Bischofberger, Hermann, Rechtsarchäologie und rechtliche Volkskunde des eidgenössischen Standes Appenzell Innerrhoden.

* Ein Inventar im Vergleich zur Entwicklung anderer Regionen, 2 Bände (= Innerrhoder Schriften 8). Druckerei Appenzeller Volksfreund, Appenzell 2000. 1062 S. 34 Abb. Besprochen von Franz Xaver von Weber. ZRG GA 119 (2002)

WeberBischofberger20010824 Nr. 10213 ZRG 119 (2002) 33

 

 

Bischofberger, Hermann, Rechtsarchäologie und rechtliche Volkskunde des eidgenössischen Standes Appenzell Innerrhoden. Ein Inventar im Vergleich zur Entwicklung anderer Regionen, 2 Bände (= Innerrhoder Schriften 8). Druckerei Appenzeller Volksfreund, Appenzell 2000. 1062 S. 34 Abb.

 

Der kleinste Stand der schweizerischen Eidgenossenschaft, der Halbkanton Appenzell-Innerhoden, genießt mehrere Privilegien: landschaftlicher Reiz, eigenständiger Menschenschlag, träfer Witz, lebendige Landsgemeinde, politische Überschaubarkeit, ereignisreiche Geschichte. Seit der Dissertation von Dr. iur. utr. et lic. phil. Hermann Bischofberger kommt ein weiteres, wissenschaftliches Privileg dazu: eine umfassende Darstellung und Würdigung der Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde innerhalb des innerrhodischen Sprengels - ein zweibändiges Werk mit 1062 Seiten Umfang, fast so groß wie der Kanton selber. Das detaillreiche Doppelbuch setzt - wie es ein Rezensent zu einem andern Werk des Autoren sinngemäß ausdrückte - einen farbigen Kontrapunkt der Kleinmaßstäblichkeit gegen die derzeit herrschende kulturelle Nivellierung, wirtschaftliche Konzentration und politische Zentralisation. Ohne die größeren historischen Zusammenhänge und die Einbettung in die wissenschaftliche Diskussion - die Forschung von Karl von Amira und Claudius Freiherr von Schwerin zur Rechtsarchäologie in geglückter Symbiose von theoretischer Ergründung und praktischer Darstellung weiterführend - zu vernachlässigen, schafft Hermann Bischofberger ein enzyklopädisches Kompendium, das Fachkreisen und Lokalhistorikern gleichermaßen dient. Das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 177 Seiten (S. 852-1029) und enthält rund 5000 Titel. Klar ist, dass ein tausendseitiges Werk auch die eine oder andere Redundanz aufweist oder dass die Disposition entschlackt und damit transparenter hätte gemacht werden können (z. B. ist die Gliederung nicht ohne weiteres stringent: Einführung, 1. Teil Einleitung, 2. Teil Begriffe, 3. Teil Die einzelnen Örtlichkeiten und Gegenstände Innerrhodens, die mit der Rechtspflege in Zusammenhang stehen, 1. Hauptteil Orte und Gegenstände, die der Rechtssetzung und -anwendung dienen, 2. Hauptteil Gegenstände des rechtsrituellen Handelns. Zeichen und Symbole, die die Institute und Rechtshandlungen begleiten und versinnbildlichen), doch tut dies dem Gesamteindruck letztlich keinen Abbruch. Derjenige, der sich durch das Konvolut Hermann Bischofbergers im Detail hindurchpflügt, schafft das ohnehin nicht in wenigen Stunden oder Tagen, sondern braucht Zeit, in welcher allenfalls vorhandene Mängel des Werkes in den Hintergrund treten. Der Leser nimmt Anteil an der vielfältigen (Rechts)Geschichte Innerrhodens, wirft gleichsam staunend einen Blick auf das üppig bestickte, noch heute getragene Mieder der Appenzeller Tracht, leidet mit den Insassen des Siechenhauses des 16. Jahrhunderts oder lässt gebannt das Schicksal der am Galgen in der Hundshenki am Himmelberg im Bezirk Gonten Gehenkten Revue passieren. In der Detailschilderung bleibt nichts unerwähnt; man gewinnt bei der Lektüre schnell die Gewissheit, dass alles irgendwie und irgendwo Aufgefundene akribisch dokumentiert und für die kommende Generationen katalogisiert wurde. Ein Vertrauen, das man sowohl der Rastlosigkeit des Forschers Hermann Bischofberger verdankt wie man es auch dank seiner beruflichen Stellung als Landesarchivar quasi hoheitlich zertifiziert sieht. Dass diese jahrzehntelange Forschung die Schwelle höchster akademischer Reife (summa cum laude) überstieg, vermag denn auch nicht weiter zu verwundern.

Was Michel Foucault in seiner wissenschaftstheoretischen Kritik an der Geschichtswissenschaft pointiert verkündete - nämlich dass Historiker allzu oft Lügner seien, weil sie wissen, dass es doch anders war, als sie Geschichte zu interpretieren belieben -, hat Hermann Bischofberger ernstgenommen: Er hat sich nicht auf Interpretation spezialisiert, sondern auf die Darstellung und Sammlung („Inventar“) dessen, was noch vorhanden beziehungsweise was gesichert überliefert ist. So ist auch unter Foucaultschen Prämissen die Arbeit Hermann Bischofbergers über weite Teile zu loben, fordert letzterer doch einen archäologischen Umgang mit der Geschichte: Ausgraben und Offenlegen als die Hauptaufgabe des Historikers, Archäologie an und mit der Geschichte. Dass es dennoch nicht ohne Deutung und Sinninterpretation geht, ist auch dem von Hermann Bischofberger gewählten Forschungsobjekt Rechtsarchäologie und rechtliche Volkskunde in Innerrhoden immanent. Wenn es um die Beschreibung von Gefängnisbauten geht, ist es unerlässlich, das Straf- und Strafvollzugswesen der jeweiligen Epoche zu umreißen. Hermann Bischofberger bringt dazu das Rüstzeug mit, hat er doch seinem an der Universität in Freiburg im Uechtland abgeschlossenen Geschichtsstudium ein Rechtsstudium vorangestellt - um es mit dem vorliegenden Oeuvre als Doktor beider Rechte zu krönen, notabene auch des Kirchenrechts und Staatskirchenrechts, welchem er selber durch einen abundanten Artikel zum Verhältnis seines Heimatkantons zur Kirche in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Louis Carlen, seinem Lehrer und Doktorvater, die Referenz erwies[1].

So weist Hermann Bischofberger bereits im für die Wissenschaft jugendlichen Alter - unter Berücksichtigung seiner zahllosen größeren und kleineren weiteren Publikationen ein veritables Lebenswerk auf, welches von vielen angestrebt, aber nur von wenigen erreicht wird.

 

Schwyz                                                                                                           Franz Xaver von Weber

[1]  Hermann Bischofberger, Kirche und Staat in Appenzell Innerrhoden, in: Festschrift Prof. Louis Carlen zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Niklaus Herzog/Franz Xaver von Weber, Freiburg Schweiz 1999, S. 1-49