Ehlers, Joachim, Die Kapetinger (= Urban Taschenbuch 471).

* Kohlhammer, Stuttgart 2000. 310 S. Besprochen von Marie-Luise Heckmann. ZRG GA 119 (2002)

HeckmannmarieluiseEhlers20001001 Nr. 100201 ZRG 119 (2002) 31

 

 

Ehlers, Joachim, Die Kapetinger (= Urban Taschenbuch 471). Kohlhammer, Stuttgart 2000. 310 S.

 

Der Verfasser stellt seine Darstellung über „Die Kapetinger“ unter drei als Tatsachen formulierte Voraussetzungen: 1) Prinzipatsthese (K.-F. Werner), 2) These vom allmählichen Übergang zwischen dem Frankenreich und seinen Nachfolgestaaten (C. Brühl), 3) These vom kulturellen West-Ost-Gefälle zwischen westfränkisch-französischem und ostfränkisch-deutschem Reich (J. Ehlers) (S. 9-11). Unter den Schlagworten „1. Das Haus Capet und die Anfänge Frankreichs (888-987)“ (S. 13-26), „2. Konsolidierung der Dynastie (987-1060)“ (S. 27-65), „3. Krise christlicher Herrschaft (1060-1108)“ (S. 66-96), „4. Konsolidierung der Monarchie (1108-1180)“ (S. 97-127), „5. Die Eroberung Frankreichs (1180-1226)“ (S. 128-160), „6. Großmacht der Christenheit (1226-1285)“ (S. 161-190), „7. Rationalisierung der Monarchie (1285-1314)“ (S. 191-222) und „8. An den Grenzen des dynastischen Prinzips (1314-1328)“ (S. 223-246) wird der Aufstieg der Kapetinger von Kleinkönigen zu den mächtigsten Herrschern im Abendland beschrieben. Langlebigkeit der Dynastie, Bedrohung durch die Normannen und später durch Flandern, Konkurrenz mit dem angiovinisch-englischen bzw. dem römisch-deutschen Reich, pragmatischer Umgang mit auswärtigen Herrschern, Offenheit für die Kirchenreform bei zunehmender Inanspruchnahme des Papsttums für französische Belange, bleibende Bindungen des hohen französischen Klerus an die Krone, Propagierung und Festigung erbrechtlicher Thronfolge durch Mitkönigtum (bis Philipp I.) und Königssalbung in Reims, Erweiterung von Krondomäne und königlichem Sanktionsgebiet, Aufbau einer effizienten Verwaltung vor allem im Finanzbereich, systematische Förderung königlicher Gerichtsbarkeit, praktische Umsetzung des Kreuzzugsgedankens und konsequenter Ausbau der legitimierenden ‚Religion Royale’ hätten maßgeblich zur Durchsetzung der allerchristlichsten Monarchie in Frankreich und Europa beigetragen.

Der Höhepunkt sei unter Ludwig IX. dem Heiligen erreicht worden. Ihm attestiert der Verfasser eine „erstrebte Synthese von Recht, innerem Frieden, effizienter und deshalb oftmals harter Verwaltung, Kriegsbereitschaft, sakralisiertem Königtum und persönlicher Lebensführung nach dem Muster der Zisterzienser und Mendikanten“, „ein großes Maß an individueller Glaubwürdigkeit“ und grundlegende Liebe zur Gerechtigkeit (Zitate S. 165, 175-178). Autokratische Herrschaftsverdichtung, scharfe Auseinandersetzungen mit Papsttum und Templern, der Ausschluss des Hochadels aus Beratungsfunktionen für den König zu Gunsten professioneller Amtsträger und die Inhaftierung weiblicher Mitglieder des Königshauses wegen Ehebruchs gehen für Ehlers mit einer Ideologisierung - und damit Überforderung - des traditionellen Königsideals unter Philipp IV. dem Schönen einher. Ein Teil dieser Faktoren habe zum Niedergang der Königsherrschaft unter Philipps Nachfolgern und schließlich zum Aussterben der Kapetinger in männlicher Linie geführt (S. 194, 197f., 223-226, 230, 232).

Die in den Text eingestreuten Hinweise auf Überlieferungslage (S. 43, 58, 130-132, 171-173), die Deutungsmuster erzählender Autoren (S. 34f., 40-42, 71f., 78-80, 86f., 94-96, 98, 104-107, 116, 128, 136, 146, 153, 158f., 166f., 192-194, 210-213, 224f., 244) und einzelne Forschungsfelder oder Forschungsthesen (S. 41, 77f., 84, 90f., 98, 105f., 107, 109, 144, 149, 173-175, 199f., 227) vermögen die grundlegende Erörterung dieser vier Aspekte in der Einleitung nicht zu ersetzen. Hierbei wäre auf das für das Früh- und Hochmittelalter typische Vorherrschen narrativer Quellen, die geschätzte Anzahl und Überlieferungsformen von Königsurkunden und Privaturkunden sowie das Auftreten neuer Quellengattungen im 13. und 14. Jahrhundert (z. B. S. 218) hinzuweisen gewesen. Auch der Wandel des Kapetingerbildes in der Forschung, der mit den Untersuchungen von Elizabeth Hallen (1980) und Andrew Wells Lewis (1981) einsetzt und bis zu dem vom Autor, Heribert Müller und Bernd Schneidmüller herausgegebenen Sammelband über „Die französischen Könige des Mittelalters“ (1996) reicht, hätte kurz zur Sprache kommen können. Den dortigen Beiträgen weiß sich der Verfasser immerhin bis in einzelne Quellenzitate verpflichtet. Das beigegebene Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 246-272) gleicht diese Schwäche der Einleitung nicht aus.

Da die Monographie einen breiteren Leserkreis in das Thema einführen und Spezialisten an die wichtigsten Zusammenhänge erinnern soll, hätte der Verfasser zudem Wert auf eine klare Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen, Forschungsmeinungen und reinen Hypothesen legen müssen. Der Leser wird beispielsweise von einer Abhandlung über eine westfränkisch-französische Königsdynastie an Stelle einer Aufweichung der These ihrer ostfränkischen Abstammung (S. 13-15) eine abwägende Darlegung der Herkunftsfrage erwarten. Dabei könnte auch die verfassungsrechtliche Stellung der erwähnten Adelssippe Erwähnung finden. Der Autor entzieht sich einer solchen Erörterung vielleicht deshalb, weil sie seiner eigenen Vorstellung vom west-östlichen Kulturgefälle widersprechen und möglicherweise die ältere Forschungsmeinung, wonach eine ‚anarchie féodale’ den Herrschaftsübergang von den Karolingern auf ihre Nachfolger geprägt hat, bestätigen würde. Quellenhinweise auf frühmittelalterliche Königserhebungen, die die französischen Könige ebenfalls als Exponenten einer Adelsgesellschaft erscheinen lassen, werden entweder als Wunschvorstellungen einzelner Autoren (wie Richer, S. 29-31) oder durch Umdeutungen ganzer Erhebungsabläufe (so für die Einsetzung Philipps I. zum Mitkönig, S. 63-65, bzw. für die Ernennung Philipps VI., S. 243f.) im Sinne des Verfassers interpretiert.

Auflösungserscheinungen des alten Frankenreiches und der Aufstieg neuer Adelsgruppen im Frühmittelalter werden ausschließlich mit der eingangs genannten Prinzipatsthese erläutert (S. 25f.). Hiernach waren Fürsten und Fürstentümer stets und bevorzugt auf den König bezogen (S. 44-51). Im Sinne dieses Erklärungsmodells werden auch die hoch- und spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Adel (S. 89, 116f., 134, 154f.,162-165, 178, 191) bzw. - gegen die Ergebnisse Hasso Hofmanns (²1990) - die Entwicklung der Souveränität im 13. Jahrhundert interpretiert. Souveränität sei vom Königtum gleichsam monopolisiert worden (S. 175, 191, 221). Auf die Apanagen Ludwigs VIII. und seiner Nachfolger wird ebenfalls nur kurz eingegangen. Diese hätten das Entstehen der so genannten „zweiten Feudalität“ bewirkt (S. 44, 161, 242f.). Die sozialgeschichtliche- und die verfassungsgeschichtliche Brisanz dieser Entwicklung, die unter Karl VI. und Karl VII. zu Formen der Doppelmonarchie geführt und auch den Nachfolgern ständigen Ausgleich mit den ‚Prinzen von Geblüt’ abverlangt hat, kommen nicht zur Sprache.

Die Abhandlung zeichnet sich insgesamt durch eine präzise Sprache und einen klaren Aufbau aus. Sie wird durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister solide erschlossen (letzteres S. 284-310). Gelegentliche Druckfehler, nicht vorhandene Überschriften zu den genealogischen Skizzen (S. 52-54, 57, 59, 163, aber vollständig zu S. 68) und zur Stammtafel der Kapetinger (S. 273-278) sowie rund drei Dutzend Zeichensetzungsfehler darf man wohl dem mangelnden Lektorat des Verlages statt dem schreibenden Hochschullehrer anlasten. Die romanisierende Schreibweise einzelner Wörter (etwa „angevinisch" statt „angiovinisch", „St-Denis" statt „St. Denis", „Flandrer" statt „Flamen" oder, nicht ganz unberechtigt, „Parlement" statt „Parlament") lässt sich mit verständlicher Verehrung des Verfassers für den westlichen Nachbarn erklären. Der „Wiedergewinn“ Lothringens durch Karl III., den Ehlers zu 911 konstatiert (S. 21), stellt den Verfasser allerdings in dieselbe historiographische Tradition, die die Vor- und Zwischenkriegszeit für 1349 eine „Réunion du Dauphiné à la France“ hat behaupten lassen. Die sorgfältigen sozial-, politik-, vorstellungs- und ereignisgeschichtlichen Beobachtungen des Verfassers machen die Studie trotz der genannten formalen Mängel, der Ineinssetzung von Berichts- und Bewertungsebene sowie einer partiellen Verzerrung der verfassungsgeschichtlichen Grundlinien durch den Autor für den Fortgeschrittenen, nicht aber für den Anfänger, lesbar. Ob sie auch lesenswert ist, bleibe dem Urteil jedes Einzelnen überlassen.

 

Werder an der Havel                                                              Marie-Luise Heckmann