Wirtschaft und Wirtschaftstheorien
Wirtschaft und Wirtschaftstheorien in Rechtsgeschichte und Philosophie. Économie et théories economiques en histoire du droit et en philosophie, hg. v./sous la direction de Kervégan, Jean-François/Mohnhaupt, Heinz (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 176). Klostermann, Frankfurt am Main 2004. IX, 385 S.
Dieser Band enthält die 14 Vorträge, die im Rahmen des vierten deutsch-französischen Symposiums 2002 in Wetzlar gehalten worden sind. Sie reichen thematisch von der Entstehung des Wissenschaftszweiges einer „Politischen Ökonomie“ bis zum Wirtschaftsföderalismus; zeitlich vom 17. Jahrhundert bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Wie modern die Ausführungen sind, lässt sich z. B. am Beitrag über den Wirtschaftsföderalismus ablesen, der anhand der Arbeiten des französischen Ökonomen Perroux das ganze „Elend“ der EU, das 2005 durch die Ablehnung der „Europäischen Verfassung“ eingetreten ist, geradezu vorwegnimmt. Das zur Dämpfung der Skepsis gegenüber „Brüssel“ eingesetzte Subsidiaritätsprinzip findet hier mit der Gegenüberstellung von Dezentralisierung und Dekonzentralisierung seine theoretische Durchdringung. Ebenfalls in modernere Zeiten gehört der Beitrag über die deutsch-französischen Kolonialverträge während des Zweiten Weltkriegs. Nun ist es sicher interessant, die Entwicklung dieser Vertragsbeziehungen zu betrachten, wobei es entgegen der ersten Vermutung keineswegs eine „Vertragsdiktatur“ des Deutschen Reiches gegenüber dem besiegten Frankreich gegeben hat. Aber der Versuch, NS-Wirtschaftsdoktrin und diese Vertragspraxis zu kontrastieren (S. 375), muss eigentlich daran scheitern, dass es keine durchgängige NS-Wirtschaftsdoktrin gegeben hat. Es herrschte vielmehr ein Durcheinander der verschiedensten Partei- und Staatsdienststellen, die eifersüchtig ihr eigenes Arbeitsgebiet gegenüber den anderen Stellen abgrenzten, ohne Rücksicht darauf, ob die jeweilige Tätigkeit nun einer – wie auch immer gearteten – Ideologie diente oder nicht. Eine entsprechende Behauptung wurde zwar immer aufgestellt, in der Praxis aber nicht beachtet. Deshalb kann man dem dahin lautenden Resümee, die Wirtschaftstätigkeit sei mehr pragmatisch als ideologisch geprägt gewesen (S. 381), nur zustimmen.
Aber wird die Ordnung der Wirtschaft nicht stets von einem gewissen Pragmatismus geprägt? Und muss man nicht derart pragmatisch an diese Ordnung herangehen angesichts des aus der Geschichte abzulesenden Versagens jeglicher theoretischer Gestaltung der Wirtschaft? Wobei der Wert einer theoretischen Erfassung des Wirtschaftsgeschehens nicht in Abrede gestellt werden soll, wenn diese Erfassung retrospektiv erfolgt; Zweifel sind aber angebracht, wenn die Theorie dazu taugen soll, die Wirtschaft für die zukünftige Entwicklung zu formen (die Gegenwart des Jahres 2005 bietet hierfür ein abschreckendes Beispiel). Muster für ein pragmatisches Herangehen an Wirtschaftsfragen finden sich z. B. in den Beiträgen zur „Politischen Ökonomie“, zur Frage von „Wirtschaft und Sozialem“ und zur „Hugenottenaufnahme“. Die in allen drei Beiträgen mehr oder minder deutlich angesprochene Wirtschaftspolitik unter dem Titel „Merkantilismus“ verfolgte schlicht praktische Züge: bevor der Bürger steuerlich geschröpft werden konnte, mussten erst seine Fähigkeiten zur Erzeugung eines „schröpfungsfähigen“ Zustandes gefördert oder sogar erst hergestellt werden (S. 21/22); die Versorgung der Armen und Alten wurde in die „Haus-Ökonomik“ eingebettet (S. 54); die Aufnahme der Hugenotten in deutschen Ländern erfolgte keineswegs aus religionspolitischen Prinzipien, sondern u. a. zur Nutzung der internationalen Handelsbeziehungen der Hugenotten (S. 83).
Betrachtet man die sich daran anschließenden systematisierenden Versuche, so fällt ein Fortschreiten von der Erfassung und Beherrschung der wirtschaftlichen Tatbestände zum Durchdringen des gesamten sozialen Lebens seitens der Wirtschaft auf. Bleibt es bei Hegel noch bei einer Suche nach einem systematischen Konzept für Produktion und Arbeit (S. 111), wird danach die Steuerungsfähigkeit des Rechts (S. 107 und S. 139) untersucht, so schreitet die Ökonomisierung weiter und führt schließlich zu einer Umwälzung der Bezugspunkte: die Rechtsidee als Ausdruck des ökonomischen Gesetzes (S. 168) über die Aufgabe der Politik zur ökonomischen Machtwahrung (S. 263) hin zur Wirtschaft als Schöpferin des Rechts (S. 293). In letzter Konsequenz führt das zum Postulat eines Marktes ohne Politik bei Hayek (S. 322), bei dem der Staat in der Tat wieder auf seine Funktion eines Garanten der äußeren Ordnung, eines Nachtwächterstaates, reduziert wird (S. 307).
Merkwürdig berührt bei fast allen Darstellungen die nahezu wertungslose Wiedergabe der untersuchten Tatbestände. Um bei Hayek zu bleiben: es reicht doch nicht, seine Auffassung in das Reich der Utopie (S. 320) zu verweisen. Einerseits hätten seine Darlegungen vor dem Hintergrund des Dritten Reiches problematisiert werden können, anderseits hat sich diese „Utopie“ mit Hilfe der sog. „Chicago Boys“ aus der Schule des Milton Friedman schon sehr weitgehend verwirklicht. Ob Foucault ein besonders guter Kenner des „Ordo-Liberalismus“ gewesen war, mag auch füglich bezweifelt werden: wenn der Beginn dieser ökonomisch-theoretischen Entwicklung mit 1930 datiert wird, kann sie nicht – nur – mit der NS-Zeit in Zusammenhang gebracht werden (S. 289). Auch die ökonomische Machtwahrung durch die Politik hätte mit dem „Sozialanspruch“ des Bürgers (S. 106) kontrastiert werden können. Endemanns „Wertrecht“ (S. 184) lebt durchaus weiter im den heutigen Bemühungen um die Erfassung der Funktion des Geldes, so ist z. B. dieser Frage heute ein selbständiger Band des von Staudinger begründeten Großkommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch gewidmet.
Abschließend zwei ganz allgemeine Bemerkungen: es verwundert ein wenig, wenn in einem der „Wirtschaft“ gewidmeten Symposium die konkrete Wirtschaft so gut wie nie vorkommt. Mehrmals wird z. B. zwar auf die Erfolglosigkeit merkantilistischer Politik in den deutschen Staaten hingewiesen (S. 27; S. 92). Worauf das zurückzuführen sein könnte (z. B. Agrarstruktur, Zunftverfassung, Mangel eines ausgeprägten Handels, keine Manufakturen), wird aber auch nicht einmal ansatzweise zu erklären versucht. Das gilt umgekehrt genauso: die Bildung einer „neuen“ Staatsräson (Steigerung der Machtmittel durch Wirtschaftsförderung) wird ohne Rückgriff auf (möglicherweise) ökonomische Grundlagen konstatiert. Und die zweite Bemerkung: warum deutschsprachige Autoren nicht in ihrer Muttersprache zitiert werden, erscheint angesichts der gerade vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte geförderten Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebs nicht einsehbar.
Insgesamt aber beleuchten die vorliegenden Aufsätze das schillernde und kaum greifbare Phänomen der „Wirtschaft“ von vielen Seiten und führen so zu interessanten Erkenntnissen.
Frankfurt am Main Siegbert Lammel