Hirschinger, Frank, Zur Ausmerzung freigegeben.

* Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 16). Böhlau, Köln 2001. 277 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla. ZRG GA 119 (2002)

Schmidt-ReclaHirschinger20010917 Nr. 10496 ZRG 119 (2002) 72

 

 

Hirschinger, Frank, Zur Ausmerzung freigegeben. Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 16). Böhlau, Köln 2001. 277 S.

 

Es gibt Bücher, deren Erscheinen beim interessierten Leser den Reflex „Na endlich“ auslöst, selbst wenn sie ihm nicht angekündigt gewesen sind. Frank Hirschingers Werk „Zur Ausmerzung freigegeben: Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz 1933-1945“ – zugleich eine Hallenser historische Dissertation – ist solch ein Titel.

Der Band füllt eine Forschungslücke: die Darstellung der Geschichte des nationalsozialistischen Krankenmordprogramms[1] zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Bislang sind die einschlägigen Archive in dortigen Krankenanstalten und Gedenkstätten noch nicht umfassend ausgewertet worden. Das Werk leistet also Erschließungsarbeit. Auch wenn der Verfasser sich regional auf die ehemals sachsen-anhaltinische Landesheilanstalt Altscherbitz (gelegen zwischen Leipzig und Halle/Saale, heute Sächsisches Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie) beschränkt, gelingt ihm im Ergebnis ein das System der Krankenmorde erschöpfend schildernder Überblick, der nicht nur die von Adolf Hitler auf dubiose Weise angeordnete und wieder unterbundene institutionalisierte Mordaktion der Jahre 1940/41, sondern auch die zweite, oft als „wilde Euthanasie“ bezeichnete Phase der Krankenmorde erfasst und insofern über den bisherigen Forschungsstand hinausreicht. Das allein wäre schon der Würdigung wert, wenn damit nicht zugleich sowohl ein von psychiatrie- als auch strafrechtshistorischer Seite bestehendes Desiderat befriedigt würde.

Psychiatrisches Interesse an der Erörterung dieser Vorgänge ergibt sich aus der bisher in der klinischen Psychiatrie nicht eben ausgeprägten Neigung, sich mit der Verstrickung der eigenen Fachkollegen in eine sowohl das ärztliche Berufsethos als auch das Recht mit Füßen tretende Mordaktion auseinanderzusetzen. Hirschinger widmet einen beträchtlichen Teil der Einleitung dem erreichten Forschungsstand und der Quellenlage. Dabei wird deutlich, dass die Psychiatrie selbst sich an der Erforschung der Krankenmorde nur zögerlich und kaum umfassend beteiligt hat.[2] Wesentliche Diskussionsanstöße kamen von Historikern und Journalisten. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind mehrere auch regionalhistorisch angelegte Arbeiten, die den tatsächlichen Geschehnissen auch mit statistischen Methoden auf den Grund zu gehen versuchen erschienen.[3] In diese Reihe fügt sich nun als besonders gründlich ausgearbeiteter Mosaikstein die Arbeit Hirschingers ein.

Das strafrechtsgeschichtliche Interesse begründet sich weniger aus vielleicht erhofften neuen, spektakulären Enthüllungen über von der bundesdeutschen Justiz verschonte Tötungsärzte (obwohl Hirschinger hierzu auch Erhellendes – auch über das Ministerium für Staatssicherheit und die Justiz der ehemaligen DDR – bereithält), sondern vielmehr daraus, dass Licht auf bislang kaum thematisierte Rechtsentwicklungen fällt, in deren Verlauf ursprünglich im Täterinteresse liegende Schuldausschluss- bzw. Strafmilderungsgründe unter der Herrschaft einer menschenverachtenden Heilsideologie zu verhängnisvollen Todesfallen pervertiert sind.

Der Autor beginnt den zweiten Teil des Werkes mit den ideologischen Grundlagen und der Vorgeschichte der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ seit 1850 (S. 27-77). Eugenische Ideen sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Europa immer wieder formuliert worden. Hirschinger erwähnt Darwin, Gobineau, Chamberlain, Haeckel und – für die deutsche forensische Psychiatrie besonders wirkungsmächtig – Lombroso. Bis zum ersten Weltkrieg sei freilich die Forderung, geistig oder körperlich Kranke entweder an der Fortpflanzung zu hindern oder gar zu töten, kaum vertreten worden. Erst danach habe die eugenische Bewegung in Deutschland an Einfluss gewonnen und sich bald in zwei Flügel gespaltet (eine Münchener, anfangs pronordische, später antisemitische Sektion, zu der auch der Psychiater Ernst Rüdin, ein Schüler des deutschen Psychiatriepapstes Emil Kraepelin und Mitarbeiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie, gehörte[4], und eine Berliner antinordische Sektion, deren Vertreter nach 1933 aus ihren Ämtern entfernt worden seien).

Schnell wurde die Debatte hitzig. So befürwortete es z. B. der Reichsgesundheitsrat schon 1920, dass „körperlich und geistig für die Ehe und die Zeugung gesunder Kinder Untaugliche“ von der Eheschießung ferngehalten würden. Besonders stark wirkte die ebenfalls 1920 publizierte Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Freiburger Psychiaters Alfred Hoche und des Leipziger Strafjuristen Karl Binding, der mit der berühmt-berüchtigten Formulierung, er könne weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus ein Tötungsverbot gegenüber Menschenleben erkennen, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt hätten, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren habe (vgl. Nachweis bei Hirschinger, S. 37f.), einen ersten, aber entscheidenden juristischen Schritt auf der abschüssigen Bahn hin zum Mord an Zehntausenden tat. Damit war das Tabu des absoluten Tötungsverbots gebrochen, obwohl Binding insistierte, dass jede Brechung eines vorhandenen Lebenswillens auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen und eine Freigabe der Tötung Geistesschwacher, die sich glücklich fühlten, abzulehnen sei. Der Geschäftsführer des Reichsverbandes der Kriegspatenschaften Gerhard Hoffmann war dann der erste, der 1927 offen zum Krankenmord aufrief.

Im folgenden untersucht der Autor die Auswirkungen rassehygienischer Vorstellungen auf die NSDAP und stellt Hitlers rassehygienische Reflexionen in „Mein Kampf“ dar. Lässt sich darin mit Hirschingers Belegen nur das Bestreben nachweisen, Kranke und erblich Belastete für zeugungsunfähig zu erklären und „das dann auch durchzusetzen“, so heißt es bei dem späteren Reichsbauernführer Richard Walther Darré 1930, dass sich die Erbanlagen eines Volkes oder adligen Standes nur durch die „Ausmerze“ der Minderwertigen langsam aber sicher von allen Schlacken bereinigen und zu immer vollendeterer Einheitlichkeit und Vollkommenheit bringen ließen. Ebenfalls 1930 hieß es in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ unmissverständlich und uneingeschränkt: „Tod dem lebensunwerten Leben!“ (Hirschinger, S. 39-42).

Ein weiteres Kapitel ist den für Halle nachweisbaren eugenischen Maßnahmen[5] und deren Protagonisten bis 1939 gewidmet. Besonderes Gewicht hat dabei zwangsläufig der unmittelbare Vorläufer der Mordaktion – die Zwangssterilisation aufgrund des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses vom 1. 1. 1934. Hirschinger zeichnet resümierend den typischen Leidensweg eines 1921 geborenen Patienten, der vor dem Erbgesundheitsgericht begann, über die Zwangssterilisation in der Universitätsklinik Halle und die Einweisung in die Landesheilanstalt Altscherbitz führte und 1940 in der Gaskammer der Anstalt Bernburg endete (S. 64f.).

Für den (Straf-)Rechtshistoriker bedeutsam ist der Hinweis (S. 51) auf die für die 20er und 30er Jahre durchaus symptomatischen kriminalbiologischen Ansichten des Psychiaters und leitenden Arztes der Hallischen Strafvollzugsanstalt Ernst Siefert, der zwar die These Lombrosos vom delinquente nato abgelehnt, aber gemeint habe, der „Gewohnheitsverbrecher“ litte an einer krankhaften Minderwertigkeit, welche meistens angeboren sei. Diese These nämlich musste bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit beinahe zwangsläufig mindestens zur Dekulpierung, die seit 1934 gem. § 51 Abs. 2 RStGB möglich war, wenn nicht gar zur Exkulpierung nach § 51 Abs. 1 RStGB führen. Seit 1934 wurde § 51 RStGB von den Maßregeln zur Besserung und Sicherung nach §§ 42a-42n RStGB flankiert, was nach § 42b f. RStGB zur Unterbringung des de- oder exkulpierten Täters in einer Heil- und Pflegeanstalt führen konnte und in den meisten Fällen auch geführt hat. So wurden Straftäter, die vom psychiatrischen Sachverständigen für zurechnungsunfähig oder vermindert zurechnungsfähig erklärt (und der Strafe enthoben wurden), zu Insassen der psychiatrischen Heilanstalten und so zu potenziellen Opfern der Mordaktion 1940/41. Interessieren muss die Frage, ob diese theoretische Version sich verwirklicht hat.

Die abschließenden Erörterungen zur Organisation der Mordaktion skizzieren die 1939er Vorbereitungen in der Kanzlei des Führers, die sogenannte „Kindereuthanasie“ und die Planung des Krankenmordes durch Karl Brandt und Philipp Bouhler (S. 75-77). Mit dem berüchtigten, auf den 1. September 1939 rückdatierten Ermächtigungsschreiben Hitlers, in dem Brandt und Bouhler ermächtigt wurden, die „Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden“ könne, wird zum dritten Teil der Arbeit (S. 79-207), dem Mord selbst übergeleitet. Rechtliche oder sittliche Bedenken hatte keiner. Der Führer war Herr über Leben und Tod, auch wenn er von unheilbaren Krankheiten und von Gewährung des Gnadentodes sprach. Er ließ den „gesunden Volkskörper reinigen“. Sein Befehl auf privatem Briefpapier war die einzige, heute noch greifbare Grundlage für die anlaufende Mordaktion, in der keineswegs nur unheilbaren Kranken der „Gnadentod gewährt“ wurde.

Im dritten Teil des Buches schildert Hirschinger akribisch den genauen Ablauf der von der Berliner Tiergartenstraße 4 („T 4“) aus geleiteten Selektions-, Transport- und Vergasungsaktion. Die Landesheilanstalt Altscherbitz fungierte als Sammelstelle, in der die dort und in anderen, kleineren Anstalten bzw. in der Universitätsnervenklinik Halle mittels der berüchtigten Meldebögen von T 4-Gutachtern selektierten Patienten zu Sammeltransporten nach Brandenburg bzw. Bernburg erfasst, gesammelt, zwischenverpflegt und abtransportiert wurden. Die erstmalige Auswertung der Altscherbitzer Akten liefert genaue Opferzahlen[6], Namen und Lebensläufe sowohl der Opfer als auch der Täter und lässt keinen Zweifel daran, dass die Mitarbeiter der Anstalt zu jedem Zeitpunkt wussten, worum es sich bei den Selektierungen und Abtransporten handelte.[7] Wie Schlachtvieh wurden die arg- und wehrlosen Kranken in den grauen GEKRAT-Bussen abtransportiert, in Brandenburg und Bernburg mit Gas vergiftet und verbrannt.

Dabei zeigt sich, dass zu den ersten Altscherbitzer Opfern, die am 1. Juni und am 30. Juli 1940 nach Brandenburg deportiert und dort ermordet wurden, auch nach § 42 b RStGB in der Anstalt untergebrachte zurechnungsunfähige bzw. vermindert zurechnungsfähige Straftäter gehörten (Hirschinger, S. 91f.). Damit hatte sich die obige Hypothese realisiert. Folgende kurze Bemerkung sei gestattet.

Die von Ärzten aus dem Bestreben ärztlicher Hinwendung initiierte, von den meisten forensisch tätigen Psychiatern getragene und vielen Juristen unterstützte Forderung nach einem Strafmilderungsgrund für Straftäter, deren Fähigkeit, das Unerlaubte ihrer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, deutlich vermindert war,[8] hatte zuletzt 1925 und 1927 zu Reformentwürfen des Reichsjustizministeriums geführt. Mit dem 1934 in Kraft getretenen Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher[9] hatten sie in § 51 Abs. 2 RStGB Gestalt angenommen. Niemand hatte 1933/34 daran Anstoß genommen, dass die verminderte Zurechnungsfähigkeit von Maßregeln der Besserung und Sicherung flankiert wurde. Konnten Psychiater und Juristen 1933/34 ahnen, dass damit den derart in psychiatrischen Anstalten untergebrachten Tätern das Todesurteil gesprochen war? Wie soll das Saldo der Rechtsgeschichte über das Gewohnheitsverbrechergesetz lauten? Trägt schon § 51 Abs. 2 RStGB das Kainsmal staatlich verordneten Unrechts? Oder ist die Vorschrift noch richtiges Recht, vorbereitet im demokratischen Gesetzgebungsprozess der Weimarer Republik, das von den Nationalsozialisten nur in Kraft gesetzt wurde? Kann, sollte oder muss § 51 Abs. 2 RStGB isoliert von § 42 b RStGB und isoliert von Hitlers Ermächtigungsschreiben an Brandt und Bouhler und isoliert von den Meldebögen der T 4[10] betrachtet werden? Diese Frage wird überwiegend und zu Recht bejahend beantwortet. Nirgendwo sonst aber im modernen deutschen Strafrecht zeigt sich deutlicher als hier, wie verhängnisvoll die Zweigleisigkeit des Sanktionenprogramms wirken kann.

Eines jedenfalls verdeutlicht die Arbeit Hirschingers sehr klar: Psychiater und Juristen waren es nicht, die das Ende der Vergasungen herbeiführten, sondern die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens Graf von Galen am 3. August 1941, mit der er die Öffentlichkeit über die Morde informierte und die im inneren Zirkel der Macht (zwischen Hitler, Bormann und Goebbels) Verwirrung verursacht hatte, sowie die vereinzelten öffentlichen Proteste vor Anstalten und schließlich die Verunsicherung der Bevölkerung durch eigenartig gehäufte Todesanzeigen in Tageszeitungen[11] (Hirschinger, S. 131-134). Hitler hat wahrscheinlich am 24. August 1941 Brandt den mündlichen (!) Befehl erteilt, die Vergasungen „abzustoppen“.

Die weiteren Abschnitte des dritten Teils sind der zweiten Phase der Krankenmordaktion (der sogenannten „wilden Euthanasie“[12]), der Wiederaufnahme der Deportationen in Tötungsanstalten 1942-45, in denen die Kranken durch Hunger, Medikamente und vereinzelt auch körperliche Gewalt gezielt getötet worden seien und einzelnen Sonderaktionen (Ermordung behinderter Kinder, Aktion „14 f 13“, Selektionen in Strafanstalten) auch in Konzentrationslagern und dem Schicksal jüdischer und ausländischer Patienten gewidmet. Auch hierzu liefert die Arbeit erdrückendes archivarisches Material. Insbesondere das Entschuldigungsargument des kriegsbedingten Hungers verliert danach jede Überzeugungskraft. Die von Hirschinger für Altscherbitz ermittelte Gesamtopferzahl beläuft sich auf 5.103 Personen (S. 219).

Der vierte Teil behandelt die Entnazifizierung und Strafverfolgung der an den Deportationen und Vergasungen im Untersuchungsgebiet beteiligten Täter und Mitwisser. Es ist der kürzeste und auch derjenige Teil der Arbeit, bei dem es sich sofort bemerkbar macht, wenn der Autor die Verlässlichkeit der aufgespürten Archivmaterialien gegen die vorgefundenen Wertungen der Sekundärliteratur eintauscht. In einem ersten Schritt wird festgestellt, dass die im Gesundheitswesen der Stadt Halle beschäftigten Täter und Mitwisser der Krankenmorde die Untersuchungen der ersten Nachkriegsjahre weitgehend unbeschadet überstanden hätten und ihre Karrieren nahtlos oder mit geringer Verzögerung hätten fortsetzen können (S. 216). An einer Aufklärung der Krankenmorde, an denen Altscherbitzer Ärzte beteiligt waren, habe die Besatzungsmacht wohl kein gesteigertes Interesse gehabt (S. 222). Jedoch sei der Anstaltsdirektor Harald Krüger 1945 zu einem Polizeiverhör vorgeladen worden und sei seitdem verschollen. Die Staatsanwaltschaften in Bernburg und Dessau hätten nur nachlässig ermittelt. Zwar seien die Namen der leitenden Ärzte in einer Liste beschuldigter Ärzte als Mitwisser verzeichnet gewesen – gleichwohl sei keiner der Betroffenen von einem Gericht der sowjetischen Besatzungszone oder der DDR abgeurteilt worden (S. 224).

Einen besonderen Abschnitt (S. 225-236) widmet der Autor der Verfolgung derjenigen Ärzte, die in den Vergasungsanstalten Brandenburg und Bernburg als Tötungsärzte gewirkt hatten. Von vierzehn dieser Ärzte lebten bei Kriegsende noch neun. Einer von ihnen, Otto Hebold, blieb nach 1945 in SBZ und DDR als Psychiater im Beruf, passte sich den neuen politischen Verhältnissen an und wurde erst 1963 vom MfS der ehemaligen DDR bearbeitet, nachdem sein Name in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen Werner Heyde aufgetaucht war. Politisches Kalkül (Hirschinger, S. 227) bewog Stasi-Chef Erich Mielke, der Festnahme Hebolds zuzustimmen. Das Bezirksgericht Cottbus verurteilte Hebold 1965 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft, die er bis zu seinem Tode 1975 in Bautzen absaß. Er war der einzige Brandenburg/Bernburger Tötungsarzt, der von einem deutschen Gericht zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Diese Reaktion von MfS und DDR-Justiz auf Hebolds Verstrickung in die Krankenmorde erschließt der Autor dankenswerter Weise aus Unterlagen des MfS.

Die drei nach 1945 in der Bundesrepublik wohnenden Brandenburg/Bernburger Tötungsärzte Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke und Kurt Borm wurden 1961/62 erstmals verhaftet. Die Verfahren und die Verbüßung der ausgeworfenen, in der Bundesrepublik vielfach als zu niedrig kritisierten Freiheitsstrafen zogen sich bis 1990 hin. Die betreffenden Urteile des Landgerichts Frankfurt am Main und des Bundesgerichtshofs sind mit den Veröffentlichungen von Ernst Klee zur Euthanasie greifbar. Frei von der Wertung seiner Vorlage ist Hirschinger hier sicher nicht. Eine eigenständige Auswertung der veröffentlichten Urteile nimmt er nicht vor. Das allein wird man ihm jedoch noch nicht vorwerfen können: der Wert der Arbeit, der ohnehin auf anderem Gebiet liegt, wird dadurch nicht geschmälert.

Tabellarische Lebensläufe ausgewählter Tötungsärzte und umfassende Register, mit denen das Buch leicht zu erschließen ist, beenden das gründlich recherchierte und informationsreiche Werk, das sowohl bei der weiteren Erforschung der Psychiatriegeschichte als auch bei weiteren Überlegungen zu konkreten Fragen der Strafrechtsgeschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches wertvolle Anhaltspunkte bietet. Der Böhlau-Verlag hat die Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts zudem ansprechend ausgestattet.

 

Leipzig                                                                                                          Adrian Schmidt-Recla

[1] Unklar ist, weshalb noch immer am eingeführten, euphemistischen Begriff der „Euthanasie“ festgehalten wird. Ein „Gnadentod“ setzt doch voraus, dass der zu Tötende leidet – und zwar nach außen erkennbar subjektiv leidet. Gerade dieses subjektive Leiden an einer bestimmten Krankheit dürfte vielen, wenn nicht den meisten ermordeten geistig auffälligen oder behinderten Menschen gefehlt haben. 1939 ging es jedoch nicht darum, Leidende zu erlösen, sondern aus dem „gesunden Volkskörper“ “entartete und minderwertige Elemente“ „auszumerzen“. Es trifft den Kern der Sache genauer, wenn von Krankenmord gesprochen wird.

[2] Nachzutragen wären etwa noch die Aufsätze von Joachim Ernst Meyer, in: Nervenarzt 1988, S. 85ff.; Friedemann Pfäfflin, in: Recht und Psychiatrie 1987, S. 134ff., Uwe Henrik Peters, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 1996, S. 327ff.

[3] Vgl. etwa die Monographien von Dorothee Roer/Dieter Henkel, Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, Frankfurt am Main 1995; Sonja Schröter, Psychiatrie in Waldheim/Sachsen 1716-1946. Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt/M. 1994; Dietmar Schulze, Die „Euthanasie“-Anstalt Bernburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, phil. Diss., Halle/S. 1998.

[4]              Vgl. zu Rüdin Uwe Henrik Peters, in: Fortschr. Neurol. Psychiat. 1996, S. 327ff.

[5] Dazu gehörten der Aufbau einer Kartothek zur Erfassung von „Schwachsinnsfamilien“ und einer Eheberatungsstelle, die ausschließlich erbbiologisch-eugenische Ziele verfolgte und das breite Angebot rassehygienischer Lehrveranstaltungen an der Universität Halle.

[6] Von 1.873 in den Jahren 1940/41 aus Altscherbitz deportierten Patienten wurden 1.864 in Brandenburg bzw. Bernburg ermordet.

[7] Lediglich zwei Angestellte – zwei Pflegerinnen, kein einziger Arzt – der Altscherbitzer Anstalt kündigten nach Hirschinger 1940/41 den Dienst.

[8] Vgl. dazu Franz Lubbers, Die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit von Carpzow bis zur Gegenwart, Breslau 1938; Erardo C. Rautenberg, Verminderte Schuldfähigkeit. Ein besonderer, fakultativer Strafmilderungsgrund?, Heidelberg 1984; Adrian Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldfähigkeit, Leipzig 2000, S. 82-87, 138f., 146, 158-160.

[9] Vgl. dazu die historische Dissertation von Christian Müller, Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik, Baden-Baden 1997.

[10] In denen aufgrund eines Erlasses des Reichsinnenministeriums eben auch nach § 42b RStGB untergebrachte kriminelle Geisteskranke erfasst und an die T 4 gemeldet werden mussten.

[11] Die Arbeit beschreibt auch die konspirative und hochgradig auf Unrechtsbewusstsein hinweisende Tätigkeit der sogenannten „Absteckabteilungen“ in den Vergasungsanstalten, die dafür sorgen sollten, dass die Todesbenachrichtigungen bei den Angehörigen möglichst zeitlich und regional gestreut eintrafen (S. 100-105).

[12] Hirschinger kann nach seinen Erhebungen zumindest nicht ausschließen, dass es sich tatsächlich um „wilde“ Euthanasie, also nicht von der T 4-Zentrale angeordnete Programme, gehandelt habe (S. 152). Vgl. aber dort auch Anm. 287.