Daileader, Philip, True Citizens.

* Violence, Memory, and Identity in the Medieval Community of Perpignan 1162-1397 (= The Medieval Mediterranean 25). Brill, Leiden 2000. 280 S. Besprochen von Eva Lacour. ZRG GA 119 (2002)

LacourDaileader20001024 Nr. 10217 ZRG 119 (2002) 32

 

 

Philip Daileader, True Citizens, Violence, Memory, and Identity in the Medieval Community of Perpignan, 1162‑1397, Brill, Leiden-Boston-Köln, 2000, 280 S.

 

Das Leitmotiv dieser Harvarder Dissertation zur mittelalterlichen Stadtbürgerschaft am Beispiel der katalanischen Stadt Perpignan ist interessanterweise das Thema „Erinnerung“. Die „Identität“ der Stadt habe sich nicht in einem Prozess der Reifung entwickelt, sondern aus „wiederholten Versuchen, an der Vergangenheit zu kleben“ (S. 209). Die in einem Privileg von 1197 fixierte Organisation der Stadt wurde noch Jahrhunderte später als ideal empfunden - in einem Verfassungskonflikt beriefen sich 1346 beide Parteien darauf -, obwohl sie eigentlich damals schon rückwärts gewandt und unzeitgemäß war.

Perpignan erhielt im Jahr 1197 durch Peter II. von Aragon zu einem Zeitpunkt ein Privileg, als der König noch nicht volljährig war und sich gegen Anfechtungen behaupten musste; nach diesem Privileg besaß Perpignan das Recht, einen Magistrat bestehend aus fünf consules zu wählen. Dieser Magistrat hatte vor allem die Aufgabe, die Rechte des Königs und der Bürger zu verteidigen und ihre bewegliche und unbewegliche Habe zu schützen. Zu diesem Zweck stand ihm die ma armada zur Verfügung, ein Bürgerheer unter dem Befehl des königlichen Schultheißen und des Vikars. Philip Daileader bewertet den Wunsch der Bürger nach eigener Jurisdiktion und Exekutivgewalt unter Führung der consules als Reaktion gegen den königlichen Landfrieden. Das Ausscheren aus dem königlichen Schutz im Rahmen des Landfriedens brachte für die Bewohner Perpignans natürlich Vorteile hinsichtlich der Schnelligkeit und Rücksichtslosigkeit der Behaup­tung ihrer Rechte, für die Parteien, mit denen sie in Konflikt lagen - Landadel und umliegende kleinere Städte -, war die ma armada jedoch eine ständige Bedrohung, ein Schritt hinter das bereits Erreichte zurück zum Recht des Stärkeren. Das Privileg gab den Weg zu fehdeähnlichen Zuständen wieder frei, da es den Bürgern der Stadt das Recht zugestand, jemanden, der sich nicht gemäß der Rechtsprechung der consules verhalten wollte, straffrei mit jeder Art von kollektiver Gewalt zu überziehen bis hin zur Brandschatzung ganzer Dörfer und Mord. Die Bewohner Perpignans formten ihre Identität hinsichtlich Konservativismus und Streitbarkeit entsprechend der adligen Fehdelust. Ablehnung gegenüber Veränderungen und Akzeptanz von Rache waren „tief verwurzelte und geteilte Werte“ (S. 225).

Im Gegensatz zu anderen europäischen kommunalistischen Bewegungen der Zeit waren die Bestrebungen Perpignans personal, nicht territorial. Man schuf nicht einen befriedeten Raum innerhalb der Stadtmauern, sondern verteidigte die Rechte der Bürger, egal wo und gegen wen.

1210 gewann Peter II. dann seine Position als Hüter des Landfriedens zurück, die consules verschwinden sang- und klanglos aus den Urkunden und Perpignan wurde wieder der königlichen Exekutivgewalt unterstellt. Doch nach und nach errang Perpignan stückweise seine alten Rechte, bis schließlich 1329 alle Privilegien von 1197 wieder hergestellt waren. Um 1400 stellte der König von Aragon resigniert fest, Perpignan ursurpiere ohne Zweifel die königliche Jurisdiktion. Aufgrund des alten Privilegs sah er sich aber außerstande, dem Einhalt zu gebieten, im Gegenteil erlangte die Stadt sogar das Recht, königliche Beamte, sogar den Schultheiß, ihrer Rechtsprechung zu unterwerfen und mit der ma armada gegen sie vorzugehen.

Im 14. Jahrhundert erschütterten Krisen - die Pest, Judenpogrome und Machtkämpfe zwischen Zünften und den consules - Perpignan. Diese bildeten den Ausgangspunkt, um die alte, im Privileg von 1197 konstituierte Gemeinschaft zu beschwören. Der Magistrat wollte die Bürgerschaft zwingen, den Eid zu erneuern und ihn so der „Vergessenheit“ zu entreißen. Nach einer Phase des Wandels, u. a. der Grundlagen des Bürgerrechts, wandte man sich der Vergangenheit zu, um die zerbrochene Einheit wieder herzustellen. Doch man war unterschiedlicher Auffassung, wie die alten Rechte und Gerechtigkeiten zu interpretieren seien. Magistrat und Zünfte - beide Konfliktparteien - beriefen sich auf 1197, darin war man sich einig. Aber die Zünfte verlangten, den Magistrat selbst zu wählen, denn sie seien das Volk, von dem im alten Privileg die Rede sei; der Magistrat wollte ausscheidende consules durch Kooptation ersetzen, wie sich das eingebürgert hatte, denn sie repräsentierten das Volk. Der König entschied zugunsten des Magistrats und gewährte ihm gar das Recht, den unwilligen Bürgern die Vereidigung aufzuzwingen.

Daileader interpretiert die Krise der 1390er Jahre als Krise des Gedächtnisses. Das 12. und 13. Jahrhundert stellten die Formierungsphase dar. Danach galt es zunächst das zu bewahren, was dem kollektiven Gedächtnis überantwortet worden war. In der zweiten Hälfte des 13. und der ersten des 14. Jahrhunderts standen die Könige zwischen Perpignan und seiner Vergangenheit. Danach war es die Stadt selbst.

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour