Dokumentation des NS-Strafrechts,
BuschmannDokumentation20010903 Nr. 10355 ZRG 119 (2002) 73
Dokumentation des NS-Strafrechts, hg. v. Ostendorf, Heribert. Nomos, Baden-Baden 2000. 363 S.
In der öffentlichen Diskussion über das nationalsozialistische Rechtssystem spielt das Strafrecht neben der Rassengesetzgebung des Nationalsozialismus eine besondere Rolle, insbesondere seit die Forschung damit begonnen hat, die Rechtsprechung des Volksgerichtshofes, aber auch der Sondergerichte an Hand der überlieferten Aktenbestände systematisch aufzuarbeiten und des Näheren zu untersuchen. In einem gewissen Gegensatz dazu steht die Tatsache, daß sich die Dokumentation des nationalsozialistischen Strafrechts – von einer Ausnahme abgesehen1 – zumeist auf die Wiedergabe von Auszügen aus den einschlägigen Gesetzen beschränkt, wobei die Auswahl nicht immer als repräsentativ angesehen werden kann, sondern nicht selten von vorgegebenen Gesichtpunkten bestimmt wird. Diesem Mangel versucht der Herausgeber abzuhelfen, indem er eine Zusammenstellung der wichtigsten Quellen des nationalsozialistischen Strafrechts in vollen Wortlaut präsentiert, die nicht nur die Strafgesetzgebung im materiellen Sinne berücksichtigt, sondern ebensosehr die Strafprozeßgesetzgebung, das Polizeistrafrecht unter Einschluß der zahlreichen Verordnungen, Führererlasse, der Runderlässe der zuständigen Ministerien sowie der Richtlinien für die Rechtsanwendung, die gerade in der nationalsozialistischen Rechtspraxis eine große Rolle spielten. Auch die einschlägigen Gesetze des Militärstrafrechts und des Militärstrafverfahrensrechts sind in den Kreis der abgedruckten Quellen miteinbezogen. Der Herausgeber beginnt mit einer Einleitung, in der er eine knappe Übersicht über Grundlagen, Verlauf und Eigenart der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung gibt und auch einen Blick auf die Rechtsprechung wirft. Signifikant für die Entwicklung der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung ist das drastische Ansteigen der Androhung und Verhängung der Todesstrafe im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, wobei das Jahr 1944 den absoluten Höhepunkt markiert, letzteres leicht erklärbar durch die innenpolitische Situation nach dem 20. Juli 1944 und vor allem die militärische Lage nach der Landung der Alliierten in der Normandie, der man offenbar nur durch drakonische Strafen Herr werden zu können glaubte. Am Schluß der Einleitung geht der Herausgeber auch auf die Behandlung des nationalsozialistischen Unrechts in der (alten) Bundesrepublik nach 1945 ein, die nach seiner Ansicht unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, daß Straftaten der Justiz nicht oder nur sporadisch verfolgt wurden, während sie in der ehemaligen DDR zu höchst fragwürdigen, zum Teil geradezu rechtsstaatswidrigen Verurteilungen führten – insgesamt kein Ruhmesblatt für die deutsche Justiz der Nachkriegszeit, auch wenn die Probleme, die mit der justizförmigen Behandlung des nationalsozialistischen Unrechts verbunden waren, keineswegs zu unterschätzen sind.
Die Dokumentation selbst beginnt in einem ersten Teil mit dem Abdruck der verfassungsrechtlichen Gesetzgebung des Nationalsozialismus, die insgesamt als Grundlage der eigentlichen Strafgesetzgebung anzusehen ist. Deren Umfang reicht von Art. 48 WRV über das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, dem sog. Ermächtigungsgesetz, der Nürnberger Rassengesetzgebung vom 15. September 1935, dem Beschluß des Großdeutschen Reichstages vom 26. April 1942 über die Bestätigung Hitlers als oberstem Gerichtsherrn bis zum Führererlaß über die besonderen Vollmachten des Reichsministers der Justiz zur Errichtung einer nationalsozialistischen Rechtspflege vom 20 August 1942.
In einem zweiten spezifisch straf- und strafprozeßrechtlichen Teil der Dokumentation sind zunächst die wichtigsten strafrechtlichen Gesetze und Verordnungen abgedruckt, die in der Zeit des Nationalsozialismus verkündet wurden, von denen sich auch heute noch einige in Geltung befinden wie etwa die Formulierung des Straftatbestandes des § 211 StGB, die aus dem Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941 herrührt und keineswegs als spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut bezeichnet werden kann. Der größte Teil der abgedruckten Gesetze und Verordnungen betrifft freilich das nationalsozialistische Strafrecht im eigentlichen Sinne, dessen Spannweite von der Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe auf die Regierung der nationalen Erhebung, der sog. Heimtückeverordnung vom 21. März 1933 über die Verordnung gegen Volksschädlinge – Volksschädlingsverordnung – vom 5. September 1939, die Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten – Polenstrafrechtsverordnung – vom 4. Dezember 1941 bis zur Verordnung über das Strafrecht des Deutschen Volkssturms vom 24. Februar 1945 reicht. Der strafprozessuale Teil der Dokumentation beginnt mit der Verordnung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 und umfaßt neben den Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeseßordnung, mit denen u. a. der Volksgerichtshof errichtet wurde, auch den Führererlaß über die Vereinfachung der Rechtspflege vom 21. März 1942 und die Verordnung über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 auch die für die Vertretung von Angeklagten vor dem Volksgerichtshof so wichtigen Merkblätter für die Verteidiger in Verfahren von Landesverratssachen.
Als Polizeistrafrecht betrachtet der Herausgeber alle jene zumeist in Verordnungsform erlassenen Rechtsvorschriften, die sich an der Grenze von materiellem Strafrecht, Strafprozeßrecht und Polizeirecht bewegen. Dazu zählen für ihn vor allem die Verordnungen und Erlässe, die sich auf die Verhängung der sog. Schutzhaft und die vorbeugende Verbrechtensbekämpfung durch die Polizei beziehen, aber auch jene, die namentlich die polizeilichen Maßnahmen gegen jugendliche Straftäter betreffen, die nur z. T. ordnungsmäßig veröffentlich wurden. Als einziges Gesetz ist in diesem Abschnitt das Preußische Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 abgedruckt. Von den im Reichsgesetzblatt publizierten einschlägigen Verordnungen finden sich neben den Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung auch die Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und von Polizeiverbänden bei besonderen Einsätzen vom 17. Oktober 1939.
Bei der militärstrafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Gesetzgebung sind es vor allem die Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz – Kriegssonderstrafrechtsverordnung – vom 17. August 1938 sowie die Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz – Kriegsstrafverfahrensordnung – ebenfalls vom 17. August 1938, veröffentlicht erst im Jahre 1939, die der Herausgeber in seine Dokumentation aufgenommen hat. Abgedruckt sind neben der Neufassung des Militärstrafgesetzbuches vom 10. Oktober 1940 auch der berüchtigte Kommissarsbefehl vom 6. Juni 1941 und der sog. „Nacht- und Nebel- Erlaß“ vom 7. Dezember 1941, der Gerichtsbarkeitserlaß vom 30. Juli 1944 sowie der Führerbefehl über die Bildung eines Fliegenden Standgerichts vom 9. März 1945 – sämtlich Zeugnisse eines drakonischen Kriegsstrafrechtes.
Der letzte Teil der Dokumentation ist dem Jugendstrafrecht gewidmet und enthält neben der eigentlichen Jugendstrafgesetzgebung auch Verfahrensrecht und Polizeirecht, das insgesamt nur in Verordnungen und Allgemeinen Verfügungen verlautbart wurde. Unter den abgedruckten Texten befindet sich etwa die Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939, die Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts (Jugendarrestverordnung) vom 4. Oktober 1940, die Verordnung über die Vereinfachung und Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts (Jugendstrafrechtsverordnung) vom 6. November 1943 und schließlich die Allgemeine Verfügung des Reichsministers der Justiz vom 16. Dezember 1943 über die Einrichtung einer gerichtlichen Erziehungskartei vom 16. November 1943.
Das Strafrecht ist, wie man weiß, in besonderem Maße ein Spiegel der politischen, sozialen und geistigen Verhältnisse der Zeit, in der es entstanden ist und angewendet wird. Dies gilt in besonderem Maße für die Zeit des Nationalsozialismus, wie durch die vorliegende Dokumentation sinnfällig vor Augen geführt wird. Freilich wird man sich hüten müssen, sämtliche in dieser Zeit erlassenen Vorschriften pauschal als Ausdruck spezifisch nationalsozialistischen Rechtsdenkens zu bezeichnen. Nicht wenige von ihnen waren das Ergebnis einer strafrechtlichen Diskussion, deren Wurzeln bis weit in die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme zurückreichten und die nach dem Ende des Nationalsozialismus, wie oben bereits angedeutet, fast unverändert weitergalten und zum Teil noch immer gelten. Der nationalsozialistische Gesetzgeber hat sich dieser Ergebnisse bemächtigt und sie in seine Gesetzgebung eingebaut, in der sie neben den spezifisch nationalsozialistischen Bestimmungen als Bestandteile einer einheitlichen Gesetzgebung erscheinen. Wer sich mit der Strafgesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit wirklich auseinandersetzen will, wird daher nicht umhin können, statt ausgewählter Gesetzesstellen die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und sonstigen Maßnahmen in ihrem vollen Wortlaut zu studieren, wenn er sich ein unvorgenommenes und zutreffendes Bild von der Strafrechtsentwicklung in dieser Zeit machen will. Dies ermöglicht zu haben, gehört zu den besonderen Verdiensten, die sich der Herausgeber mit der Veröffentlichung dieser Dokumentation des nationalsozialistischen Strafrechts erworben hat.
Salzburg Arno Buschmann
1 Einzige Ausnahme bildet das Buch des Rezensenten, Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933-1945, Band 2, Dokumentation einer Entwicklung, Wien New York 2000; dort findet sich nicht nur eine Dokumentation der Entwicklung der Strafgesetzgebung, sondern auch der übrigen Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit in vollem Wortlaut, allerdings unter dem Gesichtspunkt der spezifischen Einwirkung der nationalsozialistischen Weltanschauung auf die Gesetzgebung zusammengestellt.