Deutsche Wirtschaftsgeschichte.
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Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg. v. North, Michael. Beck, München 2000. 530 S., 10 Abb., 44 Tab., 12 Kart.
Der gelungene Band „komprimiert [...] die deutsche Wirtschaftsentwicklung des vergangenen Jahrtausends“ (S. 11) auf detailreiche Weise. Jeder Aufsatz befasst sich u. a. mit Kommunikation und Verkehr, Demographie, den Wirtschaftszweigen Landwirtschaft, Gewerbe / Industrie und Dienstleistung sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik des jeweiligen Zeitabschnitts, was den übergreifenden Vergleich ermöglicht. Zum Abschluss analysiert Rainer Metz die langfristigen Trends anhand ökonomischer Indikatoren und verschafft dem Leser so einen fundierten Überblick.
Stuart Jenks bezeichnet die Zeit zwischen den Jahren 1000 und 1250 als Epochengrenze der Entstehung einer moderneren Wirtschaft, eine „kommerzielle Revolution“. Aus einem „kümmerlichen Wanderhandel entlang von Rhein und Donau“ bildete sich ein „mächtiger deutscher Binnen- und Außenhandel“ (S. 68). Kennzeichen ist seit dem 13. Jahrhundert das Sesshaftwerden der Fernkaufleute, das durch die Verschriftlichung ihrer Betriebe ermöglicht wurde. Sie beförderte auch die Entwicklung von Kreditinstrumenten und damit eine enorme Steigerung des Handelskapitals. Die neue Dynamik des Handels mit ihrem Wandel vom Luxus- zum Massenguthandel verhalf den Messen zur Blüte.
Die Trennung von Arbeit und Kapital nahm im Bergbau ihren Anfang. Schmelzöfen wurden vergrößert, die Gruben mussten - nachdem die im Tagebau auszubeutenden Erzvorkommen erschöpft waren - entwässert werden, was seit etwa 1300 die Möglichkeiten der kleinen „Unternehmerarbeiter“ überstieg (S. 62). Die genossenschaftliche Organisation des Bergbaus ebnete auch Kleinanlegern den Weg zur Beteiligung und erschloss neues Kapital. Jenks zieht insgesamt eine positive Bilanz der Krisen des Spätmittelalters, lösten sie doch einen fälligen „tiefgreifende[n] Strukturwandel“ aus (S. 105).
Für die Frühe Neuzeit beschreibt Michael North, wie im Zuge der Entdeckung der Seewege nach Indien und Amerika und als Folge des Dreißigjährigen Krieges der oberdeutsche Handelsraum seine führende Rolle verlor und die Hansestädte in der Schifffahrt im internationalen Vergleich ins Hintertreffen gerieten, während der rheinische und der mitteldeutsche Raum aufstiegen. Doch trotz der wachsenden Bedeutung von Handel, Bankwesen und Transport stand der tertiäre Sektor hinsichtlich Wertschöpfung und Beschäftigung „noch deutlich hinter Landwirtschaft und Gewerbe zurück“ (S. 150). Die frühneuzeitlichen Gewerbelandschaften mit ihrem Nebeneinander von städtischem Handwerk, Verlagswesen und Manufakturen legten den Grundstein für die spätere Industrialisierung.
Der Kameralismus schuf seit dem 17. Jahrhundert einen institutionellen Rahmen für die Wirtschaft, der den Durchbruch der Marktgesellschaft im Rahmen des Reformschubs des beginnenden 19. Jahrhunderts vorbereitete.
Im „Zwillingspaar“ Zollverein und Eisenbahn (S. 195) erblickt Dieter Ziegler „die entscheidende Voraussetzung für die Herausbildung einer interregionalen Arbeitsteilung in Deutschland“ (S. 196) und damit der Industrialisierung, wobei sich die Eisenbahn zum Führungssektor entwickelte. Ab 1880 allerdings überstieg das Wachstumstempo der Chemie- und Elektroindustrie das der Schwerindustrie.
Das seit dem 18. Jahrhundert einsetzende und im 19. Jahrhundert rasant werdende Bevölkerungswachstum, das von den Zeitgenossen als ungeheure Krise empfunden wurde, machte sich in einer „neuartige[n] Massenarmut“ bemerkbar (S. 211). Nicht die Industrialisierung war Ursache der höheren Geburtenrate, sondern der Aufschwung des ländlichen Gewerbes, der die Gründung neuer Familien erleichterte. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Binnenwanderung - besonders von Ost nach West - und der Verstädterung. Gleichzeitig vollzog sich die „umfassendste gesellschaftliche Veränderung“ seit Beginn der Neuzeit: die Ablösung der Feudalgesellschaft durch die „Marktgesellschaft“ und damit eine „Proletarisierung von vielen Millionen“ Menschen (S. 281).
Das Ende des 19. Jahrhunderts markiert auch das Ende des klassischen Liberalismus und den „Wandel zum Interventionsstaat“ (S. 285), der schließlich in die - erst 1942 mit einer zentralen Planungsbehörde ausgestatteten - nationalsozialistische Lenkungswirtschaft münden sollte.
Die Jahre zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden von Gerold Ambrosius als Zeit „extremer wirtschaftlicher Verwerfungen“ charakterisiert (S. 285). 1927 erreichte das deutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner wieder das Niveau des Jahres 1913, zwischen 1928 und 1932 sackte es nochmals auf das der Jahrhundertwende ab. 1939 lag das Bruttoinlansprodukt zwar um 70% über dem von 1913, doch die Bevölkerung zog aus diesem „Rüstungsaufschwung“ nur begrenzten Nutzen. Die expansive Geldpolitik stabilisierte zu Beginn der Weimarer Republik zwar die innenpolitische Situation. Die Hyperinflation der Jahre 1922/23 erschütterte aber „die sozial-ökonomischen Strukturen nachhaltig“ (S. 309). Ein zweites Mal enteignete dann die nationalsozialistische Verschuldungspolitik - diesmal unbemerkt - die Sparer zum Zwecke der Aufrüstung. Das Inflationspotential wurde durch Preis- und Lohnstopps unterdrückt, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine erneute Währungsreform beseitigt werden musste. International schotteten sich die Nationalökonomien seit der Weltwirtschaftskrise zunehmend voneinander ab, so dass erst in den 1960er Jahren wieder ein dem Beginn des Jahrhunderts vergleichbarer Verflechtungsgrad erreicht wurde. Trotz des Zusammenbruchs fällt „die kühle ökonomische Betrachtung“ des Rüstungsbooms „positiver aus“: Mit ihm hatten sich die zukunftsorientierten Branchen wie Chemie und Elektrotechnik stark entwickelt, traditionelle hatten sich rationalisiert und modernisiert, so dass „dem Chaos und Elend nach wenigen Jahren ein wirtschaftlicher Aufschwung ohne Beispiel folgen sollte“ (S. 350), dem bis 1973/75 in Westdeutschland andauernden Nachkriegsboom, stimuliert vor allem durch die Unterbewertung der D-Mark und damit der günstigen außenwirtschaftlichen Verhältnisse. Harm G. Schröter nennt als weitere Bedingungen für das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das „Humankapital“ einer gut ausgebildeten Bevölkerung, die Nachfrage nach Produktionsgütern, welche die noch traditionell strukturierte Wirtschaft zu befriedigen vermochte und „Nachholinvestitionen“, die aufgrund des immer noch bestehenden technischen Rückstandes gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika nötig waren (S. 364f). Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten sank seit etwa 1850 kontinuierlich, seit 1950 rapide von mehr als 50% auf unter 5%; entsprechend drastisch ging der Anteil der im primären Sektor erzielten Wertschöpfung zurück. In den 1950er bis 70er Jahren arbeiteten ca. 50% der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe, heute sind aber rund 60% im tertiären Sektor beschäftigt. Diesem Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland – vor allem der fortgesetzten Deindustrialisierung - standen ein innovationshemmendes Planungssystem der Deutschen Demokratischen Republik und deren Überindustrialisierung gegenüber. Der Wandel musste dort nach 1990 schlagartig durchgeführt werden.
Anschau Eva Lacour