Bahl, Peter, Der Hof des großen Kurfürsten.

* Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens (= Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz Beiheft 8). Böhlau, Köln 2000. VIII, 777 S. Besprochen von Werner Schubert. ZRG GA 119 (2002)

SchubertBahl20010814 Nr. 10459 ZRG 119 (2002) 45

 

 

Bahl, Peter, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens (= Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz Beiheft 8). Böhlau, Köln 2000. VIII, 777 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

 

Das Werk von Bahl, hervorgegangen aus einer historischen Dissertation im Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften an der Freien Universität Berlin, trug in seiner ursprünglichen Fassung den Untertitel: „Prosopographische Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens“. Damit wird die Zielsetzung und der Inhalt des Bandes ziemlich genau umschrieben. Die Hofforschung ist für die Zeit des Alten Reichs zu einem bevorzugten Arbeitsgebiet geworden, nachdem man festgestellt hatte, daß die Höfe des Reichs keine bloße Imitation von „Versailles“ waren und sich auch nicht vorschnell typisieren lassen, daß vielmehr zunächst jeder Hof für einzelne Herrscher und Zeiträume für sich zu untersuchen ist. Wie der Verfasser feststellt, ist die rechtshistorische Forschung seit jeher mit der Genese des modernen Staates und Beamtentums befaßt. Neuerdings näherten „sich aber auch hier die Fragen immer mehr jenen an, die auch den Historiker im engeren Sinn am Hof interessieren“ (S. 8). Der Verfasser nennt hier vor allem das Werk von Christian Becker: Beata Justorum Translatio. Juristen in Schleswig-Holsteinischen Leichenpredigten (Diss. iur. Kiel; Frankfurt am Main 1996) und die Biographischen Repertorien der Juristen im Alten Reich von Filippo Ranieri (1976). Auch von historischer Seite ist mit der Arbeit von Sigrid Jahn, Juristenkarrieren in der Frühen Neuzeit (1995) vor allem anhand des Reichskammergerichts Wesentliches zu den Juristenkarrieren ermittelt worden. Neben den archivalischen Quellen bilden die sog. Leichenpredigten für den behandelten Personenkreis die wichtigste biographische Quelle, eine Erkenntnis die bereits Becker in der erwähnten Arbeit betont hat. Im Zusammenhang mit der Genese des modernen Staates und des Beamtentums ist die Hofforschung auch für den frühen neuzeitlichen Rechtshistoriker von größter Bedeutung. Für den untersuchten Zeitraum ist von einem Hofbegriff auszugehen, der noch nicht eindeutig zwischen Hofverwaltung und Landesverwaltung, „geschweige denn zwischen fürstlicher Privatsphäre und ‚Staat‘ trennt“ (S. 26). Da der Fürst Mittelpunkt des Hofes war, stellt die Hofgeschichte zugleich stets auch Staats- und Politikgeschichte dar. Wenn dabei in Zukunft von dieser Seite, so der Verfasser S. 18, „neben Ereignissen, politischen Motivationen und funktionalen Aspekten auch den innerhöfischen Strukturen größere Beachtung geschenkt werden würde, so könnte die Hofforschung einen wichtigen Schritt vorankommen und aus ihrem inneren soziologisch-sozialgeschichtlichen Kreis heraustreten“.

Obwohl der Hof des Großen Kurfürsten zu den größten und bekanntesten seiner Zeit gehörte, sind die ihn tragenden und formierenden Amtsträger noch kaum erforscht. Der Hof wird als ein Personenverband angesehen und das Thema „Hof“ vornehmlich im Hinblick auf die personalen Strukturen der „Hofgesellschaft“ untersucht. Im Mittelpunkt stehen daher die Biographien und die Karrieren der höfischen Amtsträger und das sich hieraus ergebende Beziehungsgeflecht, nicht der Kurfürst. Dabei ist der Verfasser vom „Haupt“-Hof des Kurfürsten in Cölln an der Spree ausgegangen, und zwar beschränkt auf die höhere Amtsträgerschaft, also die Machtelite Brandenburg-Preußens. Zur Abgrenzung hat der Verfasser mehrere Kriterien entwickelt, u. a. eigenverantwortliches Betätigungsfeld, Anrede mit „Herr“, Ratstitel und Vorhandensein einer gedruckten Leichenpredigt, die, wenn sie zu umfangreich ausfiel, manche Familie ruinieren konnte.

Die Arbeit ist in der Weise aufgebaut, daß nach einer längeren Einleitung (Teil A) die Amtsträger zunächst in einem Teil B nach einer äußerlich formalen Struktur der einzelnen Amtsbereiche („Behörden“) behandelt werden. Erst dann erfolgt der umfassendere Abschnitt „Verflochtene Strukturen – Biographien und Karrieren der Amtsträger“. Mit dieser Trennung wollte der Verfasser eine einseitige Fixierung auf die notgedrungen auf Idealtypen angewiesene statistisch-prosopographische Analyse der gesamten Untersuchungsgruppe vermeiden. Im Teil B ist das Augenmerk bereits auf die Ämterrealität gerichtet, nicht allgemein auf die Behördengeschichte, in Teil C ging es um „allgemeine ämterübergreifende Gesichtspunkte, Phänomene und Lebensbereiche“ (S. 351); die Hofgesellschaft wird anhand von Einzelfragen auf andere als die vorgegebenen formalen Binnenstrukturen hin analysiert. Im Teil B werden zunächst die Hofämter im engeren Sinne (bis zum Hofküchenmeister) und anschließend der Hof als Regierungs- und Verwaltungszentrum behandelt (u. a. Statthalter, Kanzler und Oberpräsident, Geheime Räte usw.). Von justizgeschichtlicher Sicht aus ist der Abschnitt über die Präsidenten und Kammergerichtsräte von Interesse (S. 101ff.). Der Abschnitt über den (Hof-)Historiographen gewinnt für den Rechtshistoriker insofern Bedeutung, als Samuel Pufendorf dieses Amt von 1688 bis 1694 ausgeübt hat. Bevor auf den Hauptteil näher einzugehen ist, sei noch der Anhang erklärt. Dieser enthält zunächst Quellentexte wie „Specification aller Churfürstl. Bedienten in der Chur Brandenburg“ (1656), „Specification des wochentlichen Kostgeldes“ (1656), der „Hofstaat des reisenden Churfürsten und sein Transport“ (Fourierzettel, 1665) usw. und als größten Teil des Buches die Amtsträgerprosopographie mit weit über 300 Kurzbiographien auf 200 Seiten mit ausführlichen weiterführenden Quellennachweisen. Dieser Teil wird in Zukunft auch für die Justizgeschichte Brandenburg-Preußens von grundlegender Bedeutung sein. Hingewiesen sei nur auf die Vizekanzler, seit 1886 die Präsidenten des Kammergerichts, und auf die Hof- und Kammergerichtsräte. Der Teil C behandelt folgende Themenbereiche: Eintritt in kurbrandenburgische Dienste, Patronage und Klientel; geographische Herkunft; soziale Herkunft; Konfession; Bildungsgang; Konnubium; Besoldungs- und Vermögensverhältnisse; städtischer Haus- und Grundbesitz; Güter und Gärten; Privatbibliotheken; wissenschaftliche Forschungen und Veröffentlichungen; Nobilitierungen und Standeserhöhungen sowie Konflikt und Rangstreitigkeiten. Hingewiesen sei auf den Abschnitt über den „Bildungsgang“, aus dem sich ergibt, daß von den 343 erfaßten höheren Amtsträgern 206 Personen nachweislich studiert haben oder in solchen Chargen verzeichnet werden, die ein juristisches Studium unbedingt voraussetzten. Bevorzugt besucht wurden die Universitäten der Niederlande, damals das führende Land in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Unter den von den Amtsträgern beherrschten Fremdsprachen stand das Französische an erster Stelle, an zweite Stelle kam bereits das Englische. Im Abschnitt über „Forschungen“ sind vornehmlich juristische Werke öffentlich-rechtlichen Charakters genannt. Von den Ergebnissen des Teils C seit hervorgehoben, daß die Herkunft der Amtsträger so heterogen war, daß keine landsmannschaftliche Gruppe als herausragend angesehen werden kann. Das Gesamtverhältnis von „Ausländern“ und Untertanen des Kurfürsten unter der Führungsschicht betrug etwa 1:1, wobei nicht einmal die Amtsträger aus den „neuen“ Territorien berücksichtigt sind, so daß insgesamt die „Ausländer“ die Mehrheit bildeten; in herausragende Spitzenpositionen gelangten nur „Ausländer“, wobei kein anderer auf Zuwanderung setzender landesfürstlicher Hof einen derart hohen Grad an Integrationskraft erreicht hat. Das konfessionelle Element ist das am deutlichsten faßbare Motiv gewesen. Das Übergewicht der Reformierten der neu Berufenen war „erdrückend“ (S. 355). Die Calvinisten wurden kontinuierlich von 1640 bis 1688 bevorzugt, und zwar gegenüber den Lutheranern zu Zweidritteln. Auch die maßgebenden Führungsämter lagen mehrheitlich in reformierter Hand. Ausführlich eingegangen wird weiter auf die erstaunliche Symbiose zwischen Hof und Stadt in der Berliner Residenz.

Die Untersuchungen des Verfassers hatten das Ziel zu ermitteln, „welche biographischen und personengeschichtlichen sowie genealogischen Voraussetzungen und Begleitumstände die Entwicklung der brandenburg-preußischen Politik und Verwaltungspraxis in einer vielleicht entscheidenden Aufbau- und Reformzeit beeinflußt, gefördert, behindert oder verhindert haben und – umgekehrt – ‚welche Begleitumstände‘ dieser Art der Kurfürst und seine Ratgeber – bewußt auswählend oder Strukturen ausgeliefert – geschaffen haben“ (S. 32). Insofern ist die Prosopographie in der Tat nur ein Hilfsmittel, eine Arbeitsmethode, um neue Erkenntnisse an alten Forschungspunkten zu gewinnen. Die Untersuchungen des Verfassers richteten sich auf allgemeine Entwicklungen und Prozesse, wenn der Weg dahin auch an den Personen orientiert ist. In diesem Sinne ist das Werk Bahls im Hinblick vor allem auf die umfassend recherchierten Kurzbiographien auch für die Rechts-, Justiz-, Behörden- und Verfassungsgeschichte Brandenburg-Preußens von Bedeutung. Insgesamt ist es strikt beschränkt auf den Hof und dessen Amtsträgerschaft, während übergreifende Gesichtspunkte, insbesondere die Person des Großen Kurfürsten wohl etwas zu kurz gekommen sind. Dies beeinträchtigt die immense Forschungsleistung des Verfassers in keiner Weise, dürfte aber doch der Verbreitung des grundlegenden Werkes über den Kreis der unmittelbar interessierten Fachhistoriker etwas im Wege stehen. Abschließend sei noch hingewiesen auf die auf dem Schutzumschlag wiedergegebene ganz seltene Darstellung aus dem Kreismuseum Oranienburg, die über den häufiger gezeigten herrscherlichen Familienkreis hinaus eine Gruppe höfischer Amtsträger mit dem Kurfürsten abbildet (u. a. den Oberpräsidenten Otto von Schwerin; den Obermarschall Otto Christian von Rochow und den Oberjägermeister Jobst Gerhard von Hertefeld).

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert