Dülmen, Richard van, Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit. Böhlau,

* Köln 1999. 118 S. Besprochen von Peter Schuster. ZRG GA 119 (2002)

SchusterpeterDülmen20000925 Nr. 1203 ZRG 119 (2002) 48

 

 

Dülmen, Richard van, Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit. Böhlau, Köln – Weimar – Wien 1999. 118 S.

 

Richard van Dülmen gebührt das Verdienst, als einer der ersten deutschsprachigen Historiker Ehre, Unehrlichkeit und Ehrenstrafen als soziale Phänomene untersucht und dargestellt zu haben. Eine Dekade intensiver Forschungen ist seither vergangen, und so versteht der Verfasser seinen schmalen Band auch als eine „zusammenfassende Problemstudie“ auf der Grundlage der jüngeren Forschung (101). Van Dülmen arbeitet exemplarisch. Nicht alle Ausprägungen der Unehrlichkeit werden in den Blick genommen, vielmehr beschränkt er sich nach einem einleitenden Kapitel über Ehrenhändel auf fahrendes Volk, unehrliche Handwerker, Scharfrichter und Abdecker sowie Selbstmörder, denen postum ihre Ehre abgesprochen wurde.

Das Buch ist eine gelungene Einführung in das Thema, lesbar und übersichtlich komponiert. Irritierend freilich ist, daß der Text an keiner Stelle Probleme thematisiert, die es in der Forschung zur Ehre reichlich gibt. Van Dülmen weiß um die Schwierigkeit des Themas. Immerhin zitiert er Cesare Beccaria zustimmend, der schon 1766 schrieb, was noch heute gilt: „Das Wort Ehre gehört zu denjenigen, welchen ausführliche und glänzende Abhandlungen gewidmet wurden, ohne daß damit wahrlich auch nur eine genaue und feste Vorstellung verknüpft gewesen wäre“ (96). Vor dem Hintergrund solch skeptischer Urteile bietet das Buch van Dülmens Anlaß darüber nachzudenken, was denn nun als gesichertes Wissen in den letzten Jahren erarbeitet worden ist. Theorien über den Ursprung der Unehrlichkeit bestimmter Berufsgruppen, wie sie auch van Dülmen präsentiert, gibt es seit langem. Diesbezüglich sind in den letzten Jahren kaum neue Erkenntnisse gereift. Dabei erweist sich die Frage nach den Ursprüngen der Unehrlichkeit bestimmter Berufsgruppen durchaus als interessant. Verweise darauf, daß die Wurzeln in der „Handwerkerwelt mittelalterlicher Städte“ (60) liegen, sind freilich ebenso wenig erkenntnisfördernd wie der Hinweis, daß die zunehmende Unehrlichkeit des Scharfrichters im 16. Jahrhundert mit „der Entwicklung des modernen Strafverfahrens seit dem 16. Jahrhundert“ (44) zusammenhängt. Derartige Verweise verdecken, daß Ehrlichkeit und Unehrlichkeit erst seit dem 16. Jahrhundert zu einem wichtigen Thema im gesellschaftlichen Diskurs wurden. Die Scharfrichter beispielsweise haben auch im 15. Jahrhundert bereits zahllose Hinrichtungen vollzogen. Ihr Berufsbild hat sich im 16. Jahrhundert nicht geändert, wohl aber ihre Wahrnehmung. Erst jetzt wurden sie unehrlich. Die gleiche Entwicklung ist auch an anderen Berufsgruppen zu beobachten, ohne daß die Forschung bislang Erklärungsansätze bereitzustellen in der Lage wäre.

Die geschlossene Darstellung van Dülmens über die Ehrenkonflikte in der vormodernen Gesellschaft ist ebenso anregend wie Widerspruch heischend. Wie die Forschung der letzten Jahre knüpft van Dülmen an Pierre Bourdieu an und postuliert eine Ubiquität der Ehre in der vormodernen Gesellschaft, die sich in der Häufigkeit gewalttätiger Ehrenhändel abbilde. Abgesehen davon, daß die Quellen beileibe nicht „ein für unsere Vorstellung unglaubliches Maß an brutaler Gewalt“ (13) überliefern, so war nicht jede Beleidigung ein Angriff auf die Ehre. Dementsprechend war nicht in jedem Fall eine gewalttätige Retorsion zulässig. Und auch nicht in jedem Fall mußte der Beleidiger eine öffentliche Ehrenerklärung abgeben. Rechtsquellen bleiben diesbezüglich zumeist vage, doch entnehmen wir ihnen immerhin, daß es unterschiedliche Niveaus von Beleidigungen gegeben hat. Als 1464 der Kramer Hans von Yese klagte, Hans Tymmermann habe über ihn verbreitet, er sei nicht fromm genug, um eine Gilde besitzen zu dürfen, befand der Göttinger Rat, dies sei keine „eersprake“, es seien nur „scheldword“.[1] Ausdrücklich unterschied auch das Stadtrecht der Stadt Kahla 1455 zwischen Scheltworten und Beleidigungen, die „die ere anlangete“.[2] Rechtshistoriker wie Historiker müssen sich für derartig kleine Unterschiede sensibilisieren, um den Kern der Ehre in der vormodernen Gesellschaft herauszuarbeiten.

Richard van Dülmen hat mit seinem Buch unseren derzeitigen Wissensstand über Ehre und Unehrlichkeit festgehalten. Mehr Zweifel und Problemorientierung in der Darstellung wären wünschenswert gewesen. Doch auch in der vorliegenden Gestalt ist das Buch ein Gewinn, sofern man bereit ist, es gelegentlich gegen den Strich lesen zu wollen.

 

Bielefeld                                                                                                           Peter Schuster

[1] Göttinger Statuten. Akten zur Geschichte der Verwaltung und des Gildewesens der Stadt Göttingen bis zum Ausgang des Mittelalters, bearb. von Goswin Freiherr von der Ropp, Hannover 1907, S. 252.

[2] Urkunden zur Geschichte der Stadt Kahla, bearb. von H. Bergner, Kahla 1899, S. 92.