Gschwend, Lukas, Nietzsche und die Kriminalwissenschaften.
VormbaumGschwend20000928 Nr. 10011 ZRG 119 (2001) 58
Gschwend, Lukas, Nietzsche und die Kriminalwissenschaften. Eine rechtshistorische Untersuchung der strafrechtsphilosophischen und kriminologischen Aspekte in Nietzsches Werk unter besonderer Berücksichtigung der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechtswissenschaft (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 36). Schulthess, Zürich 1999. LIV, 411 S.
Nicht erst zum Nietzsche-Jahr 2000 hat die Rechts- und Strafrechtsphilosophie Nietzsche entdeckt. Es ja auch erstaunlich, wenn ein Philosoph, der schon kurz nach seinem Tode eine intensive Rezeption in allen Bereichen der Kunst, der Geisteswissenschaften und der Politik erlebte, ausgerechnet von einer Wissenschaft ignoriert worden wäre, die sich - neben der Ethik - wie keine andere von ihm provoziert fühlen mußte. Und innerhalb der Rechtswissenschaften waren es die Kriminalwissenschaften, die am schnellsten bei ihm fündig werden konnten - nicht nur, aber vor allem in der „Genealogie der Moral[1]”.
Das hier zu besprechende Buch Gschwends „richtet sich vornehmlich an Juristen mit besonderen Interessen an der Strafrechtsgeschichte und -philosophie”, will aber auch „als interdisziplinäre Untersuchung ... ein weiteres Publikum interessierter Leserinnen und Leser ansprechen” (Vorwort). Von den zahlreichen Bemühungen um Nietzsche von juristischer Seite unterscheidet es sich dadurch, daß es das gestellte Thema umfassend und systematisch angeht - auch daraus erklärt sich der Umfang von 400 Seiten Text.
Der Verfasser will das „Verhältnis von Friedrich Nietzsches Gedankenwelt zu grundlegenden Aspekten der Strafrechtstheorie sowohl seiner Zeitgenossen als auch unserer Gegenwart“ untersuchen (S. 3), verzichtet allerdings auf eine „exegetische Herstellung des systematischen Zusammenhanges von Nietzsches Werk” (S. 5). Die Schwierigkeiten des Juristen mit Nietzsche resultieren aus der Natur der Sache: Eine Wissenschaft, der die Systembildung gleichsam in die Wiege gelegt ist, muß sich von einem Philosophen, für den „der Wille zum System ... ein[en] Mangel an Rechtschaffenheit” ausdrückt (Zitat S. 7), provoziert fühlen (S. 11) - für den Bereich des Strafrechts gilt dies um so mehr, als Nietzsches „,tänzerisches’ Denken” (S. 8), seine „kapriolischen Reflexionen” (S. 12), dem „für die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit oft notwendigen Begriffspedantismus des Strafjuristen” (S. 13) widersprechen. In der Sache tritt hinzu, daß Nietzsches tendenziell monistisches Entwicklungsdenken zum juristischen, insbesondere strafrechtlichen Denken, das dem Dualismus von Sein und Sollen (präskriptive und deskriptive Ebene) besonders verpflichtet ist, häufig quer liegt (S. 14). Der Verfasser weist ausdrücklich darauf hin, daß man an Nietzsche „ohne ein Mindestmaß an Empathie ... nicht heran[kommt]” (S. 18) - was freilich, so ist zu ergänzen, angesichts des brillanten Stils dieses Großmeisters der deutschen Sprache schnell erreicht ist. Gerade dies macht aber auch - so die Warnung des Verfassers - erforderlich, Nietzsche „sehr kritisch” zu lesen (S. 18). Mit einer Darstellung der biographischen Grundlagen (S. 19ff.) schließt der erste Teil der Untersuchung ab.
Der zweite Teil (S. 26ff.) informiert über Nietzsches Bekanntenkreis und dessen Einfluß auf sein Rechtsdenken. Der Verfasser zählt hier u. a. die Kontakte zu Juristen während der Basler Zeit wohl erschöpfend auf; zu ihnen gehört bekanntlich Karl Binding, mit dem Nietzsche auch später Briefkontakt aufrechterhielt (S. 35), vor allem aber Johann Jakob Bachofen.
Der dritte Teil (S. 51ff.) behandelt Nietzsches rechtswissenschaftlichen Bildungshintergrund, der sich vor allem über seine rechtswissenschaftliche Lektüre erschließen läßt. Daß hier die antiken Rechtsdenker für den Altphilologen Nietzsche an erster Stelle stehen, liegt auf der Hand. Besondere Aufmerksamkeit wendet derVerfasser dem Verhältnis Nietzsches zum Positivismus zu (S. 76ff.), den dieser im allgemeinen ablehnt, da er nicht an den bloßen Gegebenheiten, sondern an deren Interpretation interessiert ist (S. 78). Unverkennbaren Einfluß auf seine Rechtsauffassungen haben jedoch die Werke J. Kohlers, Albert H. Posts und R. v. Jherings ausgeübt (S. 82ff.). Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts interessieren vor allem die Einflüsse, welche Evolutionstheorie und eugenische Konzepte 100 Jahre zuvor auf Nietzsche ausgeübt haben (S. 86ff.). Die den Darwinisten und Sozialdarwinisten eigene Wissenschaftsgläubigkeit, ihr Kausalitätsmonismus und ihr Kollektivismus waren Nietzsche fremd. Freilich ist er von eugenischen Vorstellungen und Züchtigungstheorien nicht unbeeinflußt, überformt diese allerdings durch seine antikollektivistischen und antireligiösen Theoreme. Der Verfasser bemerkt zu recht, daß sich „Befürworter staatlich geleiteter Eugenik und Rassenhygiene ... nicht auf Nietzsche berufen” können, daß aber seine Forderung nach „Züchtung statt Zähmung” objektiv menschenverachtenden Vorstellungen Vorschub geleistet hat (S. 117). Gleiches gilt für seine - zweifellos gefährliche und mißverständliche - Gegenüberstellung von „Herrenmoral” und „Sklavenmoral” (S. 126ff.). Hinreichend bekannt sein dürfte inzwischen auch, daß Nietzsche - abgesehen von gewiß unerfreulichen Alltags-Antijudaismen - nicht als Antisemit eingeordnet werden kann; er haßt (auch aus persönlichen Gründen) die Antisemiten (S. 129). Das abschließende Urteil des Verfassers, daß jene selbsternannten Herrenmenschen, die vor dem Nürnberger Tribunal „nichts Eigenständigeres zu ihrer Verteidigung vorzubringen wissen als die Berufung auf Befehlsgehorsam” (S. 130), wahrlich keine Adepten des Verfechters der Autonomie des schöpferischen Individuums sind, daß freilich Nietzsche wegen der Mißverständlichkeit mancher seiner Formulierungen eine „gewisse rhetorische Mitschuld am Zustandekommen der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Verbreitung” trifft (S. 132), erscheint wohlbegründet.
Den Kern des Buches bilden die Abschnitte IV („Nietzsches Strafrechtsphilosophie”, S. 133ff.) und V („Kriminologische Aspekte im Werk Nietzsches”, S. 327ff.). Da sie mehr den Strafrechtstheoretiker als den Rechtshistoriker ansprechen, soll hier nicht auf Einzelheiten eingegangen werden. Es seien nur einige Punkte herausgegriffen: Schuld, Strafe, Willensfreiheit, Vergeltung, Strafzwecke - Kernbegriffe des Strafrechts begegnen bei Nietzsche auf Schritt und Tritt und in vielfacher Beleuchtung im Spannungsfeld „zwischen Immoralismus und moralischem Rigorismus” (S. 134). Ausgangspunkt dieses Denkens ist der - im Anschluß an und in Absetzung zu Schopenhauers Willensbegriff entwickelte Zentralbegriff des „Willens zur Macht” (S. 154ff.), als dessen Derivate sich auch Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Willensfreiheit und Strafe erweisen; Nietzsches genetisches Denken führt auch hier dazu, Begriffe nicht als Entfaltung von Rationalität oder als geronnene Erfahrung, sondern als Überformungen, „Rationalisierungen” vernunftfreier bzw. machtbedingter Verhältnisse zu entlarven. Allerdings läßt Nietzsche sich auch auf dieser Betrachtungsebene nicht auf ein System festlegen; der Verfasser stellt die verschiedenen Sonden dar, die Nietzsche in die Problematik treibt. Anschaulich schildert und diskutiert er Nietzsches dynamischen Gerechtigkeitsbegriff (S. 230ff.) und dessen Auswirkungen auf seine Strafrechtsauffassungen. Es gelingt ihm, zahlreiche tiefe historische und soziologische Einsichten Nietzsches in ihrer Qualität als geniale Halbwahrheiten hervortreten zu lassen, die fast alle zum Nachdenken anregen, häufig jedoch nur eine Strecke weit tragen. In manchen Punkten lassen sie sich als Vorgriffe auf erst Jahrzehnte später breit diskutierte Ansätze (z. B. auf den Etikettierungsansatz, S. 285) lesen, teilweise können sie - z. B. im Bereich des Strafvollzuges - als realistisch-zeitgebundene Reformforderungen formuliert werden. Daß der Verfasser mitunter geneigt ist, die Nähe zu Vorstellungen Franz von Liszts mit Fortschrittlichkeit gleichzusetzen, entspricht zwar einer verbreiteten Bewertung; jedoch sollte nicht übersehen werden, daß die von ihm zu Recht hervorgehobene Mißverständlichkeit und Mißdeutbarkeit mancher Thesen Nietzsches auch bei von Liszt anzutreffen sind - eine genaue Lektüre des „Marburger Programms” erbringt dazu einen reichen Zitatenschatz; und ob die Maßregeln der Besserung und Sicherung mit ihrem unverkennbar bürokratischen Zugriff auf den Delinquenten tatsächlich, wie der Verfasser meint, auf der Linie der kriminalpolitischen Vorstellungen Nietzsches liegen (S. 303, 306), bedürfte noch weiterer Diskussion. Plausibel ist allerdings das Resümee des Verfassers (S. 321), daß es „eine unzulässige Reduktion wäre, Nietzsche ... ausschließlich als sozialpsychologisch ausgerichteten Propheten eines postmodernen, antirepressiven Maßnahmerechts zu begreifen oder ihn einzig als Urheber eines eliminatorisch-selektiven ,Strafrechts’ zu interpretieren”.
Der kriminologisch ausgerichtete Abschnitt stellt Nietzsche in das Umfeld der Lehren seiner Zeit (Lombroso, Ferri, Garofalo, Féré, Durkheim, Laccasagne) und stellt vor allem Nietzsches Kriminaltypologie (die freilich von ihm selber nicht etwa als eine systematische Typologie verstanden worden ist) vor (S. 344ff.). Hier besonders zeigt sich Nietzsches suggestive Topik (vom „heroischen” Verbrecher bis hin zum Verbrecher aus Schuldgefühl), die seine Stärke, aber auch seine Bedenklichkeit ausmacht. Und Nietzsches frühe Einsicht in den Interaktionsprozeß der strafenden Gesellschaft gipfelt in dem berühmten Satz „Die Strafe hat den Zweck, Den zu bessern, welcher straft, - das ist die letzte Zuflucht für die Vertheidiger der Strafe” (S. 377).
Im letzten Abschnitt (S. 382ff.) rundet der Verfasser seine Untersuchung mit einem Blick auf die Rezeption Nietzsches in der Rechtswissenschaft ab. Sein Resümee lautet, daß juristische Literatur trotz mancher Befassung mit Nietzsche (z. B. J. Kohler, J. Binder) doch nicht viel von ihm rezipiert habe, er hingegen im kriminalpsychologischen Schrifttum mehr Beachtung gefunden habe. Daß auch die Rechtsphilosophie noch manches von Nietzsche profitieren könnte, versucht der Verfasser mit einem Hinweis auf den hohen Stellenwert der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit in Nietzsches Lehre plausibel zu machen. (S. 392).
Das Buch besticht nicht nur durch seinen umfassenden Anspruch und seinen hohen Informationsgehalt, sondern ist angesichts seiner ausgewogenen, weder Licht noch Schatten seines Gegenstandes aussparender Interpretationen auch eine anregende und zum eigenen Weiterdenken anregende Lektüre für den Juristen und Rechtshistoriker.
Hagen/Westfalen Thomas V o r m b a u m
[1]Die einschlägigen Passagen aus der „Genealogie der Moral finden sich z. B. in: Thomas V o r m b a u m (Hrsg.), Strafrechtsdenker der Neuzeit (1990), S. 500ff.