Genossenschaftliche Strukturen in der Hanse,
LammelGenossenschaftliche20010328 Nr. 10012 ZRG 119 (2002) 32
Genossenschaftliche Strukturen in der Hanse, hg. v. Jörn, Nils/Kattinger, Detlef/Wernicke, Horst (= Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Neue Folge 48). Böhlau, Köln – Weimar – Wien 1999, IX, 305 S.
Der Sammelband vereinigt 16 Beiträge, die teils auf einer internationalen Arbeitstagung 1997 über den Genossenschaftsgedanken im Rahmen der Hanse gehalten, teils als thematisch in diesen Bereich gehörend mit aufgenommen worden sind. Inhaltlich reicht die Darstellung von der Sprachforschung über religiöse Bruderschaften bis hin zu verschiedenen Handelskorporationen, um in einer übergreifenden Schau zum „Gemeinen Kaufmann“ zu enden; geographisch wird zwar der gesamte Handelsraum der Hanse abgedeckt, der Schwerpunkt liegt jedoch im Ostseeraum. Jeder einzelne Artikel bietet eine Fülle von forschungsintensiven Details, die zwar thematisch ein Schlaglicht auf den speziellen Bereich werfen; auch kann durchaus eingeräumt werden, dass diese Forschungsergebnisse in den allgemeinen Obertitel „Genossenschaftliche Strukturen“ eingeordnet werden können; auf eine Einzelbewertung muss jedoch aus Platzgründen verzichtet werden. Nun weisen aber die Autoren selbst darauf hin, dass in diesen Bereichen schon eine Fülle von Vorarbeiten geleistet worden sind, die zwar nunmehr ergänzt und in den Ergebnissen verfeinert werden, deren weiterführender Wert auch nicht gering zu veranschlagen ist, aber doch einige Fragen zum Grundlegenden offen lassen. Mit wenigen Ausnahmen haben sich die Autoren auf die Schilderung der quellenorientierten Tatbestände beschränkt. Kaum zu finden sind dagegen Erklärungen, warum es zu den geschilderten Tatbeständen gekommen ist. Es mag zwar an der teilweise dürftigen Quellenlage liegen, dass Erklärungen die Grenze zur Spekulation streifen. Aber unter Zuhilfenahme von Forschungsergebnissen von Nachbarwissenschaften, z. B. der Soziologie, könnten Versuche unternommen werden, die vorliegenden Quellen zu interpretieren. Es kann zumindest seit den Darstellungen Max Webers davon ausgegangen werden, dass auch der Handelsverkehr spezifischen gruppendynamischen Prozessen dergestalt unterliegt, dass die Entwicklung von der Einzelheit zur wie auch immer gefassten Vielheit vorangeschritten ist. Insoweit wird diese soziologische „Vermutung“ durch die Darstellung des Vorhandenseins von kaufmännischen Korporationen in Handelsstädten nur bestätigt. Es ist wohl auch frühzeitbedingt, dass derartige Zusammenschlüsse eine Schutzfunktion hatten (S. 23), aber noch nicht in dauerhafte Formen eingebunden waren (S. 26). Der sich (jedenfalls für einen Juristen) aufdrängenden Frage, ab welchem Stadium der Verbindungsformen sich der ideelle Zusammenschluss (so S. 47) in einen rechtlichen verwandelt – wobei die Erscheinungsform frühzeitlichen Rechts durchaus diskussionsbedürftig sein kann -, wird nicht nachgegangen, obwohl im selben Zusammenhang von Selbstverwaltungsorganen z. B. der Gotland-Genossenschaft gesprochen wird (S. 52). Dass den verschiedenen „Genossenschaften“ das Bewusstsein weder für Recht noch für die damit verbundenen Machtmöglichkeiten fehlten, zeigen die unterschiedlichen Urheber von Rechtsetzung für die konkrete örtliche Korporation, die von dieser selbst schließlich auf die auswärtigen Hansetage überging (Übersicht S. 108). Ob dieser Wandel allein mit „Außenpolitik“ erklärt werden kann (S. 114), erscheint fraglich. Denn ein anderer Wandel wird in mehreren Beiträgen angesprochen: die Verdrängung der kaufmännischen Korporation durch die Stadt(-Korporationen) (S. 58; 127; 290/291). Auch in diesem Zusammenhang ergibt sich eine Fülle (gesellschafts-)politischer Fragen, die nur zum Teil angetippt werden: so die Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs in die Stadthierarchie durch Übernahme herausragender Ämter bei den Kaufmannsgenossenschaften (S. 132), wobei sich aber sofort die weitere Frage stellt, ob diese Ämter ihrerseits nicht bereits einen bestimmten hervorgehobenen Status des Kaufmanns voraussetzen, ehe dieser ein solches Amt bekleiden kann (s. z. B. S. 212). Weiter bedarf es sicher näherer Untersuchungen zu dem Problem der gegenseitigen Beeinflussung von städtischem Rat und Handelskorporation (S. 138), was andererseits angesichts der vorher angesprochenen Verknüpfung beim Ämteraufstieg wiederum selbstverständlich erscheint. Dennoch bleibt zu überprüfen, wieweit identische Interessen zwischen Kaufmannskorporation und Stadtgemeinde bestanden; die mehrfach auftauchenden diesbezüglichen Konflikte (S. 60, 62, 227) lassen die Vermutung aufkommen, dass der städtische Rat durchaus übergeordnete Gesichtspunkte seiner Politik zugrundegelegt und sich nicht ausschließlich an Handelsinteressen orientiert hat (s. auch S. 248). Schließlich sind noch zwei Punkte erwähnenswert, die zwar nicht in einen expliziten Zusammenhang gestellt worden sind, die vielleicht aber doch zusammengehören: die Verselbständigung der Gesellen und die Funktion religiöser Bruderschaften (S. 231). In ersterem kann durchaus der Ansatzpunkt für eine durch die Jahrhunderte gehende Entwicklung gesehen werden, die ihren Ursprung in der sozialen Hierarchisierung der Handelskorporationen haben mag und letztlich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Abschluss in der Bildung von Gewerkschaften gefunden hat. Dabei spielten die religiösen Bruderschaften sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle: wegen ihres religiösen Anstrichs konnten sie von außen schwerlich verfolgt werden, wenn es auch durchaus Verbotsbestrebungen gegeben hat; hinsichtlich ihrer internen sozialen Schutzwirkung kamen sie den Interessen der „unterdrückten“ Gesellen entgegen. Nicht nur in dieser Beziehung zeigt sich, dass diese Bruderschaften keineswegs ausschließlich auf religiöse Funktionen beschränkt waren (S. 36), sondern den gesellschaftlichen Rahmen für soziale und politische Bestrebungen boten (S. 171, 174), die gleichsam „religiös“ legitimiert wurden.
Diese Übersicht zeigt, dass das im Vorwort angesprochene Ziel des Sammelbandes, Anregungen für weitere Arbeiten zu bieten (S. VIII), mehr als erreicht wurde.
Frankfurt am Main Siegbert Lammel