Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts.

*Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts. Trierer Symposium zum 250. Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez, hg. v. Gose, Walther/Würtenberger, Thomas. Frommann-Holzboog, Stuttgart 1999. Besprochen von Andreas Schwennicke. ZRG GA 118 (2001)

SchwennickeZurideen20000914 Nr. 10036 ZRG 118 (2001)

 

 

Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts. Trierer Symposium zum 250. Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez, hg. v. Gose, Walther/Würtenberger, Thomas. Frommann-Holzboog, Stuttgart 1999. 184 S.

Der von Gose und Würtenberger herausgegebene Sammelband faßt die Beiträge eines Symposions in Trier zusammen, das, wie das Vorwort der Herausgeber erhellt, nicht nur zur Feier des 27. Februar 1746 (Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez), sondern auch des 27. Februar 1996 (60. Geburtstag von Peter Krause, Erforscher der Kodifikationsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 und spiritus rector des Symposions) stattfand. Der Band enthält Beiträge von Gose zu Volksaufklärung und Rechtspädagogik, von Eckert zum Gesetzesbegriff des Allgemeinen Landrechts, von Würtenberger zum Grundrechtsschutz in ausgehenden 19. Jahrhundert, von Schelp zur Geltung des Allgemeinen Staatsrechts, von Barzen zur Entstehungsgeschichte desAllgemeinen Landrechts, von Jörg Wolff zu Fontane und der Zeit des Allgemeinen Landrechts, von Krause zum Monarch als Depositar des Allgemeinwillens sowie eine nützliche Zusammenstellung literarischer Äußerungen über das Allgemeine Landrecht, von Hans Hattenhauer, Das Allgemeine Landrecht im Spiegel von Erwartung, Lob und Kritik. Gerade der letztgenannte Beitrag von Hattenhauer zeigt, wie sehr das Urteil über das Allgemeine Landrecht in der Zeit geschwankt hat und wie zwiespältig bereits die Ansichten der Zeitgenossen waren, die im bekannten Urteil über die „Janusköpfigkeit“ der preußischen Kodifikation ihren typischen Ausdruck fanden.

Das Leitmotiv des Trierer Symposions und der Forschungsarbeit Peter Krauses sehen die Herausgeber darin, „den Jahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein Stück jener absolutistischen Dunkelheit zu nehmen, die ihnen nach dem Vorurteil mancher“ nach wie vor anhafte, und zu zeigen, daß in jenen Jahren „die Sonne der Aufklärung leuchtete, die zur Freiheit und neuem Recht führte.“ Auf dieses Ziel sind die einzelnen Beiträge ausgerichtet. Nach Gose zeigt sich in der preußischen Aufklärung ein enger Zusammenhang zwischen rechtlicher Volksaufklärung und Staatsreform, der auf der seit Beginn des 18. Jahrhunderts bestehenden „außerordentlichen Reformabsicht“ fuße, eine vom gemeinen Mann leicht zu verstehende Gesetzgebung zu schaffen. Dadurch habe jedermann die Möglichkeit erhalten solle, ein eigenes Verständnis vom ordnenden Staat zu gewinnen, sei die Gesetzgebung selbst zur „Agentur von Aufklärung“ geworden und habe der absolutistische Staat für seine Bürger die „Grundlage eines republikanischen Rechtsbegriffes“ geschaffen. Allerdings sieht Goseselbst, daß es für den absolutistischen Staat insbesondere um Gemeinverständlichkeit der strafrechtlichen Teile der Gesetzgebung, die von den Kanzeln verkündet wurden, und damit vorrangig um intensivere Sozialdisziplinierung ging. Svarez als expliziter Befürworter der absoluten Monarchie jedenfalls kann für ein übergreifendes Reformziel, die Bürger des Staats im Wege der Gesetzgebung zu Republikanern zu erziehen, kaum als Kronzeuge gehört werden. Er selbst sah als eigentlichen Adressaten der Gesetzgebung das Fachpublikum an, bestenfalls das gehobene Bürgertum. Darüber hinaus ging es ihm lediglich darum, zur Verbreiterung der Kenntnis der im Alltag erheblichen Normen dem Gesetzbuch für das gemeine Volk einen katechismusähnlichen „Volkskodex“ an die Seite zu stellen.

Eckert vertritt in seinem Beitrag die Auffassung, die Redaktoren hätten bei der Gesetzgebung bewußt von dem älteren, von der Dauerhaftigkeit und Unwandelbarkeit der Gesetze ausgehenden Verständnis Abstand genommen und die neue Gesetzgebung nur als jederzeit abänderbar und einem stetigen Wandel unterworfen angesehen. Diesem Verständnis entsprächen die zahlreichen Änderungen, die an der preußischen Gesetzgebung bereits unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten vorgenommen wurden. Der Gesetzgeber habe die von ihm propagierte „absolute Gesetzesherrschaft“ unterlaufen, in dem er das Gesetz durch fortlaufende untergesetzliche Rechtsetzung in Frage gestellt habe. Die Inkraftsetzung des Allgemeinen Landrechts sei nicht die Folge der Besetzung der ehemals polnischen westpreußischen und südpreußischen Gebiete 1793 gewesen, sondern die logische Folge der praktischen Erprobung des Allgemeinen Gesetzbuchs durch die Gerichte, die den Gesetzgeber zur einer Publikation des bereits in der Praxis etablierten Gesetzestextes förmlich gezwungen habe. Ohne intensivere Analyse der Rechtsprechung der preußischen Gerichte seit Veröffentlichung des Entwurfs trägt diese These zum Verständnis des historischen Geschehensablaufs wenig bei, zumal eine andere Erklärung naheliegender und plausibler ist: Die preußischen Gerichte sahen das Allgemeine Landrecht als übersichtliche Kompilation des bestehenden Rechts an, das viel zugänglicher als die sonst zu benutzenden partikularen Rechtsquellen und die Literatur des Usus modernus pandectarum war. Als Kompendium des bisherigen Rechts war die Geltung des Allgemeinen Gesetzbuchs aber von formeller Inkraftsetzung unabhängig, da ohnehin nur das zusammengefaßt wurde, was bereits in Geltung war. Nach intensiver Überprüfung des Gesetzestextes konnte auch Friedrich Wilhelm II. davon überzeugt werden, daß die Redaktoren eine höchst praktikable Zusammenstellung des bisherigen Rechts geliefert hatten, die in verständlichem Deutsch geschrieben war und auch deshalb die Arbeit von Gerichten und Behörden unendlich erleichterte.

Würtenberger bemüht sich um den Nachweis, daß in der Literatur und Rechtsprechung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein Schutz von Freiheit und Eigentum gewährleistet gewesen sei, der dem „modernen Grundrechtsschutz durchaus vergleichbar“ gewesen sei. Bei Svarez sieht er die Wurzeln des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angelegt. Das Bild ist bei aller Korrektheit der Details deshalb verzerrt, weil Würtenberger anders als Eckhart Hellmuth, dessen Standardwerk von 1985 er zu Unrecht pauschal abqualifiziert, die zitierten Äußerungen nicht in den überwiegend absolutistischen und sozial konservativen Werthorizont der Autoren einbettet, und weil Würtenberger anders als Diethelm Klippel 1976 nicht gegenläufige ‚ältere‘ und ‚jüngere‘ Strömungen der Staats- und Naturrechtsdebatte unterscheidet, sondern sich auf eine wenig repräsentative Auswahl jüngerer und jakobinischer Autoren beschränkt. Die Einseitigkeit der Wahrnehmung der zeitgenössischen juristisch-politischen Diskussion teilt Würtenberger mit Schelp, der seine These von der faktischen Geltung des allgemeinen Staatsrechts auf eine selektive Auswahl von Textstellen aus den Kronprinzenvorträgen stützt, in denen es mehr um intellektuell einsehbare rationale Prinzipien der Staatsregierung und Verwaltung als um normative Staatsorganisationsregeln geht, also um ein Recht, das als Teil des Naturrechts des 18. Jahrhunderts generell nicht kraft staatlicher Setzung, sondern wegen seiner Überzeugungskraft Geltung beansprucht und auf Verwirklichung im Rahmen einer Gesetzgebung angewiesen ist, wie seit den Forschungen Jan Schröders hinlänglich bekannt ist. Barzen vertritt im Anschluß an frühere Forschungen Peter Krauses die These, wegen des Widerstands Friedrichs II. gegen die Gesetzgebungsarbeiten seines Großkanzlers Carmer habe das Projekt 1784 nur gerettet werden können, indem Carmer den Entwurf des Gesetzes als Privatdruck ohne jeglichen offiziellen Charakter veröffentlichen ließ. Daß diese These allein angesichts der Tatsache, daß der König auch die folgenden Teile des Entwurf jeweils vor der Veröffentlichung begutachtete und teilweise mit Randbemerkungen versah, kaum plausibel ist, ist offensichtlich: Kein preußischer König hätte zugelassen, daß sein Justizminister den Entwurf einer umfassenden, ausdrücklich für die „Preußischen Staaten“ bestimmten Gesetzgebung im eigenen Namen veröffentlichte, ohne das Projekt bei aller Kritik im Detail insgesamt zu unterstützen. Wolffs Beitrag geht Parallelen im Werk Fontanes und im geistesgeschichtlichen Hintergrund des Allgemeinen Landrechts nach, die er an der Verankerung von Fontanes Protagonisten im 18. Jahrhundert und der preußischen Pflichtenethik deutlich macht.

Krause schließlich stellt die rousseauistischen und kantischen Wurzeln im Denken von Svarez heraus, in dem er die in den Kronprinzenvorträgen verwendete Formulierung vom Monarchen als „Depositarius des allgemeinen Willens und der gemeinschaftlichen Kräfte der ganzen Gesellschaft“ aufgreift. Nach Svarez sei alle Staatsgewalt unabhängig von der Regierungsform nur zu begründen, wenn der Herrscher zugleich der Treuhänder bzw. Verwahrer (Depositar) des allgemeinen Willens (der volonté générale) sei. Die Staatsvertragslehre erfährt auf diese Weise bei Svarez – im Anschluß an Kant – eine Wendung von ihrer älteren Form, die den Charakter des Staatsvertrags als Unterwerfungsvertrag betont, zu der jüngeren Form, die die Verantwortlichkeit des Herrschers gegenüber den Beherrschten herausstellt. Insofern spricht Svarez in den Gesetzesmaterialien zum Allgemeinen Landrecht auch von der Repräsentantenwürde des Herrschers. Auch bei Svarez gehen jedoch ältere und neuere Vorstellungen ineinander über, kenntlich daran, daß Svarez in der Gesetzgebung das einzelne Mitglied des Staatsverband immer da, wo es der Herrschaft gegenübertritt, konsequent als „Unterthan“ kennzeichnet, und daß für Svarez der Gehorsam gegenüber dem Herrscher und den Gesetzen die selbstverständlichste und wichtigste Untertanenpflicht ist. Daher ist auch in den von Krause zitierten Stellen aus den Kronprinzenvorträgen im Zusammenhang mit der vertraglichen Begründung des Staates von der Begründung der Herrschaft und der Unterwerfung unter die Gesetze die Rede, nicht von institutionalisierter Teilhabe von Volk oder Ständen an der Herrschaft. Daß Svarez im Einklang mit Kant davon ausging, der Herrscher werde bei seiner Regierung das Rechtsprinzip beachten und im Einklang mit dem wohlverstandenen Interesse seiner Untertanen handeln, ändert nichts an seiner Überzeugung, daß letztlich nur ein absolutistisch regierender, durch seine Staatsdienerschaft adäquat beratener Herrscher den Gemeinwillen verwirklichen könne. Krauses Beitrag zeigt somit plastisch die Umbrüche und die Widersprüche, die in der Staatslehre am Ende des 18. Jahrhunderts erkennbar wurden, und die gegenläufigen Tendenzen alten und neuen Staatsvertragsdenkens bei Svarez selbst. Störend bei der Lektüre von Krause wie auch bei dem Beitrag Würtenbergers ist lediglich, daß die Kronprinzenvorträge ohne jegliche Begründung nicht nach der von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer 1960 besorgten Textausgabe, sondern nach dem Manuskript im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin zitiert werden, was den Vergleich von Zitaten und die Aufsuchung ihres Zusammenhangs unnötig erschwert. Für die zitierte „Janusköpfigkeit“ der preußischen Gesetzgebung bieten der Band und seine Beiträge jedenfalls vielfältige Erkenntnisse.

Berlin                                                                                                 Andreas Schwennicke