Collin, Peter, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“?

* Konzipierung, Einrichtung und Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium von den Anfängen bis 1860 (= Rechtsprechung 16). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XX, 452 S. Besprochen von Mathias Schmoeckel. ZRG GA 119 (2002)

SchmoeckelCollin20010824 Nr. 10319 ZRG 119 (2001) 57

 

 

Collin, Peter, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“? Konzipierung, Einrichtung und Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium von den Anfängen bis 1860 (= Rechtsprechung 16). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XX, 452 S.

 

Einer der fundamentalen Wandel des Rechts vollzog sich im Strafprozessrecht des 19. Jahrhunderts. Während um 1800 scheinbar noch das alte Prozessrecht der Carolina in besonders ungehemmter Weise galt, trat reichseinheitlich 1877 die Strafprozessordnung in Kraft, die ein ganz anderes Modell der Strafrechtspflege einführte und damit letztlich einem grundlegend neuen Staatsverständnis entsprach. Ihr zugrunde liegen die preußischen Reformen um die Jahrhundertmitte. Die von K. Marxen betreute Dissertation widmet sich der Einführung der Staatsanwaltschaft in den altpreußischen Territorien und deren ersten Entwicklung bis 1860 und damit einer der markantesten Neuerungen.

Die Darstellung beginnt um 1830 in einer Zeit, in denen in Preußen die Einführung der Staatsanwaltschaft aufgrund der positiven Erfahrungen im Rheinland erwogen wurde. Mit dem Rücktritt des Justizministers L. Simons 1860 wird ein klarer Endpunkt der Untersuchungszeit markiert. Die französischen Erfahrungen des Rheinlands liegen zu Beginn des Berichts also schon weit zurück, so dass die Beschränkung auf die rein preußische Entwicklung begründet ist. Das alte, gemeinrechtlich geprägte Recht ist zwar noch in dominanter Weise vorhanden: Inquisitionsprozess, königliches Bestätigungsrecht, Unsicherheiten bezüglich der Notwendigkeit von Publikationen bestimmen noch den Alltag. Die Juristen sind sich jedoch einig z. B. über die Ablehnung des Inquisitionsprozesses oder über die Trennung der Prozessrollen von Ankläger, Verteidiger und zwischen beiden stehenden, unparteiischen Richter (45, 50). Die Weichenstellung vom alten zum neuen Prozessverständnis ist damit in den Köpfen der führenden Juristen bereits vollzogen, auch wenn die Details und Zusammenhänge noch ausgearbeitet werden müssen. Diese Hintergründe arbeitet der Verfasser jedoch aufgrund seiner Themenstellung nicht auf. So bleibt es offen, warum etwa Savigny sich dem französischen Vorbild anschloss (67). Statt dessen verweist der Verfasser auf die Zunahme der Kriminalität im Vormärz, welche er als Grund der Bemühungen um eine Prozessrechtsreform sieht. Gerade am Beginn der Darstellung bleiben daher einige Fragen offen; andererseits tat der Verfasser sicher gut daran, sich den hier öffnenden Abgründen nicht zu nähern.

Die Einführung der Staatsanwaltschaft entsprach also der allgemeinen Meinung (46). Nach intensiven Vorüberlegungen wurde nach einem Aufstand polnischer Aktivisten durch ein Gesetz vom 17. 7. 1846 für den Bezirk des Kammergerichts die Staatsanwaltschaft zur Vermeidung eines langwierigen Inquisitionsverfahrens eingeführt (89). Noch im selben Jahr wurde die allgemeine Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren eingeführt, so dass die oktroyierte Verfassung nur noch Schwurgerichte als grundlegende Änderung des Strafverfahrens vorsehen konnte (96). Die Revolution hat die Staatsanwaltschaft daher nicht eingeführt. Allerdings wurde diese nunmehr 1849 für ganz Preußen eingeführt, wobei weitere für die spätere Zeit typische Züge hinzukamen, indem man sie zur Objektivität verpflichtete und als Organ der Staatsregierung zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen bezeichnete (108ff., 113).

Statt einer liberalen Herkunft arbeitet Collin die repressiven Züge der Staatsanwaltschaft heraus. Immerhin wurde der Vorschlag H. Friedbergs von 1845, der Staatsanwaltschaft das „materielle Imperium“ über die Polizei zu gewähren, nicht übernommen. Damit konnte sich die Staatsanwaltschaft nicht der Polizei zur Gewinnung von Beweisen bedienen und diese kontrollieren (76). Statt dessen wurde die Staatsanwaltschaft zunehmend verpflichtet, mit anderen Ministerien zusammenzuarbeiten und die Polizei über den Stand der Verfahren und Vorstrafen der Angeklagten zu informieren.

Politische Divergenzen zeigen sich vor allem in der Konzeption der Staatsanwaltschaft als neben dem Angeklagten gleichberechtigte Partei oder als „Wächter der Gesetze“, die in dieser Funktion zunehmend in Konkurrenz zu den Gerichten trat. Sie wurde berechtigt, alle Übelstände der Gerichte zu rügen (116). Mit dem 1849 eingeführten Anklagemonopol wurde den Gerichten die Möglichkeit der Einleitung des Verfahrens genommen, während der Staatsanwalt durch das Tatbestandsmerkmal „öffentliches Interesse“ im Rahmen des Opportunitätsprinzips einen durchaus auch politisch nutzbaren Spielraum zur Erhebung der Anklage erhielt (182). Während des Prozesses hatte sie ein besonderes Fragerecht (228) und Recht zur Einsicht in alle Akten (117). Teilweise erhielt sie auch allein das Recht, Rechtsmittel einzulegen (234). Mit der Weisung, immer dann Rechtsmittel einzulegen, wenn vom Antrag des Staatsanwaltes abgewichen und die Unschuld des Angeklagten nicht festgestellt war, sowie der Möglichkeit, über Weisungen Gesetzesinterpretationen vorzunehmen (156), erhielt die Exekutive die Möglichkeit, in die Judikative einzugreifen. Teilweise konnte sie dadurch eine Änderung der Rechtsprechung erreichen (354).

Durch den Ausbau der staatsanwaltschaftlichen Hierarchie und des Weisungsrechts (118) schuf man ein im Ganzen sehr loyales Exekutivorgan (128ff.). Auch gegen die eigene Auffassung war der Staatsanwalt nun zur Anklage gezwungen (122f.). Zwar waren Staatsanwälte auch durchaus fähig zur Moderation, in solchen Fällen konnte die Polizei jedoch gelegentlich eine Weisung erreichen, mit der die Staatsanwälte zur Anklage verpflichtet wurden (320). Wie der Spielraum genutzt wurde, überprüft Collin anhand der Verfolgung verschiedener Deliktsgruppen. Eingriffe in besonderem Maße konstatiert er in Staatsschutz-, Sittlichkeits- und Armutsdelikten (392).

Darin werden Grundlinien einer konservative Kriminalpolitik sichtbar, welche allerdings durch die Rechtsprechung des Obertribunals unterstützt wurde. Insbesondere König Friedrich Wilhelm IV. sah in der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit eines persönlichen Zugriffs auf Strafverfahren, wobei er nur in einzelnen Fällen aufgrund persönlicher Interessen aktiv wurde.

Es wird deutlich, wie sorgfältig der Verfasser vorgeht und immer den konkreten Hintergrund bis hin zu den einzelnen, Reform auslösenden Verfahren berücksichtigt. Der Verfasser verwendet dabei viel ungedrucktes Material. Die insgesamt gut geschriebene Arbeit ist geprägt durch einen sicheren juristischen Zugriff auf die prozessualen Zusammenhänge, beeindruckend ist die historiographisch gelungene Berücksichtigung politischer, wirtschaftlicher und sozialhistorischer Hintergründe. Die Arbeit schreibt insoweit auch ein neues Kapitel preußischer Geschichte insbesondere von 1849 bis 1860. Insoweit sie aber eine Fülle von unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft aufzeigt, mag sie nicht nur Law & Order Aktivisten zur Anregung dienen, sondern auch die Frage stellen, inwieweit noch im heutigen Staat mit einem in der Reaktion geprägten Institut zu arbeiten ist. Auch hier gilt Luhmanns Diktum, dass die Antwort so selbstverständlich geworden sei, dass man darüber die Fragestellung vergessen habe.

 

Bonn                                                                                                  Mathias Schmoeckel