesen (S. 158). Auch die von Hedemann betonten negativen Folgen der sog. Bauernbefreiung4[4] können kaum als besonders positive Eigenschaft des Liberalismus bewertet werden; daraus den Vorwurf eines übersteigerten Gemeinschaftsdenkens herzuleiten, kann nicht nachvollzogen werden. Auch die persönlichen Lebensumstände werden durch eine politisch gefärbte Brille betrachtet (S. 81): zum Zeitpunkt der Unterbringung seines Sohnes in Bethel 1938 war einerseits das Euthanasie-Programm noch nicht angelaufen (1940), andererseits war Bethel dank des Widerstandes v. Bodelschwinghs nahezu die einzige Anstalt, die vor diesem Vernichtungsprogramm sicher war.
Der zweite Teil ist dem juristischen Denken Hedemanns gewidmet. Dabei wird dieses Denken nicht aus sich heraus analysiert, sondern es werden zwei Denktypen vorangestellt – der rationale und der irrationale -, Hedemann sofort in den irrationalen eingeordnet und dann seine Werke unter der Prämisse dieser Einordnung untersucht5[5]. Erstes Tatbestandsmerkmal des irrationalen Denktyps soll der Rückgriff auf das „Leben“ sein (S. 105). Was ist aber „Recht“ ohne Leben? „Das lebende Recht steckt aber nicht im Gesetzbuch und in den lehrhaften Darstellungen, sondern in der Praxis...“6[6]; ein anderes Zitat: „Das Recht ist ...nichts Totes, sondern etwas Lebendiges: die Rechtsordnung ist in ständigem Flusse begriffen; es gibt kein starres, für alle Zeiten gültiges Recht“7[7]. Dass sich mit diesem fließenden Rechtsbegriff die Gefahr der Rechtsperversion verbindet, wird nicht verkannt. Aber auch feststehende Regeln unterliegen der entsprechend zeitgeistlichen Uminterpretation. Um den entgegenzuwirken, erfolgt ein Rückgriff auf „Recht“ im Gegensatz zu „Gesetz“, wobei die Inhaltsbestimmung des „Rechtes“ ein die Rechtsphilosophie durch die Jahrhunderte beschäftigende Frage ist. Diesen Rückgriff als irrational zu denunzieren, erscheint daher geschichtslos. Ein anderes Problem ist die von den politischen Zeitläufen abhängige Konkretisierung des sog. höheren Rechts, bei der sich Hedemann in der Tat hat vom jeweiligen Zeitgeist leiten lassen. Aber dies ist nicht dem Rückgriff auf überpositives Recht geschuldet, sondern wohl eher der mangelnden Konkretisierung dieses höheren Rechts. Damit wird nicht die eingangs zitierte These der Verfasserin bestätigt, sondern auf die verschiedenen Argumentationsebenen verwiesen: die Bindung an höheres Recht einerseits, die Inhaltsbestimmung dieses Rechts andererseits. Eine ähnliche Verwirrung der Argumentationsebenen findet sich bei der Auseinandersetzung mit dem „Feindbild Liberalismus“ (S. 153): während Hedemann diesen Begriff „privatrechtlich“ interpretiert, stellt die Kritik der Verfasserin auf einen politisch-freiheitlichen Inhalt ab; diese Ebenen können natürlich mit entgegengesetzten Ergebnissen kontrastiert werden, ohne dass dadurch ein Erkenntnisgewinn eintritt. Schließlich kann in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, dass das gesamte Verbraucherschutzrecht notwendig geworden ist, weil eine Vertragsgerechtigkeit mit den schuldrechtlichen Mitteln des Bürgerlichen Gestzbuchs allein nicht mehr hergestellt werden konnte8[8]. Wie in einer Nußschale lassen sich alle typologischen Probleme mit Hedemann in seinen Ausführungen über die Stellung des Richters erkennen und würdigen9[9]. Ausgangspunkt war die sicher unbestreitbare Tatsache, dass der Gesetzgeber nicht alles im BGB geregelt hat10[10] – wobei die Möglichkeit, neue Erscheinungen durch die Generalklauseln zu erfassen, ausgeklammert bleiben -. Die neuen Erscheinungen gerade des Wirtschaftslebens sollten aber auch rechtlich erfasst und mussten im Streitfalle beurteilt werden. Hier kam der Rechtsprechung nach Hedemanns Auffassung eine bedeutende Rolle zu. Wieso der Rückgriff auf die konkreten Umstände des Einzelfalles, der Gedanke des sozialen Ausgleichs ein Kennzeichen für eine gesetzesfernere Rechtsfindung sein soll (s. S. 137), kann nur mit der Unkenntnis (der Verfasserin) richterlicher Arbeitsweise erklärt werden: der Richter ist nicht der berüchtigte „Mund des Gesetzes“, sondern
besteht in der Berücksichtigung der Tatbestände im Einzelfall, bei den höheren Instanzen dann aber auch der Herausbildung von über den Einzelfall hinausreichenden allgemein gültigen Grundsätzen; bei der Rechtsfindung ist gerade in Fällen, in denen eine konkrete Norm fehlt oder diese nicht auf den konkreten Fall zu passen scheint, ein Sozialausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden. Dass bei diesen der sog. „Zeitgeist“, wohl besser bezeichnet als die politisch-gesellschaftliche Grundstimmung der jeweiligen Epoche, mit eine Rolle spielt, wird nicht verkannt, lässt sich aber auch nicht vermeiden: die Rechtsprechung muss schließlich ihre Erkenntnisse den Rechtsunterworfenen vermitteln; wenn diese in einem bestimmten System leben und dieses akzeptiert haben, ist es nicht Aufgabe der Rechtsprechung, hier gegensteuernd „systemfremde“ Entscheidungen zu fällen. Letzte Schranke ist hier allerdings auch das überpositive Recht; dessen Anwendung Hedemann aber auch von der Verfasserin11[11] angekreidet wird.
Letztlich lässt sich die negative Haltung der Verfasserin gegenüber Hedemann nur mit dessen Haltung während der NS-Zeit legitimieren; um den Satz „1933 kam für Hedemann die Gelegenheit, seine Ideen zu verwirklichen“ ist die ganze Arbeit aufgebaut. Die Vor-1933-Arbeiten müssen zwangsläufig auf diese Zeit hinlaufen, die Nach-1945-Arbeiten stellen keinen Bruch dar. Die „Entbürgerlichung“ in dieser Zeit mit der Hinwendung zum allein wertvollen „Volksgenossen“ stellt aber genau so einen extremen Pendelschlag dar wie der Individualismus der schrankenlosen Vertragsfreiheit, die eben auf Grund der ausgeblendeten unterschiedlichen sozioökonomischen sozialen Stellung nicht allen gleichmäßig zur Verfügung stand. Woraus resultiert nun die angeblich „planvolle Vermeidung jeglicher Festlegung“ (S. 204)? Hier kann nicht außer Betracht bleiben, von welchen Rechtsmaterien Hedemann ausgeht: das ist neben dem Arbeitsrecht vor allem das Wirtschaftsrecht. Und letzteres entzieht sich bis heute einer präzisen Ordnung12[12], wie nicht nur immer wieder aufkommende wirtschaftstheoretische Diskussionen zeigen, sondern auch die Ausgestaltung z.B. des Ggegen Wettbewerbsbeschränkungen, das nun wahrlich nicht mehr als Musterbeispiel gesetzgeberischer Präzision bezeichnet werden kann. Im Wirtschaftsrecht fließen alle die Erscheinungen zusammen, die die Verfasserin Hedemann zum Vorwurf macht. Dieser Vorwurf fällt aber auf sie zurück, weil sie die Besonderheiten dieser Materie, von der Hedemann ausgegangen ist, nicht beachtet hat.
Frankfurt am Main Siegbert Lammel
[1] So der Titel der Lebensbeschreibung von Fritz Hartung.
[2] Verkürzt nach dem von der Verfasserin gebotenen Zitat L. v. Rankes (S.1).
[3] So inhaltlich das auf S. 33 wiedergebene Zitat Hedemanns.
[4] Dilcher, Zins-Wucher-Gesetzgebung in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 161ff.
[5] Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, lässt grüßen.
[6] Krückmann, Einführung in das Recht (1912), Vorwort S. III.
[7] Kohler, Einführung in die Rechtswissenschaft3 (1908), S. 2.
[8] So auch Hedemann in den Zitaten S. 143; wie darin ein „konservative politische Haltung“ zu erkennen sein soll (S. 144), erschließt sich dem Rezensenten nicht.
[9] Der Rezensent ist (auch) seit vielen Jahren Richter.
[10] Wobei die Auffassung der Verfasserin, es habe Regelungen für Kartelle gegeben, S. 139 Fn. 24, schlicht falsch ist; die erste Kartellgesetzgebung erfolgte 1923.
[11] Warum die Verfasserin von sich bei Hervorhebungen im Maskulinum spricht, leuchtet auch nicht ein.
[12] Coing, Grundzüge der Rechtsphilosphie5 S. 210.